Vor der Stadthalle
Der Platz vor der Stadthalle Cottbus ist ein unwirtlicher Ort. Der Raum scheint sich hier für seine Weite beinahe zu schämen. Unsicher stehen Gebäude aus verschiedenen Epochen nebeneinander. Zwischen ihnen Platz, als wollten sie nicht in Berührung kommen, Abstand voneinander nehmen, weniger aus Respekt, als vielmehr aus Scheu. Nichts passt zusammen. Und auch das Netz aus Gehwegplatten auf dem Platz spaltet mit seinen feinen Rillen eher, als dass es die Gebäude miteinander verbindet. Nur ein dünner blauer Streifen auf dem Boden durchzieht diesen Raum. Er führt die Besucher*innen von einem Kino zum nächsten, begleitet sie sicher ans Ziel und verbindet die Spielstätten des Filmfestivals Cottbus miteinander. Vor der Stadthalle laufen die Linien zusammen, lassen ein Zentrum entstehen, wo die Stadt sonst nur eines behauptet.
Auf diesem Platz erblicke ich am letzten Festivaltag – der Mittag sieht unter den schweren Novemberwolken bereits wie ein seelenloser Nachmittag aus, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann und zu geducktem Gang zwingt, weil man sich jederzeit den Kopf an den tiefhängenden Wolken stoßen könnte – den Regisseur Sergey Dvortsevoy. Nachdenklich schreitet er den Platz ab, vermisst ihn mit seinen bedächtigen Schritten, die blauen Linien auf dem Boden ignorierend. In wenigen Stunden wird das 28. Filmfestival Cottbus vorüber sein. Dvortsevoy wartet auf ein Shuttle, steckt quasi im Transit – wie seine Filmfiguren des Öfteren.
Szene aus „Ayka“ von Sergey Dvortsevoy
Eilig hasten meine Freundin und ich aus der Stadthalle, rennen auf den Regisseur zu, die blaue Linie unter unseren Füßen, rufen „Sergey“, schütteln ihm die Hand und stehen plötzlich vor ihm wie die allerletzten, kreischenden Coldplay-Fans und stammeln irgendetwas arg Analytisches zu seinem Film „Ayka“, der am Abend zuvor den Hauptpreis für den besten Film gewonnen hat, in die Luft. Nichts kann in solchen Momenten gelingen. Aus irgendeinem Grund wollten wir – trotz zweier Filmgespräche an den Tagen zuvor – noch einmal ganz dringend mit ihm reden. Wie Kinder, die abends noch eine ganz wichtige Frage haben, weil sie nicht ins Bett wollen. Vielleicht erhofften wir uns durch das Gespräch Erlösung von seinem Film, der wie Beton auf uns lastet, grippegleich in unseren Knochen steckt. Doch es ergeht uns wie dem Regisseur selbst: Anstatt aus dem Labyrinth heraus, führt uns der kurze Wortwechsel tiefer hinein in seine Welt. Mehr aus Verlegenheit, weil wir sonst nicht viel zu sagen haben, fragen wir, ob er wieder Dokumentarfilme drehen werde in Zukunft. Mit seiner tiefen und festen Stimme, die sofort Vertrauen herstellt, als würde man schon ewig so dahin plaudern, antwortet er, dass er das nicht plane. Es sei einfach zu hart, diese permanente Auseinandersetzung mit der Realität, die einen dann nicht loslasse und verfolge. Man gräbt sich einfach zu tief ein in dieses Leben der anderen. Das halte man auf Dauer nicht durch. Seine müden, von einem Schatten umrandeten Augen erzählen den Rest. Zu sagen gibt es nichts mehr.
Nachdem wir uns von Sergey Dvortsevoy verabschiedet haben und – er, die blaue Linie weiter ignorierend und wir, der blauen Linie zum Hauptbahnhof folgend – auseinandergehen, wissen wir, dass uns „Ayka“ noch tagelang auf jedem Schritt begleiten wird. Aykas immer zu schnelles Atmen wird mit meinem eigenen Rhythmus kollidieren. Ich werde mich fragen, was sie gerade tut, wenn ich in die U-Bahn steige. Wie es ihr wohl geht? Bis mir wieder einfällt, dass es sie nicht gibt. Dass es hunderte Aykas sind, die jedes Jahr ihre Neugeborenen in einem Moskauer Krankenhaus zurücklassen, in die Straßen des Molochs, des Ungetüms, das diese Stadt nicht nur im Film ist, zurück flüchten. Auf der Suche nach Arbeit. In illegalen Wohnungen lebend, mit zehn oder zwanzig Gleichgesinnten. Die einfachverglasten Fenster zugeklebt, nicht nur, um die eisige Kälte am Eindringen zu hindern, sondern um kein Licht nach außen dringen zu lassen. Ein Tuch aus der Heimat als spärliche Trennwand, um auf 2 Quadratmetern so etwas wie Privatsphäre zu erzeugen, während nebenan jemand am Telefon den Verwandten in Kasachstan oder Kirgisistan von der großen Stadt vorschwärmt, in der die Menschen schön und die Straßen breit sind.
Vieles bleibt im Kopf nach einem Festival, so auch nach diesem: Irinas Blick auf ihren Mann und ihren Sohn, nachdem sie als Leihmutter soeben ein Kind für eine andere Frau entbunden hat; der Macho und der Pornostar, die ziemlich verloren in ihren Rollen durch den Weltraum schweben und in 87 Minuten viel zu oft ineinander gleiten und sich zum Thema gängiger Geschlechterdarstellung und deren Auflösung im 21. Jahrhundert wenig bis nichts zu sagen haben; dieser Hund, dem ein Lolli im Fell klebt und wie er durch den serbischen Schlamm des Jahres 1999 trottet; der Vater, der zum ersten Mal seine Tochter im Arm hält und nicht weiß wohin mit seinen Händen; der verhinderte Superheld und seine permanent in Unterwäsche herumlaufende Mutter; ein alternder Mann mit Büstenhaltern, unterwegs durch kitschgesättigte Dörfer auf der Suche nach einer vollbusigen Aschenbrödelkarikatur; eine Familie, die an einem Tag in den Routinen ihres Lebens versinkt.
Doch Ayka hat sich in ihrem blauen Wintermantel eingebrannt. Wie sie im Grunde genommen vom konstanten Lärm und dem Klingeln ihres Telefons durch Moskau geprügelt wird, hektisch atmend ohne jemals wirklich Luft zu holen. Wie ihre Körperfunktionen nach der Entbindung das Funktionieren ihres Körpers im Organismus der Stadt behindern, die ohne billige Arbeitskräfte wie Ayka nicht funktionieren würde. Wie dieses höllische Räderwerk einer Industrie der illegalen Arbeitsmigration veranschaulicht, dass wir den (blauen) Ariadnefaden verloren haben, der uns sicher aus dem Labyrinth geleiten könnte, für das uns die Begrifflichkeiten ausgehen, mit denen man es beschreiben könnte, weil jeden Tag neue Unvorstellbarkeiten geschehen. Aykas blauer Mantel ist die Projektionsfläche für das Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, nichts mehr Sinn ergibt und alles zum Selbstläufer geworden ist, sich die Ordnungsprinzipien auf den Kopf stellen und Würde auf einen Konjunktiv reduziert wird.
Sechs Jahre hat Dvortsevoy an „Ayka“ gearbeitet, seinem einzigen Film in den letzten zehn Jahren. Er hat mehrere Winter in Russlands Hauptstadt gedreht, seine Hauptdarstellerin für jede Einstellung leiden lassen, hätte beinahe aufgegeben, weil er sich dem Projekt nicht gewachsen sah, weitergemacht und im Laufe der Dreharbeiten einen Großteil des Drehbuches neu geschrieben, um den eigenen Blick offen zu halten. Und es ist dieser Blick auf den russischen Regisseur aus Kasachstan, der wohl wissend, dass der Boden keinen Halt mehr bietet, ruhigen Schrittes auf im geht, der am Ende dieses Filmfestivals steht. Wie Dvortsevoy und seine Filmfiguren befinden wir uns in einem transitorischen Moment. Aber noch ist nichts entschieden. Noch können wir handeln und den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit etwas entgegen setzen.
Szene aus „The Load“ von Ognjen Glavonic
Als Ognjen Glavonic für seinen Film „The Load“, der in matschigen, nasskalten Bildern einen LKW-Fahrer während des Kosovo-Konfliktes auf einen quälenden Roadtrip schickt, vollkommen zu recht den Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI) erhält, erscheint ein Video auf der Leinwand der Stadthalle Cottbus. Es zeigt keine der üblichen Dankesreden, sondern eines der zahlreichen spomenici, die auf dem Gebiet des ehemaligen Yugoslawien verstreut stehen. Das Denkmal, das den Namen „The Sniper“ trägt, an die Kämpfe im Zweiten Weltkrieg erinnert und auch in einer Szene seines Filmes zu sehen ist, besteht aus drei Teilen und symbolisiert Kimme und Korn eines Gewehres. Am Fuß des mehrere Meter hohen Monuments ist ein Satz eingraviert, der in der Videobotschaft nicht zu sehen ist: When you have to fight for your freedom, use it again. Es wäre tragisch, wenn wir es so weit kommen lassen würden.