Ein kleiner Junge, als Polizist verkleidet und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, schleicht sich schießend durch den Flur eines kaputten, verwahrlosten Abrisshauses. Die Kamera folgt ihm dabei aus subjektiver Perspektive. Als sich am Ende des langen Gangs überraschend eine Tür ins Freie auftut, wirkt das, als öffne sich ein Bühnenvorhang. Der Blick fällt auf eine belebte Straßenszenerie aus Menschen, Baggern und Verkehr. Der Kontrast wird noch verstärkt, wenn man im Gegenschuss sieht, dass die komplette Fassade des Hauses bereits fehlt. Mitte der 1990er Jahre stehen in der chinesischen Provinzstadt Peishui die Zeichen auf Veränderung. Gravierende Umwälzungen an der Schwelle zu einem neuen wirtschaftlichen und informationstechnologischen Zeitalter sind im Gange. Als markantes und kinematographisch selbstbezügliches Symbol mag dafür auch die Schließung des örtlichen Kinos gelten, die der Polizeichef (Hon Tianlai) als „gute Nachricht“ wertet, weil er in dem heruntergekommenen Gebäude einen „perfekten Ort für Ermittlungen“ sieht. Der Raum für künstliche Träume und imaginierte Welten soll ganz praktisch der Wahrheitsfindung dienen.
Als eine rätselhafte Mordserie die Polizeibehörde aufschreckt, richtet der melancholische und schweigsame Inspektor Ma Zhe (Hu Yilong) sein provisorisches Großraumbüro auf der Bühne vor der Leinwand ein. Zu diesem Theatereffekt des Spiels-im-Spiel passt, dass bei der folgenden Spurensuche analoge Medien, beispielsweise ein Kassettenrekorder und ein Diaprojektor, eine wichtige Rolle spielen. Der chinesische Regisseur Wei Shujun wiederum hat seinen atmosphärisch stimmungsvollen Film Noir „Only the River Flows“, der eine graue, nasse und kaputte Welt zeigt, auf 16mm aufgenommen. Das macht die in herbstliche, ausgebleichte Farben getauchten Bilder leicht körnig und unscharf und verleiht ihnen zugleich Volumen und eine lebendige, pulsierende Dichte. Viel Regen, ärmliche Wohnverhältnisse und fortschreitender Zerfall grundieren die immer verwirrender werdenden Ermittlungen des existentialistischen Helden, dem zunehmend die Realität abhanden kommt.
Wei Shujun setzt in seiner filmisch herausragenden Adaption einer Kurzgeschichte des chinesischen Avantgarde-Schriftstellers Yu Hua diesen Wirklichkeitsverlust seines Protagonisten in Opposition zum Pragmatismus des schnelle Lösungen fordernden Polizeichefs, der sich seine Zeit mit Pingpong vertreibt. Dieser beschwört die „kollektive Ehre“, den Zusammenhalt und notwendigen Erfolg seiner Behörde als Repräsentantin des staatlichen Kollektivs. Derweil begegnet der Ermittler Opfern gesellschaftlicher Unterdrückung und Ausgrenzung: einem Liebespaar, das seine Beziehung geheim halten muss, einem Friseur mit Trans-Identität und einem stummen Verrückten, der bald zum Hauptverdächtigen wird. Doch Ma Zhe, der diese Widersprüche erfasst und in seinem Privatleben als werdender Vater selbst in Gewissenskonflikte gerät, gibt sich mit schnellen Lösungen nicht zufrieden. Und so gleitet er sukzessive in einen Strudel aus Wahn und Wirklichkeit, der sich zum surrealen Albtraum auswächst und in einer existentiellen Krise mündet. Von Beethovens „Mondscheinsonate“ begleitet und von einer umfassenden Tristesse umgeben, bewegt sich der einsame Held durch eine immer absurder werdende Welt.
„Je mehr wir versuchen, den Sinn des Lebens zu ergründen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir ihn verfehlen“, sagt der Regisseur des Films über seine an sich und dem Fall scheiternde Figur, deren Wahrheitssuche vielleicht ins Leere oder zu immer neuen Spuren führt, als wäre sein Dienst eine unablässige Sisyphusarbeit. Nicht von ungefähr zitiert Wei Shujun gleich zu Beginn seines vielschichtigen, philosophischen Thrillers Albert Camus: „Da das Schicksal unergründlich ist, spiele ich selbst Schicksal.“ Doch Mas Erfolg bleibt äußerlich. Sowohl seine innere Resignation als auch der geheimnisvoll fragende Blick des neugeborenen Kindes am Ende des Films scheinen darauf hinzudeuten, dass Ma Zhe kaum je Herr seines Schicksals ist. Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen.