Der Film wird gerahmt von einem Video, das nicht gleich als solches identifizierbar ist. Ein junges Mädchen befragt darin einen Mann zu seinem Alter, während es ihn filmt. Dann springen die Bilder im Schnelldurchlauf der Spulfunktion, werden immer wieder unterbrochen vom Gesicht einer tanzenden Frau, bleiben schließlich eingefroren. Dieser doppelte subjektive Blick gehört Sophie Patterson, die als 11-Jährige (Frankie Corio) ihren Vater im gemeinsamen Türkei-Urlaub filmt und sich viele Jahre später als Erwachsene (Celia Rowlson-Hall) daran erinnert. Der Urlaubsfilm mit seinen aufgezeichneten Spielereien und Albernheiten, mit seinen sowohl banalen als auch ernsten Momenten wird dabei zum Medium der Erinnerung, das Verlorenes vergegenwärtigt und bewahrt.
Als Sophie und ihr noch junger, 30-jähriger Vater Calum (Paul Mescal) nach einer nächtlichen Busfahrt in ihrem Hotel in Ölüdeniz an der Ägäis ankommen, fehlt zunächst ein Bett. Im All-inclusive-Resort sind die beiden offensichtlich Gäste zweiter Klasse. Calum, der getrennt von seiner Familie lebt, hat wenig Geld und Perspektive. Aber das wird von Charlotte Wells in ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt „Aftersun“ nur in Andeutungen und eher beiläufig erzählt. Während die Tage vergehen und die ziemlich aufgeweckte Sophie zusammen mit ihrem leicht melancholischen, aber immer wieder antreibenden Vater einigen Spaß bei Wasserspielen, trägem Nichtstun und Ausflügen hat, legt sich sanft ein dunkler Schatten der Schwermut über die Szenerie.
Der stets aufmerksame und fürsorgliche Calum trägt offensichtlich einen Schmerz mit sich, den er vor Sophie verbirgt. Eine unglückliche Kindheit, eine früh gescheiterte Beziehung, Einsamkeit und sein Umzug von Schottland nach England geben dezente Hinweise auf eine wohl auch finanziell prekäre Existenz. Seine Beschäftigung mit Tai-Chi, Meditation und die Lektüre der schottischen Dichterin und Filmemacherin Margaret Tait zeigen seine vielleicht vergeblichen Mühen um inneren Ausgleich. Derweil freundet sich Sophie vorsichtig mit einem gleichaltrigen Jungen an. Während sie wächst und Erfahrungen macht, scheint ihrem Vater das Leben zu viel zu werden. Fast bitter oder ernüchternd wirkt im Kontrast dazu seine Aufmunterung an Sophie, sie könne so sein, wie sie wolle.
Charlotte Wells forciert nichts in ihrem ruhigen, atmosphärisch dichten Film, der Ende der 1990er Jahre spielt. Sehr subtil und mit intimen Blicken erzählt sie eine zärtliche Vater-Tochter-Geschichte, die von einer existentiellen Krise grundiert wird. Dabei lenkt sie durch langsame Zooms, Schärfenverlagerungen und Spiegelbilder die Aufmerksamkeit immer wieder auf unmerkliche Details und deren mögliche Bedeutung. Der wiederholte Blick auf Gleitschirmflieger über der Bucht vermittelt die Ahnung einer ebenso möglichen wie unmöglichen Freiheit. Um trotz räumlicher Trennung ihre Verbundenheit mit dem Vater auszudrücken, äußert Sophie einmal: „Es ist schön, dass man von verschiedenen Orten aus denselben Himmel sieht.“