Ein Roadmovie geht, läuft, fährt ja meistens vorwärts. Manchmal ist der Weg das Ziel. Bei diesem Roadmovie im rührseligen Comedymodus wies das Ziel den Weg zu seinem Produktionsschema: „Green Book“ lief in den USA als Weihnachtsfilm, also endet die Reise mit einer Umarmung beim Christmasdinner, große Zelebrierung von Gemeinsamkeit.
Eine Art Reverse Engineering auf mehreren Ebenen ergibt da den Film passend zum von Anfang an gesetzten Resultat: Kein Auge soll trocken bleiben. Für Oscarpreisträger Mahershala Ali gibt’s in der Rolle des snobistisch-kapriziösen Jazz-trifft-Klassik-Klaviervirtuosen Don Shirley eine Oscarnominierungsclip-Pathosmonologszene, in der er erregt sagt, dass er nirgendwo hin passt – weder zu den zumeist armen Schwarzen, denen er rassifizierend zugeordnet wird, noch zu den zumeist reichen Weißen, die sein Spiel goutieren, aber ihn sonst abweisen und ghettoisieren. (Er sagt das anders – sonst wär er ja auch nicht für den Oscar nominiert; übrigens nur für den Nebenrollen-Oscar, und das ist, als wäre bei „The Odd Couple – Ein seltsames Paar“ nur Walter Matthau für die Hauptrolle nominiert und Jack Lemmon für die Nebenrolle; odd, indeed.)
Vom Resultat rückwärts zum Film-High Concept heißt auch: Zur Erfüllung der PR-Sonntagsredenfloskel vom „common ground“ – bemüht etwa in den Golden Globe-Dankesworten von Regisseur/Co-Autor Peter Farrelly – gibt’s einen Plot, based on a true story, in dem über Unterschiede hinweg „Eine besondere Freundschaft“ entsteht. So lautet der Titelzusatz von „Green Book“ für deutschsprachige Publika, denen das Verständnis von Wortungetümen wie „Daaas grü-ne Bu…ch“ nicht zuzumuten ist. Gibt es eigentlich auch Filme über ganz normale Freundschaften? So was wär ja dann mal ein besonderer Film. „Green Book“ ist keiner und auch stolz darauf.
Jedenfalls: besonders. Zwei Männer werden Buddys. Auf der Reise: zwischen Rücksitz und Fahrersitz auf Südstaatentournee. Sie lernen voneinander, ein bissl mehr so wie der jeweils andere zu sein: Der blasierte Jamaican-American Pianist, der ansonsten in einem Luxusapartment über der Carnegie Hall wohnt, lernt, dass er bodenständiger sein soll; sein prolliger italoamerikanischer Chauffeur Tony Lip (Viggo Mortensen), der ansonsten im Copacabana als Rausschmeißer anpackt, lernt, dass er weniger bodenständig sein soll.
Der Film spielt 1962. Die Leute rauchen noch viel und essen ungesund, besonders Tony. (Viggo mit Wampe, das ist eh eine Zeit lang lustig, und dann wird es noch weiter gemolken.) Manche Leute sind auch rassistisch gegenüber Schwarzen, besonders die Unguten unter den Weißen. Tony ist das anfangs auch, aber das löst sich rasch ins Einander-Necken mit gegenpoligen Kulturvorlieben auf. Und in mehr oder minder nichts lösen sich auf: Homophobie, Klassenfragen, das Civil Rights Movement und die Logistik des titelgebenden Buchs (ein „grüüü-nes B-u-c-h“, nämlich ein Reiseführer als Liste von Hotels im rassistischen Süden der USA, die Schwarze beherbergen). Tony wirft (schmeißt) anfangs noch Trinkgläser, die African American Klempner (Installateure) in seiner Wohnung eben noch benutzt haben, in den Mülleimer (Mistkübel); das dient aber nur zur Markierung einer komischen Fallhöhe bei der Entstehung der „ungewöhnlichen Freundschaft“, denn das umfassend evasive Drehbuch eliminiert Tonys Rassismus zugunsten einer liebenswerten Tölpel-Naivität mit dennoch treffsicherem Herzenswissen, erledigt die Stigmatisierung von schwulem Sex in der Working Class und auf dem Lande mit einer halblustigen Bemerkung, reduziert Klassenhabitus-Differenzen auf Plaudereien pro & contra Kentucky Fried Chicken und lässt in einer Krisensituation von rassistischer Polizeigewalt just Justizminister Bobby Kennedy als Deus Ex Machina am Telefon vorkommen (als einzigen Verweis darauf, dass Rassismus ein politisches Problem ist und politisch angegangen wurde und wird. Kennedy war übrigens weiß.). Das mit dem „Buch“ (es ist irgendwie green, komisches Wort, vermutlich Amerikanisch) reduziert sich auf zwei Anekdoten-Szenchen, die das In-getrennten-Motels-Schlafen des odd couple kurz thematisieren. Das Buch wäre ein spannender Plot-Fokus oder -Knoten gewesen (und auch „medienarchäologisch“ interessant), aber das übergeordnete Buch, das Script des Films, das vom Reißbrett kommt und am Schnürl abläuft, verhindert auch das. „Green Book“ wird wohl einige Oscars einheimsen; den Musical/Comedy-Golden Globe hat er schon.
Wie gesagt, der Film spielt 1962. Wäre er von 1962, könnte man sagen, na ja, Sidney Poitier und Tony Curtis ein bisserl verspätet und auf lustig (Flucht durch den Süden, aneinandergekettet durch das Auto und den Tourplan, besondere Freundschaft, seltsames Paar…). So aber ist „Green Book“ für alle Beteiligten ein Rückschritt. Für seinen Regisseur Peter Farrelly, der – mit seinem Bruder Bobby – von „Dumb and Dumber“ und „Kingpin“ bis „Stuck On You“ und „Hall Pass“ echt besondere Filme gemacht hat, krass-luzide Outsider-Satiren, einige davon Roadmovies, über Habitus und Physis soziokultureller Spaltung und intensiv erlebter Ungleichheit in den USA. Für seine Darsteller, die nach einigen tollen und vertrackten Rollen (adoptivväterlicher Dealer oder überväterlicher Psychoanalysegründer, um nur „Moonlight“ und „Dangerous Method“ zu nennen) dieses Schema F auf einer Backe – und zwei Sitzen – absitzen und in Sequenzen, die Gemeinsamkeit melken, viel zustimmend lachen und gerührt nicken. Und für uns, weil wir dabei mittun.
Wobei auch dieses Wir ein odd couple, eine besondere Freunschaft in Reverse Engineering-vorgeplanter Filmkommunion und Abeitsteilung ist. In Zeiten der Spaltung der Bevölkerung, der Geschmäcker und der Märkte soll „Green Book“ allen ihr Lachen und Nicken ermöglichen. Rechte und Reaktionäre können – auch wenn sie mit Rassismus weniger Probleme haben als mit dessen nostalgisch-sanfter Verspottung – das alles gut finden, weil sie darin letztlich ein Idyll sehen. Alle anderen können das gut finden, weil es letztlich eines ist. Alle Positionen können einander umhalsen und im Rühren regredieren. The Big Reverse Engine.
In der Schlussszene dieses Roadmovie – um noch einmal auf das Ziel des Weges und den Beginn dieser Rezi zurückzukommen – sagt Tonys Ehefrau (Linda Cardellini) zu dem Pianisten, dass sie eh die ganze Zeit über wusste, dass die plötzlich gar so rührend formulierten Briefe, die ihr Ehemann von unterwegs an sie nach Hause geschrieben hat, nicht von ihm selbst verfasst, sondern von einem Virtuosen kalkuliert und diktiert waren. Sie weiß, dass die Rührung auf den Effekt hin gescriptet ist, hat aber ihre Gerührtheit so engagiert vorgetäuscht, dass sie dann doch echt gerührt war. Und Sie wissen es jetzt auch.