Für seine faszinierende Dokumentation „Playland USA“ machte sich der deutsche Regisseur Benjamin Schindler als eine Art moderner Mythenforscher auf die Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika zu den Schauplätzen der großen Erzählungen, die das Land bewegen und auf die sich die Nation beruft. Er versucht die klangvolle Rhetorik der „amerikanischen Auserwähltheit“ zu ergründet und präsentiert dabei ein Panoptikum einer Gemeinschaft, die sich ihres selbst bescheinigten „Exceptionalism“ durch einen Bilderkosmos, in dem sie selbst gefangen zu sein scheint, beständig aufs Neue selbst versichern muss.
Der Mythos ist eine Erzählung ohne Erzähler, dies bemerkte schon Roland Barthes, der französische Kultursemiologe, der die „Mythen des Alltags“ der Konsumgesellschaft erforschte. Es ist also ein genialer Zug des Regisseurs, dass er bei seiner Reise, die gleichzeitig eine Reise durch die imaginierte und gefilmte Geschichte der USA ist, ohne „Reiseleiter“ auskommt. Es gibt beispielsweise keine Stimme aus dem Off, die eine Richtung vorgibt. Benjamin Schindler vertraut ganz auf die Montage von formalen Assoziationen und symbolgeladenen Bildern sowie ein komplexes Sounddesign. Seine Reise führt durch verschiedene Zeiten, durch topographische Orte und Scheinorte – durch mit Geschichte(n) aufgeladene Orte, deren Realitäten aus popkulturellen Bildern zu bestehen scheinen. Beim Zuschauer werden so Konnotationen hervorgerufen, die ihm auf intelligente Art und Weise vor Augen führen, wie wirksam, zeitlos und suggestiv die Mythen sind, die den „American Dream“ ausmachen, und dass deren Reichweite und Wirkung nicht nur auf die USA beschränkt ist.
Kann man denn von Protagonisten sprechen, so sind dies „Living Historians“, die immer wieder gezeigt werden. Mittels Reenactments, durch das Nachstellen von Ereignissen aus der Vergangenheit, wollen sie die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufheben. Sie streben nach Authentizität und thematisieren gleichzeitig die gespenstische Kraft kultureller Bilder und Szenen, die sich uns unauslöschlich einprägen und weiterleben. Aber diese Bilder stammen nicht aus den Geschichtsbüchern, sie stammen aus dem Kanon des Kinos. Sie stammen aus den Träumen und Visionen, die der klassische Hollywoodfilm hervorgebracht hat und werden als Wirklichkeit erlebt.
Ein Vertreter der indigenen Bevölkerung, den der Regisseur in einem Reservat besucht, erinnert daran, dass die Ecken und Kanten der Narrative dieser großen Erzählungen abgeschliffen wurden. Das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten entspringt einem heroischen Geschichtsbild, in dem die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit nur am Rand auftauchen. Aber ungeachtet ihrer Wahrheit, könnten die weisen Worte des charismatischen Native American nicht auch aus einem Film stammen? Benjamin Schindler stellt essentielle Fragen: Was ist Sehen? Wie sehen wir die Welt? Und: Was ist unsichtbar, für uns, für andere? Und wie kann das, was unsichtbar ist, entziffert und somit wieder erinnerbar gemacht werden?
Er lässt in seinem gewagten aber gelungenen Filmexperiment verschiedene Realitäten aufeinandertreffen. Indem er die Filme und deren Narrative evoziert, die ihre prägende Kraft in der US-amerikanischen Gesellschaft entfaltet haben, Genre- und Filmzitate vom Historien- bis zum Katastrophenfilm einfach nur anklingen lässt, ohne explizit zu werden – die aber dennoch verstanden werden – schafft er es, in der Vorstellung des Zuschauers die Trennlinien zwischen Fiktion und Dokumentation aufzulösen; das Versteckte in dem Vexierbild, das sein Film eigentlich bildet, wird sichtbar. Unterschiedliche Ebenen – sowohl diegetisch als auch nicht-diegetisch – werden miteinander verknüpft, der Zuschauer wird in einen sinnlich-poetischen Erfahrungsraum, in eine „twilight zone“ geführt, in der er schließlich selbst in einen onirischen, traumaffinen Zustand eintritt. Dies stellt noch einmal heraus, dass das Medium Film an sich schon ein großer Simulationsapparat ist. Film- und Traumerleben haben eine große Affinität. Das fängt schon damit an, dass der Zuschauer in der Dunkelheit des Kinosaals wie im Schlaf in fiktive, imaginäre Welten eintritt, wo er etwas wahrnimmt, was man als Realitätseindruck bezeichnen könnte.
Das Erlebnis des Zuschauers beim Betrachten von „Playland USA“ ist also komplex und mehrdimensional. Es findet eine Selbstbetrachtung des Mediums Film statt, bei dem die Grenzverwischung zwischen dem Realitätsstatus von Film und Wirklichkeit, von Traum- und Filmerleben noch einmal reflektiert wird. Zudem hinterfragt „Playland USA“ geschickt die Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation von Geschichte. Aber mehr noch: Benjamin Schindler zieht geschickt Verbindungslinien von der Vergangenheit in die Gegenwart. Filme haben schon immer historische Stoffe aufgegriffen, und die Frage nach ihrer Authentizität stand auch schon immer im Raum. Dennoch beziehen heute mehr Menschen denn je ihr geschichtliches Wissen aus audiovisuellen Medien und reflektierten dabei nicht, was Fakt und was Fiktion ist. Sie konsumieren Mythen, die ein suggestiv reduziertes Weltbild vermitteln, die sich zwar aus der Geschichte speisen, aus denen sich aber gleichzeitig jede Geschichtlichkeit verflüchtigt hat. Populisten – wie etwa Donald Trump, der selber eine „TV-Geburt“, eine Figur aus dem mediengeprägten Bilderkosmos der USA ist – haben erkannt, dass komplexe Globalisierungsprozesse viele überfordern und sie wissen die Sehnsucht dieser Menschen nach simplen Narrativen, ihren Drang zum Eskapismus zu nutzen, indem sie die Mythen mit neuem aktualisiertem Sinn füllen.
Gleichzeitig hat vor wenigen Jahren ein weiterer Trend eingesetzt: alles, sogar das Anonyme und Ahistorische, wird nun mit einer Geschichte ausgestattet. Wir leben in einer Gesellschaft des Authentizitätskults. Wir fetischisieren das „Echte“ – was auch immer mit diesem schwammigen Begriff gemeint ist – wir sehnen uns nach Ursprünglichkeit, nach den guten, wahren, einfachen Dingen. Um diese Authentizität zu schaffen, wird wiederum Geschichte simuliert – wie es Performer der Reenactments tun. Auch diese Karte der gesellschaftlichen Besessenheit von Authentizität spielen Populisten derzeit genial aus. Die Wir-gegen-die-da-oben-Rhetorik, sie spielt mit der Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität. Das Faktische bleibt dabei auf der Strecke.
Als Fazit von Benjamin Schindlers Film bleibt, dass es sich bei „Playland USA“ um eine kluge wie auch unterhaltsame Bestandsaufnahme der USA, gleichzeitig um eine subtile, hervorragend komponierte Reflexion über die Kraft des Medium Film und die Traummaschine Hollywood handelt.