Blast

A Portrait of a Serial Killer
von Sven Jachmann

„Wenn Sie verstehen wollen, dann müssen Sie durchmachen, was ich durchgemacht habe.“ Mit diesen Worten diktiert der inhaftierte Polza Mancini den Takt des Gesprächs bei seinem Verhör. Vier Bände lang (erschienen bei Reprodukt), auf über 800 Comicseiten führt er das ihn befragende Beamtenduo durch sein persönliches Melancholia. Was als Aussteigergeschichte beginnt, endet als journey into the mind of a serial killer. Was Polza überaus eloquent als seine transzendentale Fluchtbewegung beschreibt, ist für die Leser/innen ein fiebriges Psychogramm. Als sich der adipöse Autor von Gastronomiebüchern dazu entschließt, ohne Erklärung seine Frau zu verlassen, den zivilisatorischen Aderlass zu wagen und mit naturmystischer Begeisterung in den Wäldern zu leben, stand Töten nicht auf seiner Agenda. Zumindest glaubt er sich das, und wir glauben ihm. Ein zuverlässiger Erzähler ist er allerdings ganz und gar nicht. Aber die Polizisten sind froh über seinen ausschweifenden Mitteilungsdrang, wenigstens sechs Morde gilt es aufzuklären.

Polzas Erscheinung ist seltsam erhaben und grotesk zugleich: Auf dem äußerst massigen Körper thront ein runder, halsloser Glatzkopf mit langer, schmaler Nase und müden Augen, der Mund ist meist zu einem Lächeln verzogen. Ein Panzer, der sich gegen die jahrzehntelang erlittenen Qualen gefeit glaubt. Ein obsessiver Vagabund, der sich während des Winters in fremde Häuser einnistet, wohlwissend, dass er hier nur wenige Tage bleiben kann und doch wie ein Süchtiger das Leben der anderen anhand ihres Besitzes erforscht, Devotionalien aus einer anderen Welt. Ihnen wie auch der Natur begegnet Polza als teilnehmender Beobachter mit nietzscheanischem Ego: „Der Naturzustand kennt weder Moral noch Gerechtigkeit, freien Willen, Vernunft, Werte oder Verpflichtungen… Welch Erleichterung, nur Zuschauer solch wilden Wucherns zu sein. Der schönste Sommer meines Lebens, ganz gewiss.“

Sucht ist auch der Motor, der Polzas schwerfälligen Körper dauernd in Bewegung hält: Alkohol, Tabletten, Schokoriegel, harte Drogen genauso wie fremde Lebenswelten, Selbstverstümmelung und immer wieder der „Blast“, ein epileptischer, von Visionen begleiteter Zusammenbruch, den er seit seinem ersten Auftreten beständig herbeisehnt – alles ist Material, um Polzas Exzesse zu befeuern, das Vergessen voranzutreiben, ihn selbst seines Lebens zu versichern. So sitzt er gutmütig da, räsoniert, doziert über seine Biografie, als Kind verspottet, als Erwachsener malträtiert, und nur die gelegentlichen Anflüge entrückter Selbstgefälligkeit erinnern daran, wie viel Schmerzen und Qualen seinem freiwilligen Geständnis vorausgingen.

„Deine Mutter hat’s mit einem Schwein getrieben! Dein Vater war ein Schwein! Fette Sau!“, ruft ihm ein Junge zu und stiehlt seine Kleidung, als Polza ein Bad in einem Kanal genießt. Kein Naturzustand ohne Gesellschaft, die ihm Grenzen setzt, lautet die grausame Lektion, die Polza ein ums andere Mal in die Hände neuer Peiniger treibt: Der „Heilige Jacky“, ein obdachloser Einsiedler, Büchernarr, Drogendealer, Psychopath und Mörder, schlägt Polza bei ihrer ersten Begegnung mit einer Eisenstange krankenhausreif, pflegt ihn anschließend aber wieder gesund. Zwei herumstreunenden Landstreichern gewährt Polza, wenn auch skeptisch, einen Platz am Lagerfeuer. Später werden sie ihn auf außerordentlich sadistische Weise ausrauben, foltern und vergewaltigen.

Um sich die Erniedrigungen dienstbar zu machen, damit das Leiden, ja der ganze Körper, dem es eingeschrieben ist, verschwindet, braucht Polza den Blast. Mit ihm verwandelt sich der filigrane schwarzweißgraue Tuschestil in bunte Kinderzeichnungen, die stets die bizarre Erscheinung eines Moai, einer Steinfigur der Osterinsel, beendet. „Hier heilen meine Narben. Mein Körper ist keine Strafe mehr. Hier bin ich ein Werk. Warum also fortgehen?“ Polza sucht die vollkommene Selbstauflösung des Ichs, nur ohne den Tod. Schließlich führt seine Odyssee zu Roland Oudinot, einem verurteilten, auf Psychopharmaka gesetzten Triebtäter und Vergewaltiger, und dessen Tochter, die ihren Vater vor dem Rückfall zu bewahren versucht. Gemeinsam vegetiert das traumatisierte Trio in Rolands Landhaus, bis auch hier die Gewalt Einzug hält.

Zeichner und Autor Manu Larcenet hat sich von der durchaus niedlichen Semi-Funny-Optik seiner früheren Arbeiten vollends verabschiedet. Die Bilder schwitzen und bluten. Der französische Comiczeichner hat die Panels zunächst einzeln angefertigt und sie erst am Rechner zu ganzen Seiten arrangiert. Das bildet die Grundlage der assoziativen Bilderflut, die auf Polzas Blast als Höhepunkt zusteuert. Es gibt viele Vorankündigungen, doch spätestens im erzählerisch genial eingeflochtenen langen Epilog, in dem die Polizisten für einen Dokumentarfilm über den Fall interviewt werden, offenbart sich, dass der Blast Polzas abgründige Täterseite verdrängen helfen soll. Das ist der Link zum von Panikattacken geplagten Fotografen aus Larcenets anderem Meisterwerk „Der alltägliche Kampf“: Die Suche nach einem Zuhause, die Angst vor der Brutalität einer sozial katastrophalen Welt treibt beide in den psychischen Ausnahmezustand. Der eine muss lernen, seinen Alltag wieder auf Spur zu bringen, der andere kann in kein normales Leben zurückkehren, weil er es nie führen durfte, aber seine Lebenszeit darauf verwendete, dies zu vergessen.

Den zweiten Blast-Schub beschreibt Polza so: „Ich war perfekt. Auch ich ein sanfter Riese. Befreit von meinem fetten Leib, ohne die Last der Erinnerung, ohne Geschichte. Es war einzigartig.“ So verstörend zärtlich wurde die grenzenlose Empathie mit einem Mörder auch in Serienkillererzählungen jenseits der Comics selten ausgelotet und mit der Forschung nach gesellschaftlichen Ursachen verbunden.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 9/2015

Manu Larcenet (Autor und Zeichner): „Blast Bd. 1-4“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2013-2015. Je 208 Seiten. Je 29 Euro

Foto: © Reprodukt