Das Genrekino der alten Bundesrepublik, das sich dem gängigen filmhistorische Narrativ von der Dichotomie aus „Opas Kino“ und seiner Erneuerung durch den „Neuen Deutschen Film“ (dem wohl immer schon eine recht reaktionäre Kulturauffassung, die U und E, Genre- und Autorenfilm strikt getrennt wissen wollte) widersetzte, ja, dieses regelrecht sprengte, war lange Zeit eine Terra Incognita, von der nur einzelne Spitzen (z. B. Roland Klick oder Dominik Graf) monolithisch aus dem Meer des Vergessens ragten. Dass sich dieser Zustand langsam ändert, verdanken wir neben dem Einsatz von Filmfestivals wie dem Hofbauerkongress, Blogs wie Eskalierende Träume, Hard Sensations oder Remember it for later, der größeren Verfügbarkeit auch obskurster Filme im Internet auch einigen kleinen engagierten DVD-Labels wie Subkultur oder Bildstörung.
Letztere veröffentlichen nun mit „Laurin“ eine kleine Perle in einer, wie von ihnen nicht anders gewohnt, regelrechten Studienausgabe auch erstmals auf Blu-ray, die es bislang nur als Grabbeltisch-DVD gab (die immerhin vielleicht auch einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte, dass der Film zwischenzeitlich nicht gänzlich in Vergessenheit geriet). Robert Sigls beeindruckendes Langfilmdebüt, den der damals frisch von der Münchener Filmhochschule kommende Regisseur 1989 mit gerade einmal 25 Jahren vorlegte, ist ein waschechter gothic horror – und steht (nicht nur) damit selbst im erweiterten Blick auf bundesdeutsche Filmgeschichte (durch den, um nur ein Beispiel zu nennen, das lange aufrechterhaltene Bild der Einzigartigkeit Roland Klicks als genuiner westdeutscher Genre-Auteur längst nicht mehr tragbar ist) ziemlich singulär da.
Sigl drehte Horrorfilme aus Überzeugung und begreift das Genre als einen assoziativen Möglichkeitsraum. Eine Vision, die dann für den deutschen Filmbetrieb wohl entschieden zu groß und zu sperrig war, sodass „Laurin“ bis heute sein einziger Kinofilm blieb, er hiernach nur noch fürs Fernsehen und auch nicht mehr nach eigenen Drehbüchern arbeiten konnte (die Werke, die dort entstanden, sind entweder gar nicht oder nur auf inzwischen lange vergriffenen DVDs erschienen – sehen würde ich sie gerne alle).
Das ist eine wahre Schande, denn „Laurin“, dessen Bezüge auf verschiedenste Traditionslinien des Genres vom Weimarer Kino bis zu den Gialli eines Dario Argento oder (am Schluss auch) den übernatürlichen Splatterszenarien eines Lucio Fulci eigentlich das Schaffen eines großen Genre-Auteurs einzuleiten schienen, der sich der Mittel des Horrorfilms bedient, um eine ganz eigene düstere Vision von der Welt zu schaffen, die tiefenpsychologischen Implikationen des Genres einerseits ernst und andererseits als Form nimmt, die er mit seinen eigenen (auch) gesellschaftskritischen Inhalten füllt. Der Ort des Grauens ist in „Laurin“ die Familie in einer archaisch christlichen Gesellschaft, die der Film zwar historisch am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert verortet, die damit aber zugleich als „abendländische Tradition“ in der Gegenwart seiner Entstehung (und darüber hinaus) fortlebt.
Das junge Mädchen Laurin ist die Tochter eines Seemanns (János Derzsi), der sie aus beruflichen Gründen oft alleine lassen muss, sodass sie, nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter (Kati Sir) zu Beginn, die meiste Zeit mit ihrer – fortwährend in ihrer Pfeife ein nicht genau definiertes Kraut rauchenden – Großmutter alleine bleibt. Durch die Visionen, die sie heimsuchen, kommt das Mädchen schließlich einem Mann auf die Spur, der in dem kleinen Ort an der Küste, in der der Film spielt, kleine Jungen ermordet.
Wenn im Vorspann ein Bild durch die Sicht eines Fernglases kreisförmig gerahmt erscheint, zollt Sigl nicht nur einem typischen Stilmittel des Stummfilms Referenz, sondern macht auch gleich klar, dass „Laurin“ ganz explizit ein Film über das Sehen ist. Und die, die hier (in vielfacher Hinsicht) sieht, ist eben die Titelfigur, die von der damals zwölfjährigen Dóra Szinetár sicherlich nicht zuletzt deshalb so beeindruckend dargestellt wird, weil sie ein geradezu unheimliches Gespür dafür hat, Bedeutung in ihre Blicke zu legen: Den Mörder mit seinem Schnurrbart und seinen streng nach hinten gegelten Haaren sieht sie einmal mit einem Blick an, der förmlich direkt durch seinen Körper hindurch zu seiner vernarbten Seele zu dringen scheint. An anderer Stelle überrascht sie ihren Vater in der Badewanne stehend, den Rücken (und den Hintern) ihr zugewandt. Sie zögert nun einige Sekunden, ehe sie den Blick nach unten abwendet, und aus diesem Blick spricht eine Mischung von Neugier und Begehren. In einer anderen Szene betrachten sich der Vater und die Mutter in einem Spiegel, wobei er ihr die Hände in die Bluse steckt und ihre Brüste liebkost. Laurin sieht ihnen durch eine Tür im Hintergrund zu. Das derart in Szene gesetzte Dreieck, dem die aggressive Komponente zu sehr abgeht, um wirklich ein ödipales zu sein, wird zu einem Geflecht begehrender Blicke, in denen sich Voyeurismus, Wissbegier und Narzissmus verschränken. Doch Sigl liegt es fern, all das zu verurteilen. Vielmehr werden die gesellschaftlichen Normen, denen die (kindliche) Sexualität ein Dorn im Auge ist, von der Großmutter verkörpert, die die Szene betritt und dem Geschehen Anstand anmahnend Einhalt gebietet.
Dem Thema des Blickes entsprechend staffelt Sigl seine – teils in Argentoeskem Rot ausgeleuchteten – Räume immer wieder durch Türrahmen, Fenster oder Spiegel. Letztere sind ein weiteres wichtiges Leitmotiv des Films, dem der Regisseur allerdings keine eindeutige Wertigkeit verleiht, sondern diese von Szene zu Szene variiert. Im bigotten Pfarrershaushalt sind Spiegel als „Werkzeuge menschlicher Eitelkeit“ verpönt, was diesen gleichzeitig assoziativ mit dem Vampir-Motiv verbindet, dem der Film eh, vorwiegend in seiner Murnauschen Ausprägung, Referenz zollt. Wurden sie in der vorher beschriebenen Szene zu einem durchaus positiv konnotierten Werkzeug menschlicher (Schau-)Lust, werden sie an anderer Stelle im Klassenraum zu einem der autoritären Kontrolle durch den neuen Lehrer Van Rees (verschlagen: Károly Eperjes). Schließlich, in einem derangierten Blick des Killers auf sein Abbild im Kerzenschein, werden sie dann vielleicht auch zu einem der Selbsterkenntnis. In einem Film, der maßgeblich von seinen inhaltlichen wie formalen Ambivalenzen lebt, hat eben jede Medaille zwei Seiten.
Außer vielleicht, was die Rolle des Christentums anbelangt, an dem Sigl kein gutes Haar lässt. Als ein Film, der, wie Olaf Möller im (auf der DVD enthaltenen) Interview anmerkt, sehr stark aus seinen Bildern heraus gedacht ist, erzählt „Laurin“ die Macht des Christentums nicht in Worten, sondern schreibt sie dem Film visuell ein durch die Art, wie die Kruzifixe an den Wänden seine Räume dominieren. Wenn im Klassenzimmer vor dem Eintreffen des neuen Lehrers wahrhaftig die Hölle los ist, thematisiert Sigl einerseits schon die Grausamkeit von Kindern und die Hackordnung, die unter ihnen herrscht, findet aber andererseits auch ein eindrückliches Bild für die buchstäblich (und eben sehr bildlich) gedachte Verkehrung von Machtverhältnissen, die dieser innewohnen kann. Laurins bebrillter Bruder und Klassenkamerad Stefan (Barnabás Tóth) wird von einigen fiesen Mitschülern kurzerhand kopfüber in den Schrank gehängt. In einer kurzen subjektiven Einstellung aus seiner Sicht steht der chaotische Raum nun auf dem Kopf, was besonders dadurch interessant wird, dass dementsprechend nun auch der Mann am Kreuz den Raum eben nicht mehr von oben herab beherrschen kann, sondern sich nun an den unteren Bildrand gedrängt sieht. In einer späteren Szene werden ebenfalls im Kinderspiel normative Geschlechterrollen ins Wanken gebracht, wenn sich Laurin als erwachsener Mann und Stefan als Frau verkleiden.
Man könnte sagen, dass „Laurin“ in einer Welt spielt, die es nur im Kino geben kann – und die sich dennoch nicht in einen reinen Eskapismus zurückzieht, sondern immer wieder auch von der „außerfilmischen Realität“ erzählt. Robert Sigls von einer so unheimlichen wie melancholischen Atmosphäre getragener und von Nykia Janscó in größtenteils postertauglichen, sehr exakt komponierten Bildern fotografierter Film kann nun, Bildstörung sei Dank, in gebührender Form gesehen, genossen und gedeutet werden.