Wenn zu Beginn des Films Figuren, die zunächst nur im Off zu hören sind, in die Unschärfe des Bildes treten, deutet sich mit der Irritation zugleich eine Doppelbödigkeit an. Offensichtlich wird gerade eine Szene für einen Dokumentarfilm eingerichtet, sodass im Folgenden nicht immer sofort klar zu unterscheiden ist, wo der objektive Film beginnt und der subjektive Film-im-Film aufhört. Ein weiterer, leicht versteckter Kamerablick, der sich zunächst nicht zuordnen lässt, kommt hinzu und macht die filmische Wahrnehmung noch komplizierter. Offensichtlich werden die Dreharbeiten des kleinen deutschen Filmteams im äußersten Nordosten der Türkei überwacht. Immer wieder taucht ein geheimnisvoller schwarzer SUV auf, während sich die Dokumentarfilmer und ihre kurdische Dolmetscherin in ein abgelegenes Dorf begeben, um eine Mutter über ihren 26 Jahre zuvor entführten und seither verschwundenen Sohn zu befragen. Deren Ritual, immer wieder die Lieblingssuppe des Verschwundenen zu kochen, drückt zugleich die stille, aber vermutlich vergebliche Hoffnung auf seine Rückkehr aus.
Wie die Traumata der Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirken und die Erinnerung an das Erlittene ebenso schmerzlich wie tröstlich sein kann, wird durch die Geschichte dieser kurdischen Mutter vermittelt. In ihrem multiperspektivischen und sehr vielschichtigen Film „Im toten Winkel“ beschäftigt sich die deutsch-türkische Regisseurin Ayşe Polat diesmal aber vor allem auch mit einem blinden Fleck der türkischen Geschichte und jenen Tätern, die mitunter selbst zu Opfern werden. Im zweiten Kapitel des in drei Teile gegliederten Films begleiten wir nämlich die türkischen Geheimpolizisten Zafer (Ahmet Varlı) und Hasan (Mutallip Müjdeci) bei ihrer schmutzigen Überwachungsarbeit potentieller kurdischer Oppositioneller. Dabei schrecken sie weder vor Folter noch vor Mord zurück. Die tiefsitzenden, teils in Familien wurzelnden Strukturen ihres illegalen Tuns tragen mafiöse Züge und werden doch staatlich gedeckt. Als plötzlich der kurdische Menschenrechtsanwalt verschwindet, der den Dokumentarfilmern ein Interview geben wollte, spitzen sich die Ereignisse zu.
In seinem dritten Kapitel zeigt Ayşe Polats höchst spannender Paranoia-Thriller, der ständig die Perspektiven, Bildmedien und Formate zwischen Beobachtern und Beobachteten wechselt, wie sich das System der Überwachung selbst zerstört beziehungsweise seine Kinder frisst. Im toten, nicht einsehbaren Winkel einer verdrängten Geschichte wachsen die Geister der Unruhe. Der obsessive Observierer Zafer wird selbst überwacht. Und die bildlichen Beweise werden ihm zeitnah auf sein Handy zugespielt, worauf er zunehmend nervös und panisch reagiert. Schließlich aber ist es seine kleine Tochter Melek (Çağla Yurgo), die als Zeugin des Schreckens und als mysteriöse Seherin mit unheimlich durchdringendem Blick die verdrängten Traumata in die Gegenwart projiziert. Indem Polat die zeitlich parallelen Ereignisse, die zunächst fragmentarisch erscheinen, durch den Wechsel der Perspektiven verknüpft, wir das vom Filmtitel implizierte Unsichtbare immer deutlicher und erschreckender sichtbar. So wie die kurdische Mutter im Ritual das Andenken an ihren Sohn wachhält, richtet sich Polats filmische Erzählung eindringlich gegen das Vergessen.