Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Genauer: quer durch den Körper. So jedenfalls empfindet es der junge Aktivist und Filmemacher Bruce LaBruce im heimeligen Toronto. Der Künstler träumt von seinem Publikum – das es aber noch nicht gibt: schwul, lesbisch, transgender. Es ist 1980, und er liebt den Punk. Doch Punk ist auch nur Rockmusik; allzu schnell ist aus dem lauten Ausbruch eine reine Macho-Geschichte geworden. Obwohl es schwule Punksänger gibt, mag der Punk die Homosexuellen nicht immer. Gemeinsam mit der Musikerin G.B. Jones gründet LaBruce ein Fanzine und stellt queere Themen ins Zentrum seiner künstlerischen Arbeiten. Daraus entsteht eine Szene, die die aggressive Energie des Punk mit dem schwulen Aktivismus verbindet. Queercore wird erfunden.
„Queer“, weil „Homo“ mittlerweile schon negativ konnotiert ist – zu reich, zu teuer, zu etabliert. Regisseur John Waters, schlechthin der Pate des Queerpunk, sagt in der Doku: „›Schwul‹ war eben nicht genug.“ Man wollte eine andere Bezeichnung und den Punk neu erfinden. Alsbal entstanden in vielen Städten Magazine, Clubs, Bands. Anstatt ausgegrenzt zu werden, grenzte man sich ab. Man wollte sich unterscheiden, keinem Wertekanon folgen und sich auch nicht der Szene fügen. Die Idee des Punk, sei wie du bist, wurde konsequent auf sich selbst angewandt. LaBruce sieht in den queeren Punks „the faggott in the family“. Sie brauchen eine eigene Welt; auf der Welt, die es gibt, ist kein Platz für sie.
Queercore hat natürlich auch einen Sound, er besteht aus Gitarre, Bass, Schlagzeug und Gebrüll. Dazu Sex und Crossdressing. Erste Fingerübungen finden in einem Treff für Taubstumme statt. Im „Deaf Club“ kann man Radau machen. Im Übrigen geht der Bass durch den Körper. Die ersten Bands heißen Anti-Scrunti Faction, Bomb und Fifth Column. Der Film schaut der neuen Szene bei ihrer Entstehung zu: durch Filmclips, Konzertausschnitte, Aktionen. Eine Fusion aus Punk und offensiv selbstbewusster Homo- Bi- und übriger Sexualität, kurz: die ganze Palette an Quergelegtem. Man versteht sich explizit politisch, eine Politik, die das Private umfasst, will umschmeißen, was schon gekippt ist: how to punk punk.
„Du musstest eine neue Familie finden, weil deine eigene dich schlecht behandelt hat“, sagt Musikerin Phranc von Team Dresch. Es sei eine Frage von Leben und Tod gewesen, allein als lesbische Musikerin irgendwo in der Provinz. In ihren Stücken geht es um Diskriminierung und Aufbruch. Ihr gelingt, was innovative Musik ausmacht: laute Ich-Werdung. Das Andere plus Lautstärke – so könnte das Motto des hochemotionalen und energetischen Dokumentarfilms des jungen Regisseurs Yony Leyser lauten. Der Untertitel „How to Punk a Revolution“ trifft es genauso gut. Ausgrenzung führt auch dazu, eine neue Definition von sich selbst zu schaffen. „Alles ist verwertbar, nur der Körper einer Butch-Lesbe nicht“, heißt es im Film. Das soll einen Endpunkt des Kapitalismus beschreiben, eine aus der Not geborene hoffnungsfrohe Botschaft, die heute wohl nicht mehr vermittelbar ist.
Leyser, der in Chicago aufgewachsene, in Berlin lebende Underground-Chronist, erweist sich mit seinem dritten Film als akribischer Dokumentarist, der noch in den entlegensten Archiven Filmschnipsel findet. Er präsentiert seltene Konzertmitschnitte, hat Stars wie Beth Ditto und die Mitglieder der Bands Team Dresch, Bikini Kill (Sängerin Kathleen Hanna: „Ich liebe Bands, die singen, ich solle mich töten.“) und Pansy Division interviewt. Sie alle eint das kreative Außenseitertum, das sie angenommen haben, nachdem sie hineingedrängt wurden. Es ist ein Plädoyer für einen kreativen Umgang mit Widerständen: Wir erschaffen die Welt, in der wir leben wollen. Dieser Ansatz findet sich auch in der Riol-Grrrl-Bewegung und im Grunge, wie ihn etwa Nirwana in Szene setzten. Kurt Cobain: „Ich bin stolz, schwul zu sein, ohne es zu sein.“
Immer noch wirken diese Ideen aus den früheren neunziger Jahren radikal, vor allem, wenn man die Dominanz glattgebügelter Balladen in der Popmusik bedenkt. Bis heute ist eigentlich niemandem dermaßen Revolutionäres eingefallen, was man mit E-Gitarren hervorbringen könnte. Regisseur Leyser sagt, Queercore besitze nicht trotz, sondern wegen seiner Abseitigkeit noch heute Kraft und Relevanz. Er gehörte damals selbst zu der kleinen Szene queerer Punks. Sein erstes queeres Lieblings-Zine war Bimbox – es war „phantastisch, radikal und überaus schwer zu bekommen“.
Sein eigenes hieß The Yonilizer: eine Ansammlung von politischen Kommentaren, Comics, Geschichten und Besprechungen von Shows und Filmen. Es sei um die Jahrtausendwende als Hommage an die damaligen Pioniere und Pionierinnen gedacht gewesen. „Ich habe schon immer mit großer Neugier und Leidenschaft abseitige Sozial- und Kulturgeschichte für mich entdeckt – und gleichzeitig versucht, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten.“ Da war Queercore schon in den Kulturbetrieb gesickert: Musikgenres wie Electroclash und queerer HipHop waren entstanden. Sogar der Ausverkauf ließ nicht lange auf sich warten: Gucci benannte eine Schuhkollektion nach Queercore und erntete von den Ureltern LaBruce und Jones harsche Kritik.
Wie immer ging also alles den Bach hinunter: Der eine Flügel kommerzialisierte sich in Werbekampagnen, der andere grenzte sich hermetisch ab. Auch im Politischen sollte jene Ausschließeritis bis in die Jetztzeit überdauern. Es seien Regeln aufgestellt worden, sagt LaBruce, die rigider gewesen seien als in kleinbürgerlichen Vororten. Aber nichts ist endgültig: Abgrenzung ist dem Queercore quasi in die DNA eingeschrieben. Disco war das allerletzte. Madonna? Würg! Doch Beth Ditto überspielte mit ihrer Band Gossip solch popkulturelle Gräben. LaBruce profitierte letztlich auch von der von ihm kritisierten Mainstreamisierung. Er dreht heute Filme, die meist Festivalrenner sind. Gern spielt er mit aus der Rolle gefallenen Geschlechtern. Gerade lief sein Film »Misandrists« erfolgreich in deutschen Kinos: Eine lesbische Frauenarmee braucht Geld für die Revolution und dreht daher queerfeministische Pornos – gutes Gelingen, möchte man da sagen. Das Museum of Modern Art in New York widmete dem Ausnahmekünstler 2014 sogar eine Retrospektive.
Über die Ursprünge all dieser Dinge will Leyser mit seinem Film berichten. „Nur wenige wissen von der phantastischen postmodernen und revolutionären Bewegung, die vor 25 Jahre ihren Anfang nahm“, sagt er und will diese Bildungslücke schließen. Es ist ihm gelungen; der Meilenstein eines Musikfilms.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World