Comic-Reportagen sind eine tolle Sache. So richtig populär sind sie in der deutschen Szene aber nicht, zumindest im Vergleich zu den allgegenwärtigen autobiografischen Comics. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit den eigenen Erfahrungen und Kümmernissen, scheint für viele Zeichnerinnen und Zeichner attraktiver zu sein, als sich einmal gründlich in der Welt umzuschauen. Genau dies aber liebt Sebastian Lörscher. Nach Reiseberichten aus Bangalore in Südindien, aus Haiti und Österreich ist seine aktuelle Veröffentlichung den Obdachlosen Berlins gewidmet.
Im Winter 2019 hat Lörscher mehrfach zwei Anlaufstätten besucht, die in der Hauptstadt Menschen ohne Wohnsitz zur Verfügung gestellt wurden. Beide Orte sollten, wenn man auf der Straße kaum noch leben konnte, Schutz vor Kälte bieten: eine rund um die Uhr geöffnete Zwischenebene am Bahnhof Lichtenberg und ein ausschließlich zur Übernachtung ab 20 Uhr zugängliches Zelt am Containerbahnhof. Aus den Begegnungen dort ist die Reportage entstanden.
Von drei Frauen und zwölf Männern zeichnet Lörscher jeweils ein Doppelporträt. Das erste zeigt die Person ohne Gesichtszüge; der Bleistiftstrich ist dick und verläuft oft in Zickzacklinien. Beim zweiten, behutsam mit Buntstiften kolorierten Porträt ist der Strich feiner und ruhiger, und die Gesichtszüge sind vorhanden. Aus einem Schemen ist plötzlich ein Mensch geworden.
So widerruft Lörscher, allein mit visuellen Mitteln, die traurige Aussage des obdachlosen Uwe, der sich und seinesgleichen als „Schatten der Gesellschaft“ bezeichnet: „Wir existieren, aber der Gesellschaft sind wir ein Dorn im Auge. Man will uns eigentlich gar nicht sehen.“ Die Statements der Obdachlosen rückt Lörscher unkommentiert zwischen die Porträts. Einer hat eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft in einem Kaufhaus; dass er obdachlos ist, weiß fast keiner seiner Kollegen. Der wertvollste Besitz eines ehemaligen Informatik- und Philosophiestudenten ist der Duden; ihn durchforstet er „jede Nacht kreuz und quer“, um „neue Begriffe und Definitionen“ zu lernen.
Da sind, natürlich, die dem Alkohol und Drogen Verfallenen, aber auch diejenigen, die sich in geordnete Verhältnisse zurücksehnen. Andere wiederum wollen ihre Existenz gerade als Verabschiedung von bürgerlichen Zwängen und als große Freiheit begreifen.
Knapp die Hälfte der Porträtierten hat Lörscher im April 2020 erneut getroffen. Manche von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt auf einem guten Weg – so kann der Band, anders als erwartet, vorsichtig optimistisch enden. Auf einfühlsame, respektvolle Weise, ohne jeden unangenehmen Beigeschmack von Voyeurismus gelingt es Sebastian Lörscher so, eine Handvoll Menschen dem sozialen Dunkel, in dem sie hausen, für einen Moment ihres Lebens zu entreißen.
Dieser Text erschien zuerst am 03.03.2023 in der taz.
Sebastian Lörscher: Schatten der Gesellschaft. Die Obdachlosen von Berlin • Jaja Verlag, Berlin 2022 • 128 Seiten • Softcover • 15,00 Euro