Irdische Verse

(IR 2023; Regie: Ali Asgar, Alireza Khatami)

System der Kontrolle

Die Totale auf das nächtliche Lichtermeer von Teheran umschließt ganz abstrakt die tausendfachen Schicksale einer Stadt, die allmählich erwacht. Während Geräusche und Gebetsrufe, Vogelgesang und Verkehrslärm anschwellen, wird es heller. Fast unmerklich rücken die Hochhäuser näher, bleiben jedoch äußerlich. Darauf folgen, als wären sie willkürlich herausgegriffen aus dem Heer menschlicher Schicksale, neun kurze, stilistisch höchst einfach und sehr konzentriert gehaltene Episoden, die jeweils den Namen der Hauptfigur tragen. In einer einzigen statischen Einstellung werden unterschiedliche Menschen ins Bild gesetzt, die jeweils in absurd anmutenden Dialogen mit den Vertretern staatlicher Behörden oder auch mit privaten Arbeitgebern in Konflikt geraten. Wobei die durchweg autoritären und unangenehmen Gegenüber der Protagonisten aus dem Off der Szene sprechen, also nicht zu sehen sind. Diese radikale Verdichtung, mit der Ali Asgari und Alireza Khatmai in ihrem Low-Budget-Film „Irdische Verse“ arbeiten, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche.

Vom Säugling bis zum alten Mann durchlaufen die Episoden verschiedene Lebensalter. Ein frischgebackener Vater möchte den Namen seines neugeborenen Sohnes im Standesregister eintragen lassen. „David“ soll er heißen. Doch weil das kein iranischer Name sei und er überdies „eine fremde Kultur propagiere“, lehnt der Beamte diesen Eintrag ab. Dabei verstricken sich die beiden in eine haarspalterische, tragikomische Auseinandersetzung. Ähnlich grotesk ergeht es dem kleinen Mädchen mit den lagen roten Haaren und einem pinken Kopfhörer, das fröhlich und selbstverloren in einem Bekleidungsgeschäft tanzt, während seine Mutter und die Verkäuferin ein „Kleid“ für eine Schulzeremonie des Kindes auswählen. Um den „Vorschriften“ zu entsprechen, ist der Hidschab dann weniger farbenfroh, wie von Selena gewünscht, als vielmehr grau und verhüllend. Kurz darauf muss sich eine Schülerin im Teenageralter vor einer Rektorin verantworten, weil sie angeblich vom sehschwachen Hausmeister mit einem Jungen auf einem Moped identifiziert wurde: „Er sieht, was er sehen muss. Dafür ist er da“, sagt die Anklägerin über den Denunzianten.

Überwachung und Kontrolle, behördliche Willkür und Machtmissbrauch kennzeichnen dabei ein autoritäres System, das die Individuen schikaniert und reglementiert und dabei stets anmaßend in deren Privatsphäre eingreift. Etwa wenn ein Antragsteller, der seinen Führerschein abholen möchte, auf seine „Normalität“ hin geprüft wird und dafür seine Ganzkörpertattoos vorzeigen muss; oder wenn ein unsicherer Arbeitsloser beim Bewerbungsgespräch auf erniedrigende Weise einer religiösen Prüfung unterzogen, eine junge Frau in ähnlicher Situation unsittlich bedrängt wird. Schließlich muss ein Filmemacher, der seit zwei Jahren auf eine Dreherlaubnis wartet, einmal mehr sein Drehbuch entscheidend kürzen, weil es von einem Vatermord handelt; was sich hier durchaus im übertragenen Sinn verstehen lässt.

Die beiden Regisseure Ali Asgari und Alireza Khatami reflektieren hier wohl ihre eigenen Erfahrungen in einem totalitären, von Zensur bestimmten System. Immer wieder geht es in ihrem Episodenfilm „Irdische Verse“, deren Titel sich auf ein Gedicht der bedeutenden Dichterin und Filmemacherin Forugh Farrochsad bezieht, um die Ermittlung von Wahrheit und ihre Diskreditierung. Am Ende bebt die Erde, erschüttert ein Erdbeben die Stadt: „Da/ Ward die Sonne kalt/Und der Segen verließ die Äcker“, heißt es am Anfang jener apokalyptischen Verse, die sich auch als Offenbarung übersetzen lassen.

Irdische Verse
(Ayeh haye zamini)
Iran 2023 - 77 min.
Regie: Ali Asgar, Alireza Khatami - Drehbuch: Ali Asgar, Alireza Khatami - Produktion: Ali Asgar, Alireza Khatami - Bildgestaltung: Adib Sobhani - Montage: Ehsan Vaseghi - Verleih: Neue Visionen - FSK: ab 6 - Besetzung: Bahram Ark, Sadaf Asgari, Ardeshir Kazemi, Gohar Kheirandish, Majid Salehi, Hossein Soleimani
Kinostart (D): 11.04.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt27502360/
Foto: © Neue Visionen