„Wir sind alle krank. Wir werden krank gemacht und ständig den krankmachenden Zwängen der Gesellschaft ausgesetzt.“ Der Kapitalismus ist es, der den Leuten ihre Gesundheit nimmt und sie früher oder später zu psychischen Wracks macht. Das zumindest nahm Dr. Wolfgang Huber an, in den 60er Jahren war er ein junger Arzt an der Poliklinik der Universität Heidelberg. Im Film „SPK-Komplex“ wird nun seine Geschichte und die seiner Patienten erzählt: Huber und eine wachsende Gruppe seiner Patienten gründeten, von den konservativen Ärzten und den schwäbischen Spießbürgern damals mehr als nur skeptisch beäugt, das sogenannte Sozialistische Patientenkollektiv (SPK), eine sich als gesellschaftskritisch begreifende Kommune, deren Mitglieder davon überzeugt waren, dass eine Krankheit kein individuelles „Schicksal“ sei, sondern die Folgeerscheinung eines Lebens in grundfalschen Verhältnissen. Die Vorstellung, ein Arzt habe in erster Linie die Aufgabe, bei einem psychisch angeschlagenen Menschen dessen Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen, ihn zu „normalisieren“, ihn also wieder in die als falsch erkannten kapitalistischen Alltagsprozesse zu integrieren, teilte man nicht: „Es kann keine Therapie geben bei einem Machtverhältnis wie dem zwischen dem Patienten und dem Arzt.“ Aus der Krankheit, unter der man leidet, so schlussfolgerte man, müsse man daher „eine Waffe machen“. Das waren Töne, wie man sie bis dahin in der beschaulichen badischen Provinz nicht vernommen hatte.
Texte von Michel Foucault und Wilhelm Reich wurden gelesen, nächtelange Diskussionen geführt, und es wurde Psychiatriekritik geübt, die schließlich in radikaler Gesellschaftskritik mündete. Die Haare Hubers wurden über die Jahre länger und auch der Bart wuchs prächtig. Wenn die Institutionen der Machthabenden (Justiz, Polizei, Ärzteschaft, Politik usw.) nichts anderes im Sinn haben, als die Menschen zuzurichten, d.h. für bestimmte Zwecke nutzbar und gefügig zu machen, dann hat man das Recht, diese Gesellschaft auch militant zu bekämpfen, so lautete ein Gedanke. Bis zur Zusammenarbeit Hubers und seiner Patientengruppe mit der RAF der frühen 70er Jahre, der man logistische Hilfe leistete, war es dann nicht mehr weit.
Der Dokumentarfilmer Gerd Kroske, dem wir etwa auch einen wunderbaren Film über den lange zu Unrecht vergessenen komischen Künstler Heino Jaeger zu verdanken haben, nähert sich in seiner neuesten Produktion seinem Gegenstand wie gewohnt: mit ruhigen Kamerabildern, die Originalschauplätze (Krankenhausflure, Vorlesungssäle, Wohnräume) zu Original-Audiodokumenten zeigen, sorgsam ausgewähltem Archivmaterial und mit behutsam geführten Interviews, in denen Zeitzeugen zu Wort kommen, ohne dass diese dabei zum Sprechen gedrängt werden. Vielmehr dürfen die Interviewten auch mal schweigen und manches nur andeutend oder ratlos in die Kamera gucken.
Kroske erinnert mit seinem Film auch an die postnationalsozialistische Gesellschaft der Bundesrepublik, die in den 70ern weit davon entfernt war, ihre Geschichte „aufzuarbeiten“, und in der einstige Nationalsozialisten wie der ehemalige NS-Marinerichter und spätere baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger über Jahrzehnte hinweg völlig selbstverständlich in Machtpositionen saßen.
Zeitzeugen wie die ehemaligen RAF-Angehörigen Carmen Roll, Lutz Taufer und Karlheinz Dellwo kommen ebenso zu Wort wie Richter, Journalisten oder Kriminalbeamte wie etwa der Leiter des baden-württembergischen Staatsschutzes zwischen 1975 und 1980. Über das Patientenkollektiv weiß er Folgendes zu berichten: „Die haben immer nur Hegel gelesen, da hat man nach zwei Sätzen Kopfweh gekriegt.“
Wie man in der Bundesrepublik in dieser Zeit mit linksradikalen Inhaftierten umging, beschreibt in einer denkwürdigen Interviewszene des Films Lutz Taufer, der in den 60ern zunächst im SPK und später in der RAF aktiv war, fast 20 Jahre im Gefängnis saß und heute Vorstand des Weltfriedensdienstes ist. Nach seiner Überstellung ins Gefängnis Schwalmstadt in den 80er Jahren hätten Polizeibeamte ihm eine Lockerung seiner strengen Isolationshaft in Aussicht gestellt, indem sie ihm angeboten haben, er könne ja täglich abends mit drei anderen Inhaftierten in einem winzigen Raum gemeinsam fernsehen. Die drei anderen Inhaftierten hießen Klehr, Kaduk und Erber: NS-Kriegsverbrecher, ehemalige SS-Offiziere, die im Konzentrationslager Auschwitz eine Unzahl von Menschen gefoltert und ermordet hatten.
Dieser Text erschien zuerst in: Neues Deutschland