Jeder schreibt für sich allein

(DE 2023; Regie: Dominik Graf)

Das Virus des Faschismus

In der Rahmenhandlung des Films untersucht der amerikanische Psychiater Douglas M. Kelley mit Hilfe des Rorschachtests die Psyche von Nazi-Verbrechern. Die von der zerfließenden Tinte und ihren zufälligen Mustern ausgelösten Assoziationen sollen die Suche nach dem Bösen im Menschen befördern. Zwischen einer Verhaltensstörung und übertriebener Anpassungsleistung liegt vielleicht nur ein schmaler Grat. Das lässt sich wiederum übertragen auf das Verhalten des Einzelnen in diktatorischen Unrechtssystemen. Wie ein roter Faden zieht sich deshalb – auch auf der formalen Ebene – die Frage der Perspektive durch Dominik Grafs neuen Film „Jeder schreibt für sich allein“, der sich mit dem Verhalten deutscher „Schriftsteller im Nationalsozialismus“ beschäftigt. Als Grundlage und Wegweiser dienen ihm und seinem Co-Regisseur Felix von Boehm dabei Anatol Regniers gleichnamiges Buch. Der 1945 in einer prominenten Künstlerfamilie geborene Schriftsteller und Musiker versucht darin eine Erinnerungsgeschichte zu schreiben, die nicht vom Ende her und aus der Rückschau urteilt, sondern die unmittelbare Wirklichkeit gewissermaßen aus der Innenperspektive der betroffenen Schriftsteller zu erfassen sucht.

Da es sich bei dieser Rekonstruktion nur um Bruchstücke und Splitter einer vergangenen Realität handeln kann, sind dem Projekt von vornherein also Ambivalenzen, Relativitäten und mögliche Widersprüche eingeschrieben. Die Filmemacher konzentrieren sich in der Folge auf schriftliche Zeugnisse aus Büchern und Archiven, die sie mit filmischen Dokumenten, Ortsbegehungen, Spielszenen (aus Filmen) und aktuellen Interviews in Beziehung setzen. In der ersten Hälfte des fast dreistündigen Films stehen vor allem die widersprüchlichen Biographien von Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper und Hans Fallada im Mittelpunkt, die zwischen Anpassung und Rückzug ins Private changieren und dabei sehr unterschiedliche Facetten annehmen. Verteidigt etwa Benn in seiner Rede „Der neue Staat und die Intellektuellen“ und in seinem Aufsatz „Züchtung“ zunächst noch das „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“, gerät er später selbst ins Visier der Machthaber. Während Erich Kästner wiederum mit ironischer Distanz und „depressivem Trotz“ den Weg in die Melancholie und ins unauffällige Mittun wählt, wie der Kunsthistoriker Florian Illies meint, zieht sich der verkrachte Schriftsteller Fallada in ein mecklenburgisches Dorf zurück und schreibt dort Romane, die sehr erfolgreich werden.

Der Begriff der sogenannten „inneren Emigration“ wird anhand dieser Beispiele einer kritischen Prüfung unterzogen. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, Werk und Autor. Kann man ein guter Schriftsteller und zugleich Nazi sein? Bei den Autoren Hanns Johst und Will Vesper, beides Apologeten des Regimes, scheint der Fall eines „Pakts mit dem Teufel“ (so die Kunstkritikerin Julia Voss mit Blick auf die Rolle Benns) eindeutiger zu liegen. Vespers Sohn Bernward wird später in seinem experimentellen Buch „Die Reise“ dem „Virus des Faschismus“ auf ganz eigene Weise nachspüren. „Wie sicher kann ein Mensch sich seiner selbst sein?“ Dieser von der Publizistin Carola Stern geprägte Satz zieht sich als Mahnung vor vorschnellen Urteilen durch diesen ebenso komplexen wie differenzierten Film.

Jeder schreibt für sich allein
Deutschland 2023 - 167 min.
Regie: Dominik Graf - Drehbuch: Anatol Regnier, Dominik Graf, Constantin Lieb - Produktion: Felix von Boehm - Bildgestaltung: Florian Mag, Markus Schindler, Niclas Reed Middleton, Pierre Nativel, Sven Jakob-Engelmann - Montage: Claudia Wolscht - Verleih: Piffl Medien - Besetzung: -
Kinostart (D): 24.08.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt28236125/
Foto: © Piffl Medien