Langsam und bedächtig gleitet die Kamera über eine lange, sanft fließende Stoffbahn aus blauer Seide. Hände prüfen die Dichte und Weichheit des Gewebes und vermitteln ein Gefühl für die Haptik des Stoffes. Für Halim (Saleh Bakri) und Mina (Loubna Azabal), die in der Medina der marokkanischen Küstenstadt Salé eine Kaftan-Schneiderei betreiben, gehört die Wahl guter Stoffe zum Alltag. Während der stille und zurückhaltende Schneider geduldig und konzentriert seinem traditionsreichen Handwerk nachgeht, kümmert sich die resolute Mina selbstbewusst und bestimmt um die überwiegend weibliche, ebenso launische wie wählerischen Kundschaft. Deren Sinn für die traditionelle Schneiderkunst ist begrenzt. Und so schwebt über der Faszination für das alte, auf Dauer und Beständigkeit ausgerichtete Handwerk zugleich das melancholische Bedauern über seine Vergänglichkeit. Denn längst ersetzen vielerorts „schnellere“ Maschinen das diffizile Handwerk des Schneiders, dessen Wissen immer mehr verloren geht.
In Maryam Touzanis preigekröntem Film „Das Blau des Kaftans“, der auch eine Hommage an das traditionelle Handwerk ist, heißt es einmal: „Ein Kaftan muss denjenigen, der ihn trägt, überleben. Ein Kaftan hält der Zeit stand.“ Von diesem Geist der Unvergänglichkeit ist auch Halims neuer Lehrling Youssef (Ayoub Missioui) beseelt, der seit früher Kindheit auf sich allein gestellt ist und sich ebenso bemüht wie strebsam seinen Aufgaben widmet. Während Mina mit einiger Skepsis auf den attraktiven jungen Mann blickt, spiegelt sich in Halims Augen ein verstecktes Begehren. Denn der schweigsame Schneider ist homosexuell und hat im Hamam regelmäßig Sex mit Männern. Seine liebevolle, zärtlich Ehe mit Mina scheint davon aber unberührt. Doch dann kommen sich Halim und Youssef, beide auf ihre Art Waisenkinder, in scheuen Blicken und verschämten Berührungen allmählich näher, ohne ihre Gefühle füreinander auszusprechen.
Maryam Touzani inszeniert diese wortlose Intimität in vielen Naheinstellungen auf Gesichter, Blicke und Hände. Im langsamen, ruhigen Erzählfluss ihrer von warmem Licht beleuchteten Bilder entsteht der Mikrokosmos eines unspektakulären Alltags, der sich stetig wiederholt und doch unwiderruflich ändert. Denn während bei Halim neue, ungekannte Gefühle erwachen, vertiefen sich in Sorge und Verbundenheit seine alten für Mina, als deren schwere Krankheit unheilbar zurückkehrt. Fortan pflegt und begleitet Halim seine Frau, die für ihn stets ein „Fels“ war und die noch im Leid Augenblicke findet, das Leben zu feiern und dem Unvermeidlichen ihren Witz entgegenzusetzen. Während die beiden Schneider mit ihrer Arbeit ans Krankenbett wechseln, entsteht eine vertrauensvolle Gemeinschaft und Ersatzfamilie. In diesem geschützten Raum des offenen Miteinanders werden sowohl Geständnisse als auch Verzeihen möglich. Subtil und Anteil nehmend formuliert Maryam Touzani in ihrem zutiefst humanistischen Film vor diesem Hintergrund ein Plädoyer für Freiheit und den Mut, zu lieben.
Hier gibt es ein Interview mit Regisseurin Maryam Touzani.