Bacalaureat

(ROU/FRA/BEL 2016; Regie: Cristian Mungiu)

Der moralische Fall

Der Stein, der zu Beginn eine Fensterscheibe durchschlägt und im Wohnzimmer des angesehenen Arztes Romeo Aldea (Adrian Titieni) landet, verheißt nichts Gutes. Der sorgsame Familienvater wohnt mit seiner Frau Magda (Lia Bugnar), die depressiv wirkt, und der erwachsenen Tochter Eliza (Maria Dragus) in einer tristen, grauen Plattenbausiedlung einer rumänischen Kleinstadt. Die Lebensverhältnisse sind bescheiden und die Perspektive auf eine mögliche Veränderung ist eingeschränkt. Seit das Ehepaar 1991 aus dem Westen in das ehemals sozialistische Land zurückgekehrt ist, wurden die Hoffnungen enttäuscht. Nichts scheint sich zu bewegen im bleischweren Getriebe der von Korruption und Vetternwirtschaft zusammengehaltenen Gesellschaft. Deshalb soll es die Tochter, die sich gerade im Abiturprüfungsstress befindet, einmal besser haben und mit einem erhofften Stipendium in England Psychologie studieren. Doch dann kommt es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall: Eliza wird auf dem Weg zur Schule überfallen und am Schreibarm verletzt. Zudem ist die junge Frau nach dem Vergewaltigungsversuch traumatisiert. Ihre Prüfungen und damit ihre Zukunft scheinen gefährdet.

Christian Mungiu stellt in seinem neuen Film „Bacalaureat“ (Graduation) den Arzt als Hauptfigur ins Zentrum komplexer moralischer Konflikte, die immer verwickelter werden und immer weitere Kreise ziehen. Weil er, dessen Ehe offensichtlich am Ende ist, am Tag des Überfalls auf dem Weg zur Schule seine Tochter früher absetzt, um seine Geliebte Sandra (Mălina Manovici), eine ehemalige Patientin, zu besuchen, hegt er leichte Schuldgefühle. Im Verantwortungsgefühl für Elizas Zukunft lässt sich der ansonsten rechtschaffene Mann, verbohrt in sein Ziel, aber bald zu unlauteren Maßnahmen verführen. Auf Vermittlung eines leitenden Polizisten erhält er Kontakt zu einem einflussreichen Ex-Funktionär, der dringend einer Lebertransplantation bedarf und für seine vorrangige Behandlung verspricht, seine Kontakte bei der Schulbehörde geltend zu machen, um Elizas Notendurchschnitt zu sichern. Was Romeo jedoch bald erfahren muss: Der Schwerkranke befindet sich im Fadenkreuz staatlicher Ermittler, die deshalb auch ihn unter Druck setzen.

Es kommt also viel zusammen in Mungius vielschichtigem Drama, das soziale Konflikte mit moralischen verknüpft und daraus ein differenziertes Bild der postsozialistischen Gesellschaft zeichnet. Zwischen ehrlichem Wollen und korruptem Handeln wird der Wunsch nach dem guten Leben zerrieben. Während Druck und Stress auf den Arzt zunehmen, muss dieser lernen, zwischen väterlicher Fürsorge und elterlicher Verantwortung zu unterscheiden. Forciert werden die Konflikte noch durch Romeos kranke Mutter und Elizas Freund Marius (Rareş Andrici), die generationsübergreifend daran glauben, dass sich das Land reformieren lässt und deshalb des Zusammenhalts bedarf. Bald sitzt der Familienvater zwischen allen möglichen Fronten, nicht zuletzt zwischen zwei Frauen, die schmerzliche Entscheidungen verlangen.

Christian Mungiu vermittelt die Dilemmata seines Protagonisten in langen, intensiven Einstellungen. Sein Realismus arbeitet aber auch immer wieder mit leichten Irritationen und Verschiebungen, auffälligen Wiederholungen und untergründig wirksamen Zuspitzungen. Bis schließlich unerwartet ein sehr alltägliches Korrektiv die fragwürdigen Mittel suspendiert und die hehren Ziele neu erdet. Doch der Arzt, zunehmend die Kontrolle verlierend, scheint zu diesem Zeitpunkt fast aller Entscheidungen ledig zu sein. Erst im freien Fall wird für ihn ein Zutrauen in die Wahrheit wieder möglich.

Bacalaureat
(Bacalaureat)
Rumänien, Frankreich, Belgien 2016 - 128 min.
Regie: Cristian Mungiu - Drehbuch: Cristian Mungiu - Produktion: Pascal Caucheteux, Cristian Mungiu, u.a. - Bildgestaltung: Tudor Valdimir, Panduru - Montage: Mircea Oltenau - Verleih: Wild Bunch - Besetzung: Adrian Titieni, Maria Dragus, Lia Bugnar, Malina Manovici, Vlad Ivanov, Gelu Colceag, Rares Andrici, Petre Ciubotaru, Alexandra Devidescu, Emanuel Parvu, u.v.a.
IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt4936450/?ref_=nv_sr_2
Foto: © Wild Bunch