„Gibt es ein festgelegtes Prozedere?“, will die junge Lehrerin Sunna wissen. Gegenüber seinen Eltern soll ein Sechsjähriger seinen Klassenkameraden Armand eines sexualisierten Übergriffs bezichtigt haben. Der Rektor bescheidet Sunna ausweichend, man müsse vorsichtig vorgehen, da Elisabeth, die Mutter des Beschuldigten (der norwegische Schauspielstar Renate Reinsve spielt einen norwegischen Schauspielstar), eine öffentliche Person sei. Gleichzeitig lässt die Schulleitung durchblicken, man müsse das Ganze irgendwie schnell vom Tisch bekommen: „Was durch ist, ist durch.“
Mit einem derart nebulösen Briefing entsenden die Vorgesetzten die unsichere, aber hoch motivierte Sunna in den Kampf, der da heißt: Elterngespräch. Das ähnelt – aus Verlegenheit und Angst vor inkorrektem Verhalten – einem Tänzeln um den heißen Brei, das in einen Filmgeschichte schreibenden ausufernden Lach- und Weinkrampf der vermeintlichen Angeklagten Elisabeth mündet.
Die gekonnt inszenierte erste Hälfte des klaustrophobischen Kammerspiels am Tatort Schule erinnert zunächst mehr an den Witz von Roman Polanskis Komödie „Der Gott des Gemetzels“ (2011) als an lker Çataks jüngeres Drama „Das Lehrerzimmer“. Auch „Armand“ beschränkt sich auf die reichlich kindisch agierenden Erwachsenen, während die Schüler außen vor bleiben.
Der Vorfall zwischen den Kindern könne, erläutert Regisseur und Drehbuchautor Halfdan Ullmann Tøndel, „völlig unschuldig oder sehr ernst sein – je nachdem, wie man ihn betrachtet und wie man ihn in den Kontext einordnet“. Es gehe „in dem Film viel mehr darum (…), wie wir als Erwachsene unsere eigenen Realitäten konstruieren, damit sie mit der Wahrnehmung unserer Identität und unseres Lebens übereinstimmen, als um eine Geschichte über einen Konflikt zwischen zwei kleinen Jungen.“ Der Enkel des schwedischen Filmberserkers Ingmar Bergman und der norwegischen Schauspielerin und Regisseurin Liv Ullman hat selbst lange an einer Grundschule gearbeitet und dabei erlebt, „wie jedes Verhalten von Kindern oder ihren Eltern, das auch nur ein bisschen außerhalb der Norm lag, fast schon verpönt war und sehr genau beobachtet wurde“.
In den Unterbrechungen seiner filmischen Krisensitzung an der Institution Schule entwickeln sich anders geartete, vertraulichere Begegnungen und neue Konstellationen zwischen einzelnen Beteiligten und Unbeteiligten auf dem Flur, in den Waschräumen und anderen von Pål Ulvik Rokseths Kamera betörend eingefangenen, abendlich verträumten Funktionsräumen. So nähert sich etwa der Vater des vermeintlichen Opfers der Kontrahentin Elisabeth an, und deren Gefühlslage bricht sich in einem besenbewehrten Tanz mit dem Putzmann Bahn. In einer weiteren surrealen Sequenz umgarnt eine Elternmeute den Star zum Anfassen und mutiert zum übergriffigen Mob.
Nicht nur in der Schuldfrage sieht sich die Zuschauerin jedoch am Ende getäuscht, sondern auch in der Erwartung, einen in sich stimmigen Film zu sehen. Leider entzaubert Ullmann Tøndels Drehbuch „Armand“ mit immer detaillierteren und komplizierteren Informationen zur Vorgeschichte seines Personals, die sich nicht aus dem Geschehen entwickeln. Aus Uneindeutigkeit und Offenheit, die Raum zum Denken und Tanzen lassen, wird ein allzu festgelegtes Prozedere.
Ob das auch der Grund dafür war, dass der 34-Jährige sein Projekt erst umsetzen konnte, als die von ihm vorgesehene Hauptdarstellerin Renate Reinsve 2021 mit „Der schlimmste Mensch der Welt“ in Cannes Erfolge feierte? Ob es vor allem sein Name war, der dem Bergman-Enkel die Camera d’Or für das beste Debüt in Cannes eingebracht hat? Wie sagte noch der Rektor: „Was durch ist, ist durch.“ Zu hoffen bleibt, dass Ullmann Tøndel mit seinem Können in kommenden Projekten fokussierter umgeht.
Dieser Text erschien zuerst am 16.01.2025 in: ND