Der Western existiert schon lange nicht mehr. Spätestens seit den sechziger Jahren dreht jeder, der etwas auf sich hält, einen Antiwestern. Mittlerweile gibt es so viele davon, ja vermutlich mehr als klassische Western, dass das Genre umbenannt werden sollte: Der Antiwestern wird zum Western und der Western zum Ruhm-für-den-Revolverhelden (beziehungsweise Siedler), hurra! Doch muss man sagen, dass leider auch nicht alle Western (vormals Antiwestern) gelungen sind. Manche mühen sich so sehr um Sozialkritik und Kulturpessimismus, dass sie der „Lindenstraße“ und überambitionierten „Tatorten“ Konkurrenz machen könnten. Während sich die alten ruhmreichen Heroen noch den Weg zum (fragwürdigen) Glück freischossen und die coolen gebrochenen Helden sexy und wild waren, griffen irgendwann biedere Familienväter zum Revolver, aus finanzieller Not, aus Angst, das Gesicht zu verlieren, oder aus irgendeinem anderen gähnlangweiligen Grund. Diesen Daddys gelang naturgemäß keine echte Befreiung, sondern maximal die Wiederherstellung des Status quo. Mit ihnen wurde das zum Teil als Kritik am unkritischen Revolverheldenfilm entwickelte Genre plötzlich selbst wieder affirmativ – zumindest in Teilen.
Nun ist auch der Franzose Jacques Audiard unter die Westernregisseure gegangen. Nach seinem vorherigen Film, dem brandaktuellen und gegen Ende überdramatisierten „Dheepan“, wirkt „The Sisters Brothers“ gleichermaßen altmodisch wie amüsant. Als Vorlage diente Patrick DeWitts Roman von 2011 über ein seltsames Brüderpaar. Dass die beiden mit Nachnamen Sisters heißen und dadurch analog zu den Warner Brothers, den Everly Brothers, den Doobie Brothers oder, um beim Western zu bleiben, den Dalton Brothers (die gab’s wirklich, nicht nur bei „Lucky Luke“) eben als Sisters Brothers, als Schwestern-Brüder, durchgehen, ist ein kluger Schachzug: Eli (im Film: John C. Reilly) und Charlie (Joaquin Phoenix) erhalten so eine durchgegenderte Identität und ein aufklärerisches Moment, ohne sich dessen gewahr zu sein. Im Film kommt dieser Zwang zur Zivilisation noch viel transzendenter daher als im Buch. Bei DeWitt sieht der Leser vieles durch die Augen von Eli. Bei Audiard sieht der Betrachter zunächst nur zwei Halunken, zwei Verbrecher auf dem Weg zu ihrem nächsten dreckigen Job. Alles, was sie auf andere Pfade bringt, wirkt geradezu überirdisch.
DeWitts Roman ist relativ kurz, Audiards Film relativ lang. Das passt zum Genre. Sergio Leone, der den Italowestern perfektionierte, machte es selten unter 120 Minuten und trieb es schließlich bis über die Vier-Stunden-Grenze. Audiard hat zwar viele der kleinen Episoden aus DeWitts Buch herausgekürzt, bringt es aber auf 121 Minuten. Was an Inhalten fehlt, wird durch Optik ersetzt. Das klingt erst mal furchtbar. Schließlich existiert kaum ein vernichtenderes Urteil über einen Film als das Attribut „schöne Bilder“: Wenn es nichts Besseres darüber zu berichten gibt, muss das Drehbuch direkt aus der Hölle kommen oder schlicht nicht existieren. Doch bei den „Sisters Brothers“ stehen die Bilder nicht einfach nur dekorativ herum wie „Playboy“-Bunnys im Herrenclub. Sie entspannen den Betrachter, oder sie sprechen. Wunderschön und lustig etwa, wenn die Sisters Brothers gemeinsam losreiten und ihre Gangsterpferde dabei fast schon ein Pas de deux, ein Ballett auf acht Beinen, zelebrieren. So etwas Mädchenhaftes, Schwules, Verweichlichtes (an diese Stelle darf die Leser*in gerne auch ein anderes im Patriarchat mit Abscheu konnotiertes Wort setzen) hätte es weder im Siedler-hurra!-Film noch in patriarchalen Spätwestern gegeben. Daneben setzt Audiard kleine Horrorsequenzen, augenzermürbende Hell-Dunkel-Kontraste (siehe Sergio Leone), sonnendurchflutete Idyllen und Weiten, Weiten, Weiten. Dass es manchmal etwas länger dauert, bis die Brüder Eli und Charlie irgendetwas erleben, hat sich der Franzose vermutlich beim stilbildenden Italiener abgeguckt. Auch bei „Spiel mir das Lied vom Tod“ braucht es unendlich viel Zeit, bis der Zuschauer begreift und die mal verstörenden, mal hypnotischen Bilder einen Sinn ergeben.
Die Kritik hat schon die Romanvorlage als Satire, als schwarze Komödie beschrieben. Das ist nicht falsch. Doch überschreitet „The Sisters Brothers“ gar nicht in erster Linie die Grenzen der traditionellen Schicklichkeit und Moral. Gemordet wird weit weniger als bei Tarantino, über Sakrosanktes wird nur am Rande gespottet, und die scheinbar absurden Dialoge der Gebrüder Schwestern haben durchaus einen tieferen Sinn. Sie stehen nicht nur als Pose im Raum. Hinter dem spärlichen dunklen Humor, der im Film gegen Ende einen entzückenden Höhepunkt erlebt, verbirgt sich eine Geschichte des Menschwerdens: Rein erzählerisch verfolgen die Brothers im Auftrag eines obligaten Oberganoven einen Goldschürfer (Riz Ahmed) und den Scout Morris (Jake Gyllenhaal). Auf einer zweiten Ebene verfolgen sie, Eli voran, Charlie taumelnd hinterher, unbewusst eine Idee, die sich verschieden lesen lässt: im transzendenten Sinn als Beginn einer echten Zivilisation, ganz konkret als frühsozialistische Kommune und ganz politisch als Kommunismus.
„The Sisters Brothers“ ist kein spannender Western. Geschossen wird beiläufig, geritten wird oft lustig. Und für klassische Dramatik mangelt es bewusst an der Heldenmusik. Mit ein bisschen Geduld allerdings kann der Zuschauer hinter zwei Gangstervisagen ganz zarte Seelchen entdecken. Apropos „zarte Seelchen“: Frauen mischen nur zweimal kurz mit. Niemals jedoch als zugerichtete Ischen, mitnichten als vom Bürgertum geschundene Kreaturen. Gut so. Coole Weiber gab es übrigens schon bei Howard Hawks: Im Klassiker „Rio Bravo“ bewacht eine Zockerin mit Flinte den Obermacker John Wayne.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 03/2019