Sex in der Arztehe: Sie simuliert eine Vollnarkose, er tastet die Gattin ab. Alles ist klinisch in dieser Familie und diesem Film: die Krankenhausgänge, das Luxushaus, die kühlen, künstlichen Dialoge, der Stolz der Eltern auf die Leistungen der Kinder (inklusive der einsetzenden Menstruation der Tochter).
Es ist eine (echte) Operation am offenen Herzen, mit der Yorgos Lanthimos’ erstes in den USA gedrehtes Drama verstörend beginnt. Während er in pompösen Einstellungen zu getragenen »Stabat Mater«-Chören seziert, wie die Fassade der Hochglanzwelt bröckelt, ergeben sich Fragen über Fragen: Klebt im wahrsten Sinne des Wortes Blut an den schönen Händen des Chirurgen (Colin Farrell als Biedermann, den der Regisseur bereits in „The Lobster“ genüsslich malträtiert hat)? Oder ist das nur ein Hirngespinst des rätselhaften 16jährigen Martin (betörend phlegmatisch: Barry Keoghan), dessen Vater eine OP nicht überlebt hat? Kann dieser Schlaks aus ärmlichen Verhältnissen die Arztfamilie wirklich mit einem Fluch belegen? Wo sind wir überhaupt – in einem Mysterythriller, einem Horrormovie, einer griechischen Tragödie, einer Mischung aus „The Shining“ und dem Iphigenie-Mythos?
Nur die Arztkinder wundern sich über gar nichts, akzeptieren ihr Schicksal (Lähmungen sind erst der Anfang) klaglos, bewegen sich robbend fort, buhlen um die Gunst des Vaters, der zu ihrem Mörder werden könnte, und gehen die Sache pragmatisch an: „Krieg ich deinen MP3-Player, wenn du tot bist?“ Die tobenden Eltern wollen nicht wahrhaben, dass die Wissenschaft, die Medizin, der Verstand hier nicht weiterhelfen und gleichen darin dem Zuschauer, der ständig vergeblich auf der Suche nach Logik, Erklärungen, Genrezuordnungen ist.
Wenn deutschsprachige Filme sich mal (selten genug) über realistisches Erzählen hinauswagen (und sich nicht wie die Mysteryserie „Dark“ durch penetrante Gruseleffekte erledigen), muss eine rationale Auflösung her, die das Ganze banalisiert: In Greg Zglinskis „Animals“ (2017) ist es ein Unfall, der für Halluzinationen der Protagonistin sorgt; die Abgründe von „Ich seh, ich seh“ (DVD bei Koch Media) erklären die österreichischen Regisseure Veronika Franz und Severin Fialas mit einer psychischen Störung. Lanthimos dagegen, der mit einigen griechischen Landsleuten für ein neues unkonventionelles und körperbetontes Kino steht, hat keine Angst vor Surrealem. Er hält die Widersprüche aus und überlässt sie seinem Publikum.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „The Killing of a Sacred Deer“.