Bis zur großen Rede wird viel geredet. „Die dunkelste Stunde“ ist im Saal deren zwei und zeigt drei Wochen im Mai; das geht flott vorbei – mit Rededuell und Ritualen im Schnellschnitt während Blitzkrieg. Wie die vielen zufallenden Stahltüren krachen auch der Filmtitel, später dann Datumsanzeigen, riesig ins Bild, und wir merken uns: „Darkest Hour“, das ist, wenn im Parlament, so wie in der Eröffnungsszene gestritten wird und viele durcheinander rufen (folglich ist es eine lichte Stunde, wenn, wie am Ende, einer redet und alle still sind und ihm folgen).
Jedenfalls: Im Mai 1940 überrollen Nazi-Truppen Frankreich und die Benelux-Staaten. Winston Churchill, Notnagelpremierminister auf Abruf, muss nun überzeugen: die britische Öffentlichkeit, den skeptischen König, seine eigene Tory-Partei, zumal jene, die Friedensverhandlungen mit Hitler anbahnen wollen. Seine erste Unterhaus-Rede, die der Bevölkerung nichts als „Blut, Schweiß und Tränen“ verheißt und zur Fortführung des Krieges aufruft, fällt glatt durch. Die finale „We shall never surrender!“-Rede löst dann aber Euphorie aus: Das Land kämpft weiter, bis mein Opa und die anderen Nazis besiegt gewesen sein werden – für eine Zeit lang zumindest.
Diese bewegende Rede ist jene, die am Ende von „Dunkirk“ tonlos aus der Zeitung vorgelesen wird. Der betreffende Evakuierungsmythos kommt auch in „Die dunkelste Stunde“ prominent vor und war offenbar die Idee von „Winston“ (bei den obligaten Schlusstiteln, die sagen, wie´s den Leuten weiter ergangen ist, sind wir mit dem Premierminister auf Vornamensbasis). Dem Dünkirchener Strandchaos unter Nazibeschuss hatte Joe Wright schon 2007 in „Abbitte“ ein Denkmal aus Regieeinfällen gesetzt (die längste Praline, pardon: Kamerafahrt der Welt) – nun pimpt er Churchill für die Gegenwart auf. Das geschieht immer wieder in Vogelschauen, die von hoch oben recht tiefsinnig wirken sollen und jedenfalls den
Krieg zeigen, der fern der Londoner War Room-Kammerspiele abläuft, und mit viel Licht. Das Licht ist mal rot (Zigarre, Radioredesignallampe), öfter aber ist es ein Weiß, in dem Churchills Zigarrenqualm, Rede-Schreibpapier und Mondgesicht erstrahlen.
Gary Oldman bleibt also beim bleichen Make-up: Seine Karriere begann er als Sid Vicious und Graf Dracula; sein Churchill – für den man ihm noch einige Preise verleihen wird – ist nicht grade ein Punk, aber ein wilder Flegel zwischen Wutausbruch und Dahintaumeln (ergo mehr Trump als Obama, von wegen Gegenwartsbezug zu einer Politik der bewegenden Rede). Der Brandy fließt schon morgens, die Lippe bebt die ganze Zeit, es fällt ein Popo-Wort hier, ein WC-Witz da. Die deutsche Synchro tut sich schwer beim privy seal; vielleicht dafür ein „Ficktory-Zeichen“ reinkalauern? (Nur so ein Vorschlag.)
Churchills wirres Nuscheln ist hier Trademark, nicht Ohnmachtsinsignie (wie es noch das Stottern in „The King´s Speech“ war; übrigens: derselbe König stottert hier viel weniger, dafür kann auch er deftig reden, sagt etwa zu Churchill „Beat the buggers!“). Auf die Public History im Trauma-Modus, die seit den 1990er Jahren auch im Kino den Ton angibt (auch noch in dem 2017 untergegangenen britischen „Churchill“ mit Brian Cox in der ganz traumatologisch angelegten Titelrolle), scheint nun allmählich ein anderes Paradigma der Geschichtserschließung zu folgen: Es ist eine Art Upgrade – im Zeichen angeeigneter Pop-Traditionen – des Konzepts der Great Personality, die heute, wie man so unschön sagt: authentisch ist, weil sie in einem gepflegt ausgeformten, distinkten Stil ruht, der ganz auf Marotten basiert.
Natürlich macht Churchill nicht alles allein. Er bekommt Stichworte geliefert, von seiner Gattin (Kristin Scott Thomas) und seiner Sekretärin (Lily James), die fast explizit als Souffleuse auftritt. Ansonsten tippt sie und kämpft mit den Tränen. Das will wohl als Würdigung des Anteils von Frauen an der männerdominierten „großen Geschichte“ wahrgenommen werden, läuft aber so – noch dazu in massiver Unterforderung zweier guter Schauspielerinnen – noch drastischer aufs Gegenteil hinaus. Ähnlich verhält es sich bei der Stichwortlieferung, die „das Volk“ übernimmt: Die Szene, in der the British people dem plötzlich zum U-Bahn-Fahren ausgebüxten Premier in Form eines „Never!“-Chors in der tube ein Direktmandat erteilt, ist so herablassend, dass eine subaltern-klassistische Vorstellung von „den Leuten“ umso ekliger zelebriert wird, und so pseudo-multiethnisch (die beflissen betonte Anekdote mit einem African Briton inmitten einer rein weißen Welt, der Churchills Ahnen-Anrufungs-Zitat seines Lieblingshistorikers Macaulay brav vervollständigt – missverstanden geklaut, wie einiges hier, aus „Lincoln“ und anderen Spielberg-Historienfilmen), dass es letztlich rassistisch ist. Rechtspopulistisch wie das Brexit-Votum, das die Szene meint, ist sie sowieso. Aber – und das ist die Ideo-Logik eines Films, der auf politisch gespaltenen Märkten (vor allem in seinem Produktionsland Großbritannien) reüssieren will – you can have it both ways: nationalautoritär in Form und Inhalt, aber konsensual antinazi im Hintertürl einer diffusen Anmutung. Ging es nicht beim Brexit auch irgendwie so „gegen Deutschland“? Eben.