Der kaputte Kühlschrank in ihrer Wohnung und das Mietshaus in einer unwirtlichen, etwas heruntergekommenen Gegend von New York sind Hinweise darauf, dass in Sylvias (Jessica Chastain) Leben etwas nicht stimmt. Gerade kommt die alleinerziehende Mutter zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter Anna (Brooke Timber) von einem Jahrestreffen der Anonymen Alkoholiker. Seit Annas Geburt hat Sylvia, die in sich gekehrt wirkt und zurückgezogen lebt, nicht mehr getrunken. Nach traumatischen Kindheitserlebnissen und einer problematischen Jugend konnte die verletzte, sensible Frau offensichtlich keinen Halt im Leben finden. Von der Vergangenheit beschwert, bewältigt sie nur mühsam ihren Alltag. In einer Tageseinrichtung betreut sie, die selbst auf Hilfe von ihrer Schwester Olivia (Merritt Wever) angewiesen ist, hilfsbedürftige Menschen. Als sie nach einem Klassentreffen ihrer Highschool unter merkwürdig anmutenden Umständen den demenzkranken Saul (Peter Sarsgaard) kennenlernt, adoptiert sie zunächst wider Willen einen weiteren Versehrten.
Michel Francos neuer, höchst beeindruckender Film „Memory“, der gesellschaftliche Außenseiter beziehungsweise Marginalisierte in den Mittelpunkt stellt, widmet sich auf verschiedenen Ebenen der Sorge um den anderen. Dabei beschäftigt er sich nicht nur mit Tabus und der Frage nach Schuld und Vergebung, sondern er eröffnet seinen seelisch verwundeten Figuren auch Wege, um ihre schmerzlichen Erfahrungen in ein neues Leben zu integrieren. Gegen innere und äußere Widerstände kommen sich Sylvia und Saul näher, sie lernen sich kennen und auf behutsame, zärtliche Weise lieben. Der Film vollzieht dabei zunächst einen Perspektivwechsel, um kurz darauf die parallelen Handlungen der beiden Protagonisten in eine gemeinsame Erzählung münden zu lassen. Das Hin und Her zwischen ihnen übersetzt der mexikanische Filmemacher in wiederholte U-Bahn-Fahrten, die zugleich Gegenwart und Vergangenheit, das Verdrängte und seine Bearbeitung miteinander verbinden.
„Memory“ handelt insofern auf bewegende Weise von Heilung und gegenseitiger Unterstützung wider das Schweigen und Vergessen. Indem er die Gewichte der Dringlichkeit und dessen, was wichtig ist, verschiebt, erzählt der Film bei aller Melancholie zugleich eine ergreifende Liebesgeschichte. Michel Franco, der zuletzt mit seinem Film „Sundown“ beeindruckte, erweist sich dabei erneut als Meister der erzählerischen Verdichtung. Mit Ellipsen und einer sowohl distanzierten als auch einfühlsamen Beobachtung der sozialen Beziehungen und Verhältnisse inszeniert er gewissermaßen „Lücken“ im raumzeitlichen Kontinuum, die seinen außerordentlich bemerkenswerten Film immer wieder dem Überraschenden und Unvorhersehbaren öffnen. Angesichts dieser formalen Konzentration verzichtet Franco auch auf einen Score, um stattdessen mit J. S. Bachs berühmtem „Air“ aus der 3. Orchestersuite, vor allem aber mit Procol Harums Song „A whiter shade of pale“ tiefe und aufwühlende emotionale Akzente zu setzten. Jenseits einer vordergründigen äußeren Dramatik vollzieht sich so fast unmerklich ein inneres Drama der Befreiung und der Rückeroberung des (eigenen) Lebens.