Das Bekenntnis zu Internationalität und zu kultureller Vielfalt, zu Pluralität und diversen Lebensweisen hat sich das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg unter der Leitung von Sascha Keilholz in den vergangenen Jahren zur Aufgabe gemacht. Folgerichtig spiegelt sich im Programm der 71. Ausgabe, die vom 17. bis zum 27. November 2022 „die ambitioniertesten und aufregendsten Kinovisionen des Jahres“ präsentieren möchte, eine Neugier und Offenheit für unbekannte Welten und ihre sozialen und politischen Konflikte. Da diese meistens und zuerst in Beziehungen und Familien ausgetragen werden, eröffnen sich über die Erfahrung der Fremde hinweg zugleich Nähe und Identifikationsangebote.
In den 16 Filmen des Wettbewerbs „On the rise“, der sich mit seinen Erst- und Zweitwerken der Entdeckung neuer Talente verschrieben hat, gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Hier werden die „Mythen der Weiblichkeit“ („El agua“) und die „erbarmungslose Welt der Pubertät“ („Astrakan“) ebenso erkundet wie die Widersprüche einer Vater-Tochter-Beziehung („I have electric dreams“) und die sozialen Fallgruben eines unstillbaren Kinderwunsches („The sixth child“). Das individuelle Drama wird in diesen Geschichten immer auch zu einem Abbild der Gesellschaft.
Eröffnet wird das Filmfestival, das auch in diesem Jahr durch ein Online-Angebot ergänzt wird, mit Emmanuel Mourets romantischer Komödie „Tagebuch einer Pariser Affäre“. Die französischen Schauspielstars Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne erkunden darin mit viel Sprachwitz und Situationskomik „die Kunst des Seitensprungs“ und die „Unwägbarkeiten der Liebe“. Denn lange lässt sich ihr Arrangement einer unverbindlichen, emotionslosen Affäre nicht aufrecht erhalten.
Über 60 Filme aus mehr als 40 Ländern haben die Veranstalter in den mittlerweile bewährten Reihen und Sektionen des Programms versammelt. Neben dem „Centre piece“ und dem Abschlussfilm gehört dazu erstmals auch ein „Midnight screening“, das zum Auftakt den „aberwitzigen Animationsfilm“ „Unicorn wars“ präsentiert und damit den skurril blutigen, aber nicht minder ernsten Kampf zwischen Einhörnern und Teddybären.
Der dunkle Glanz des schönen Scheins – „Cinema of splendour“, die Retrospektive
Mit seiner diesjährigen Retrospektive „Cinema of splendour – Fashion im Film“ richtet das 71. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg sein Augenmerk auf Kleidung und Mode als prägende Elemente von Filmen. Ganz selbstverständlich charakterisieren Kleider in Verbindung mit der Ausstattung den Zeitgeist und Geschmack der dargestellten Epoche und beglaubigen so eine ferne Welt oder fremde Kultur. Meistens geht der Blick dabei zurück in die Vergangenheit (auch wenn ein Blick in die Zukunft anhand zeitgeistiger Science-Fiction-Filme wie beispielsweise „Barbarella“ ebenfalls lohnend wäre), um in der Opulenz von Kostümdramen eine vormalige, gleichsam märchenhafte Pracht zu beschwören. Unter den insgesamt 12 Langfilmen und diversen Kurzbeiträgen der Auswahl stehen dafür besonders Luchino Viscontis vierstündiges Epos über den von Helmut Berger gespielten Bayern-König „Ludwig II.“ (1973) sowie Sally Potters filmische Adaption von Virginia Woolfs Roman „Orlando“ (1992), in der Tilda Swinton am Hofe Königin Elisabeths I. als androgyne Titelheldin und Zeitreisende zu sehen ist.
Dass Mode meistens mehr bedeutet als die vermeintlich realistische Rekonstruktion einer vergangenen Epoche, ist freilich auch in diesen historisierenden Werken angelegt, in denen Geschmack und Schönheitsempfinden immer auch als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit und Identität fungieren. Unter dem glänzenden Schein schöner Kostüme und blütenweißer Internatskleider finden sich allerdings oftmals der Zwang zur gesellschaftlichen Etikette, einengende Konventionen sowie Systeme der Kontrolle, Restriktion und Unterdrückung. So reflektiert Peter Weirs Romanverfilmung „Picinic at Hanging Rock“ (1975), der vom rätselhaften Verschwinden einer Gruppe von Schülerinnen erzählt, nicht nur die strenge Internatserziehung im viktorianischen Zeitalter um die Jahrhundertwende, sondern auch ihren Niedergang. Indem sich die unterdrückten Leidenschaften in eine eskapistische Fluchtphantasie verwandeln, transzendieren sie die gemeine Realität.
Einen noch radikaleren beziehungsweise destruktiveren Ausweg aus den einengenden Verhältnissen ihres Elternhauses wählen die fünf „Selbstmord-Schwestern“ in Sofia Coppolas thematisch verwandtem Film „The Virgin Suicides“ (1999), der auf dem gleichnamigen Roman von Jeffrey Eugenides basiert. Ungleich befreiender und selbstermächtigender sind hingegen die Aufbrüche der Mädchen-Clique in Céline Sciammas Film „Bande de filles“, etwa wenn die jungen Frauen sehr stilbewusst und ausgelassen in einem Hotelzimmer zu Rihannas „Diamonds“ tanzen.
Solche transgressiven Momente, in denen sich die Flucht aus dem Alltag mit der Lust an der Ausschweifung verbindet, kennzeichnet auf ganz andere und eigene Weise auch die narzisstischen Träumereien des „Pink Narcissus“ (1971) in James Bidgoods gleichnamigem Experimentalfilm. Darin unternimmt ein schwuler Jüngling, eingehegt von knalligen, zerlaufenden Farben irgendwo zwischen Romantik und Kitsch, verschiedene imaginäre Reisen in die somnambulen, symbolisch aufgeladenen Reiche der homosexuellen Phantasie. Die teils hautengen Outfits des römischen Sklaven, Matadors oder auch Bikers, die seine wechselnden Rollen kennzeichnen, werden dabei zu erotischen Signalen sexuellen Begehrens.
Dessen übermächtige, zerstörerische Macht steht auch im Mittelpunkt von Charles Bryants Stummfilm „Salomé“ (1922), einer sehr statischen, relativ reduzierten Adaption von Oscar Wildes skandalumwitterten einaktigen Tragödie. Inspiriert von Illustrationen Aubrey Beardsleys, huldigen hier ornamentaler Schmuck, durchsichtige Gewänder und lockige Perücken dem Dekorativen des Jugendstils und seinen künstlichen Paradiesen, während unerfüllte Lust und mörderischer Liebeswahnsinn den biblischen Stoff in tiefe Dekadenz tauchen. „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes“, lautet das diesbezüglich nur scheinbar entlastende Motto des Films. Denn Salomé „tötet, was sie liebt und liebt, was sie tötet“.
Unmöglicher Sehnsuchtsort – Das „Centre piece“ des Festivals: Rodrigo Sorogoyens Film „The Beasts“
„Damit sie in Freiheit leben können, fesseln die Aloitadores die Bestas mit ihren Körpern, um sie zu scheren und zu markieren“, steht als Motto über dem Film. Gemeint sind jene galicischen Kämpfer, die alljährlich beim traditionellen Fest „Rapa das bestas“ wilde Pferde aus den Bergen in die Dörfer treiben, um sie dort zu scheren und mit einem Zeichen zu versehen. Die mutigen Männer stürzen sich dabei mit ihrer puren Körperkraft auf die Tiere, um sie in einer Mischung aus Kampf und Umarmung niederzuringen. Der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen zeigt zu Beginn seines beeindruckenden Films „The Beasts“ („As bestas“) diesen gefährlichen Brauch in Zeitlupe. Die Kraft der Körper im fast ausgeglichenen Kampf mit den Pferden wird durch diese Überhöhung zum ästhetischen Ereignis. Zugleich ist damit ein Motiv gesetzt, das in einer späteren Szene des Films in pervertierter Form wiederkehrt. Allerdings ist dann nicht mehr die Freiheit, sondern deren Auslöschung das Ziel.
„The Beasts“, der als sogenanntes „Centre piece“ programmiert ist, beginnt wie ein Western. In der Kneipe eines entlegenen galicischen Bergdorfes gleitet die Kamera in gemessenen Bewegungen durch das verrauchte Halbdunkel zwischen den gegerbten Gesichtern der Domino spielenden Männer. Es wird hitzig diskutiert und gestichelt. Spannungen liegen in der dunstigen Luft. Der einheimische Wortführer Xan (Luis Zahera) hetzt gegen Antoine (Denis Ménochet), der als Franzose als Außenseiter und Fremder gilt. Zusammen mit seiner Frau Olga (Marina Foïs) ist er in die Gegend gezogen, damit sie sich auf einem alten Gehöft ihren Traum von einem einfachen, naturverbundenen Leben erfüllen können. Mit alternativem Landbau und der Renovierung baufälliger Häuser wollen sie die von starker Abwanderung betroffene Region wieder aufwerten. Doch die alteingesessenen Dörfler hoffen auf einen Park mit Windrädern, der ihnen durch den Verkauf von Grundstücken eine neue Perspektive eröffnen soll.
Darüber kommt es zum ebenso unerbittlichen wie unversöhnlichen Streit, wobei sich der Western allmählich zu einem bedrohlichen Psychothriller wandelt. In äußerst spannenden und intensiven Rededuellen prallen die Gegensätze und Interessen aufeinander. Während sich Xan und sein Bruder Lorenzo (Diego Anido) auf ihre ererbten Rechte als Einheimische berufen und ihr existentielles Überleben davon abhängig machen, verteidigt Antoine die Werte und Ideale seines Aussteigertraums. Paradoxerweise schützt er mit diesem jene Traditionen, die die Dörfler bereit sind, selbstvergessen aufzugeben. Den sich gewalttätig zuspitzenden Konflikt, für den es weder eine Lösung noch eine Annäherung gibt, kontrastiert Rodrigo Sorogoyen mit poetischen Momenten einer magischen Naturbetrachtung: Mit ausgedehnten Waldspaziergängen des bedrohten Protagonisten, seinen Blicken in stille Täler, einem Bad im kalten Gebirgsfluss oder der verzauberten Begegnung mit einer Gruppe von wilden Pferden. Die Natur wird in diesen Szenen zu einem nahen und zugleich fernen, vielleicht sogar unmöglichen Sehnsuchtsort.
Die inneren Bilder der Außenseiter – Die Festivalfilme „Stella in love“ und „Astrakan“
Für eine Konzentrations- und Entspannungsübung haben sich die Schülerinnen eines Pariser Gymnasiums auf Bodenmatten ausgestreckt. „Umarmen Sie die Bilder, die Ihnen Ihr Unterbewusstsein schickt“, werden sie von der Lehrerin angeleitet. In Sylvie Verheydes autobiographischem Coming-of-Age-Film „Stella in love“ („Stella est amoureuse“), der in der Sektion „Pushing the boundaries“ läuft, wird diese Technik autogener Introspektion zum ästhetischen Prinzip. Während die 17-jährige Titelheldin Stella (Flavie Delangle) die Wirren der Pubertät zwischen schulischem Alltag, prekärem Elternhaus und nächtlichen Clubbesuchen erlebt, wird ihr gegenwärtiges Erleben immer wieder unterbrochen von schlaglichtartigen Erinnerungen, Hoffnungen und Tagträumen. Dazu erzählt die schweigsame Außenseiterin, die im letzten Jahr vor dem Abitur wenig Lust auf Schule hat, in einem permanenten Bewusstseinsstrom aus dem Off von ihrer ganz persönlichen Sicht der Dinge; dadurch entstehen immer wieder Kontraste hinsichtlich der divergierenden Lebenswelten.
„Außenseiterin zu sein, passte zu mir“, sagt die immer leicht genervt und verstockt wirkende junge Frau. Stella kommt aus einem schwer zerrütteten Elternhaus und hat weder Wünsche noch Pläne. In diesem Abschlussjahr Mitte der 1980er Jahre erlebt sie vieles zum ersten Mal, während ihre Gedanken immer woanders sind. Um ihre trostlose Herkunft zu verbergen, verstellt sie sich. Und weil sie aus mangelndem Selbstvertrauen oft schlecht oder falsch reagiert, wie sie selbst meint, bleibt sie zögerlich und zurückhaltend. Nur beim Tanzen im angesagten Club „Les Bains Douches“, wo sie sich in den umschwärmten Tänzer André (Dixon) verliebt, geht sie aus sich heraus. Cool und gestylt wird Stella in diesen traumverlorenen, magischen Nächten, in denen sich die bewegten Körper im Rausch von Farben und Formen, Musik und Zigarettenrauch verlieren, zu einer anderen.
Auch der jugendliche Samuel (Mirko Giannini) in David Depessevilles stark beeindruckendem Wettbewerbsbeitrag „Astrakan“, dessen Titel sich auf das Fell des neugeborenen Karakulschafes bezieht, ist ein sozialer Außenseiter mit einem reichen Innenleben. Auch er sucht nach Liebe und Anerkennung. Doch in seiner Pflegefamilie im sehr ländlich und traditionell geprägten Morvan ist er mehr geduldet als gewünscht. Mit Strenge wird sein schwaches Vertrauen missbraucht; dabei erlebt er Ungerechtigkeit und körperliche Züchtigung. Samuel richtet diese Verletzungen schließlich gegen sich selbst und andere, während er zugleich sehr genau die dunklen, verdrängten Zonen der Erwachsenenwelt, ihre Leidenschaften, heimlichen Begehren und schändlichen Vergehen wahrnimmt.
In einem sehr dichten Gewebe aus markanten Details, Symbolen und Bedeutungen evoziert Depessevilles psychologisch ebenso feinnerviger wie vielschichtiger Film mit einer untergründigen Spannung eine beunruhigende Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Schweigen und Verdrängen. Wenn schließlich in einer fulminanten Montage-Sequenz zu Johann Sebastian Bachs „Agnus Dei“ aus der h-Moll-Messe die versteckten Lügen an die Oberfläche und ins Bild drängen, ist das für Samuel wie ein Auftauchen aus den dunklen und gefährlichen Strudeln, die ihn bis dahin gefangen halten.
Reines Herz – Jean Paul Civeyracs Film „A Woman“
Sehr konzentriert fokussiert die Pariser Polizeikommissarin Juliane Verbeke (Sophie Marceau) ihr Ziel beim Schießtraining mit der Pistole. In diesem Moment ist die äußerlich ruhig, kühl und bestimmt erscheinende Frau ganz bei sich selbst. Später sieht man sie nicht minder konzentriert beim Training mit Pfeil und Bogen. In Jean Paul Civeyracs Rachethriller „A Woman“ („Une femme de notre temps“) ist Juliane eine professionelle Schützin, die zur mythischen Jägerin wird. Außerdem schreibt sie als Autorin genau recherchierte Kriminalromane, „die nicht lügen“, wie es einmal heißt. Dabei beschäftigt sie sich gerade mit dem Tod ihrer jüngeren Schwester Lydia Crachet, der sie auch nach fünf Jahren immer noch schmerzlich verfolgt und bei ihr Schuldgefühle erzeugt. Zusammen mit ihrem liebevollen Mann Hugo (Johan Heldenbergh), einem Immobilienmakler, bewohnt sie ein stattliches Haus mit großem Garten vor den Toren der Stadt.
Die mächtige Zeder, die das komfortable Anwesen zu beschirmen scheint, ist allerdings krank. Und auch die Blumenbeete wirken vernachlässigt. Als Vorzeichen verletzter Gefühle bindet Civeyrac diese unheilvollen Signale ein in eine zunehmend mysteriöse Atmosphäre aus Misstrauen, schockierenden Entdeckungen und emotionalem Schmerz, was wiederum durch die Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov kongenial unterstützt wird. Juliane, die zusammen mit Hugo eine 25-jährige Tochter hat, muss schließlich erfahren, dass ihr Mann ein Doppelleben führt und sie seit langem betrügt. In einer der eindringlichsten Szenen des Films wird sie auf unmittelbare Weise Zeugin des Ehebruchs, während Hugo gegenüber seiner jüngeren Geliebten beteuert: „Juliane hat ein reines Herz. Sie ist alles, was ich nicht bin.“
Auf diesen emotionalen Schock zwischen Schmerz und Verzweiflung folgen weitere Schläge, die Juliane immer schlechter pariert. Bedrohliche Albträume mischen sich in ihre sonst so geordnete und kontrollierte Realität. Die angesehene Kommissarin verliert förmlich den Boden unter den Füßen, taucht ein in eine Parallelwelt und wird zur besessenen Jägerin. Als sie zunächst zögerlich einer fremden Frau und ihrer kleinen Tochter hilft, die von ihrem Ehemann beziehungsweise Vater misshandelt werden, überschreitet sie Grenzen. Dem französischen Regisseur dient diese spannende Episode, die sich in einem Hotelzimmer abspielt, als Spiegel für Julianes Verwandlung zur Amazone. Als Frau, die sich ebenso verzweifelt wie mutig wehrt und gegen ihr Schicksal stemmt, durchschreitet sie weite Räume, an denen schließlich auch die Natur, besonders der Wald, ihren markanten Anteil hat. Einmal heißt es, dass bei der Jagd mit Pfeil und Bogen der Jäger und das getötete Tier eins werden, gewissermaßen im Tod verbunden sind. Juliane ist eine Frau, die sich unbedingt treu bleibt.
Theater des Lebens – Valeria Bruni Tedeschis neuen Film „Forever young“
Von Anfang an sind die Grenzen zwischen Leben und Theater aufgehoben und die Übergänge fließend. In Valeria Bruni Tedeschis autobiographisch inspiriertem Film „Forever young“ („Les amandiers“) beginnt dieser permanente Austausch, der die Spielenden ebenso körperlich wie seelisch herausfordert und zur Selbstentblößung zwingt, mit einem Vorspiel. Angehende Schauspielschüler/innen bewerben sich in kurzen Spielszenen und sich daran anschließenden Motivationsgesprächen an der Schule des angesehenen Théâtre des Amandiers in Paris-Nanterre, das von Patrice Chereau (Louis Garrel) und Pierre Romans (Micha Lescot) geleitet wird. Exzessiv und exhibitionistisch zeigt sich dabei die junge Stella (Nadia Tereszkiewicz) in der Rolle von Sartres „Ehrbaren Dirne“. Danach im Gespräch sagt die offensichtlich aus wohlhabendem Elternhaus stammende Studentin, sie habe Angst, ihre Jugend zu verschwenden und fürchte sich vor dem Nichts. Eine andere Kandidatin bemerkt, dass für sie die Worte aus der Theaterliteratur als Schutzwall dienen.
Dass das Theater, um wahrhaftig zu sein, die Beglaubigung durch das Leben braucht, ist die von Chéreau mit Autorität und Strenge vertretene ästhetische Position. Die teils übergriffige Ausbeutung der Gefühle geht damit Hand in Hand. Dabei interessiert sich der fordernde Theaterregisseur, der mit den hungrigen Studentinnen und Studenten Anton Tschechows „Platonow“ einstudiert, vor allem für den Prozess der Arbeit. Chéreau will das echte Leben auf die Bühne bringen und bedient sich dafür hemmungslos der Gefühle und Erlebnisse anderer. Gleich zu Beginn heißt es einmal, auf dem Theater müsse man das Leben gegen das Schauspiel eintauschen und dabei verrückt und traurig werden.
Trotzdem ist „Les amandiers“ weder primär ein Portrait Chéreaus noch eine Reflexion über die Doppelbödigkeit des Theaters. Valeria Bruni Tedeschi, die ihren Ensemblefilm in warmen Farben und mit einer vitalen, atmenden Körnigkeit aufgenommen hat, evoziert vielmehr das künstlerische Milieu und den gesellschaftlichen Zeitgeist Mitte der 1980er Jahre sowie die leidenschaftlichen Erlebnisse ihrer junge Protagonisten. Die Liebeskämpfe und Leiden, überschwänglichen Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen spiegeln sich dabei besonders in der schwierigen Liebesbeziehung zwischen Stella und dem drogensüchtigen Etienne (Sofiane Bennacer). Während die Proben voranschreiten, in der Gruppe eine panische, nur allzu berechtigte Angst vor Aids grassiert und in den Nachrichten von der Atomreaktor-Katastrophe in Tschernobyl berichtet wird, spitzt sich deren fragiles Verhältnis unheilvoll zu. Doch Valeria Bruni Tedeschi entlässt ihr Alter Ego Stella nicht ohne einen Trost, der direkt aus der Fähigkeit zum Schauspielen kommt.
Von der heilenden Kraft der Erinnerung – Alice Winocours Film „Revoir Paris“
Der Blick über die Dächer von Paris, unterlegt mit Arvo Pärts „Fratres“, signalisiert einen Tag wie jeder andere. Das unverheiratete, kinderlose Paar Mia (Virginie Efira) und Vincent (Grégoire Colin) trifft sich kurz am Frühstückstisch, bevor jeder zu seiner Alltags- und Arbeitsroutine aufbricht. Während Vincent als Arzt in einem Krankenhaus arbeitet, übersetzt Mia beim Sender Radio France zwischen Französisch und Russisch. Dass zu Beginn des Tages ein Glas zerbricht, ist vielleicht ein schlechtes Vorzeichen. Jedenfalls wird die darauffolgende Beschreibung des Gewohnten von einer untergründigen Spannung getragen, deren Richtung zunächst unklar ist. Das ändert sich schlagartig, als Mia am Abend desselben Tages nach einem Essen mit Vincent wegen strömenden Regens im Restaurant L’Etoile d’Or Zuflucht sucht, wo sie neben vielen anderen zum Opfer eines schrecklichen Terroranschlags wird.
Alice Winocour inszeniert in ihrem emotional tief bewegenden Film „Revoir Paris“ („Paris Memories“) dieses einschneidende, lebensverändernde Ereignis als eine unglückliche Verkettung von Zufällen und minimalen Verschiebungen, die plötzlich eine existentielle Dimension erhalten. Unmerkliche Details und kurze Blickwechsel mit Restaurantbesuchern werden in Mias zukünftigem Leben zu Wegmarken der Erinnerung. Denn mehrere Monate später existiert für die schwer traumatisierte Frau in Bezug auf den brutalen Terrorakt nur ein schwarzes Loch. Während Mia von bislang vertrauten Menschen aus Verunsicherung fast wie eine Fremde behandelt wird („Ich fühle mich wie eine Attraktion.“), muss sie schmerzhaft feststellen, dass ihr gewohntes Leben nicht mehr erreichbar ist. Durch ihre extreme Erfahrung und die dadurch veränderte Perspektive wird sie zu einer Ausgeschlossenen und damit zum zweifachen Opfer.
Gegen das Vergessen und um die verstreuten Teile ihrer rudimentären Erinnerung wie ein Puzzle zusammenzusetzen, schließt sich Mia einer Gruppe anderer Versehrter an. Als Überlebende wird sie dabei nicht nur mit Schuldgefühlen konfrontiert, sondern die Erinnerungen der anderen Opfer helfen ihr, das Vergessene zu rekonstruieren. Die Leiterin dieser Ersatzfamilie und Schicksalsgemeinschaft sagt einmal, dass die Heilung einsetze, sobald die Erinnerung zurückkehre. Und an einer anderen Stelle ist davon die Rede, dass sie den Diamant im Trauma finden müsse und damit das Gute im erfahrenen Leid. Und so begegnet Mia auf ihrer Suche nach der verlorenen Erinnerung nicht nur anderen leidgeprüften Menschen und ihren nicht minder tragischen Geschichten, sondern immer wieder auch den Geistern der Getöteten.
„Revoir Paris“ ist ein sehr vielschichtiger, verzweigter Film und eine tief dringende, genau konstruierte psychologische Studie über die komplexe Verarbeitung eines Traumas. Die französische Regisseurin Alice Winocour bezieht sich dabei mit einer fiktiven Geschichte auf die Terroranschläge vom 13. November 2015 u. a. auf den Pariser Musikclub Bataclan, wo ihr jüngerer Bruder, der an jenem Abend zu den Konzertbesuchern gehörte, überlebte. In kurzen Rückblenden und Flashs, in Visionen und Erinnerungssplittern von Zeugen spiegelt Winocour die tiefe existentielle Krise ihrer Heldin und eröffnet ihr zugleich die Möglichkeit, in ein neues Leben aufzubrechen. Dabei fragt sie nicht nur nach der Wirklichkeit eines traumatischen Ereignisses und der Möglichkeit seiner Rekonstruktion, sondern auch nach den individuellen, verborgenen Geschichten hinter den offiziellen Nachrichten. Das führt die räumliche Bewegung des Films schließlich vom Zentrum zur Peripherie und eröffnet dadurch eine überraschende politische Perspektive. Heilung und Integration, so ungleich und verschieden ihre Bedingungen auch sind, werden dabei zu zwei Facetten eines möglichen neuen Lebens.
Zwischen Rausch und Exzess. Das Auge des Spektakels: Benoît Debie
Er arbeite mehr „instinktiv als intellektuell“, hat der belgische Kameramann und Bildgestalter Benoît Debie einmal gesagt. 1968 in Liège geboren, hat er sich in seiner Jugend deshalb auch mehr für Fotografie und Musik interessiert als für die verhasste Schule. Mit seinem ebenso kompromisslosen wie beharrlichen Charakter hat er trotzdem ein Filmstudium absolviert, um schließlich nach Assistenzen bei den Brüdern Dardenne, Fernseharbeiten und Werbeclips erste und zugleich markante Akzente in der Welt des Kinos zu setzen. Seine Zusammenarbeit mit den visionären Provokateuren Gaspar Noé und Harmony Korine zeigt von Anfang an seine Lust an exzessiven Bildern, visuellen Grenzüberschreitungen und überraschend neuen Perspektiven; wobei er es versteht, stilistisch variabel, ebenso in langen statischen Plansequenzen wie in dynamischen Handkamera-Bewegungen zu drehen. Stets gelingt es ihm, in seinem Umgang mit Licht und Farbe sowie im Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit eine intensive, geradezu vibrierende Sinnlichkeit zu erzeugen.
Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg widmet Benoît Debie deshalb in diesem Jahr unter dem Titel „Das Auge des Spektakels“ seine Hommage. Mit drei Filmen und einem für alle Interessierten offenen Werkstattgespräch geht es um Debies Erforschung der dunklen Seiten und irritierenden Abgründe des Menschen, die trotz aller verstörenden Eindrücke stets von einem versteckten, sanften Humanismus geleitet wird. Das zeigt sich beispielsweise in dem albtraumhaften Horrortrip, den ein Elternpaar in Fabrice du Welz‘ Psychothriller „Vinyan“ (2008) unternimmt, um im Dschungel von Myanmar nach seinem verschollenen Sohn zu suchen.
Einen visuellen Trip ganz anderer Art hat Debie für Harmony Korines „Spring Breakers“ (2012) gestaltet, dessen Struktur zwischen Rausch und Exzess oszilliert. Wie ein zirkulärer Clip oder ein Loop in Endlosschleife evoziert der lyrische Montagefilm mit seinem permanenten Wechsel der Zeitebenen das Leben der im Mittelpunkt stehenden Jugendlichen als endlose Party. Auch in Gaspar Noés romantischem Kunstporno „Love 3D“ (2015) gibt es immer wieder einen zeitlichen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit. Neben der elliptischen Erzählweise und einer auffallenden Farbdramaturgie lässt sich in Noés obsessiver, sehr freizügiger Sex-Phantasie vor allem beobachten, wie Benoît Debies Einsatz langer, statischer Einstellungen, frontaler Perspektiven und enger Bildkadrierungen auch insgesamt ihren formalästhetischen Niederschlag im Werk des französischen Regisseurs gefunden haben.
Die Schuld der Männer – Dominik Molls Film „In der Nacht des 12.“
In der Nacht des 12. Oktober 2016 wird die 21-jährige Clara Royer (Lulu Cotton-Frapier) auf dem Heimweg überfallen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Am nächsten Tag findet man ihren halb verkohlten Leichnam. Etwa zwanzig Prozent der circa 800 Mordfälle, die jedes Jahr in Frankreich geschehen, bleiben ungelöst, heißt es zu Beginn von Dominik Molls neuem Film „In der Nacht des 12.“ („La nuit du 12“), der sich auf einen wahren, ungelösten Fall bezieht. Die Autorin Pauline Guéna hat diesen neben anderen in einem Buch über Polizeiarbeit dokumentiert. Gerade der Charakter des Rätselhaften und Unaufgelösten hat wiederum den deutsch-französischen Regisseur dazu inspiriert diese Leerstelle als Beweggrund und Katalysator zu nehmen, um sie mit anderen Themen und Motiven zu besetzen. Zugleich bildet sie das Zentrum eines Unbehagens, das den Chefermittler Yohan (Bastien Bouillon) umtreibt, beunruhigt und letztlich verändert.
Von Paris in die französischen Alpen um Grenoble verlegt, zeigt der Film sehr genau und detailliert die polizeilichen Ermittlungen; zum Beispiel die Arbeit der Spurensicherung, intensive Befragungen, die Praxis der Telefonüberwachung und das Abfassen von Berichten. Die Art der Tötung lässt vielleicht Rückschlüsse auf das Motiv des Täters zu, spekulieren die Polizisten. Zugleich erzählt Moll von schwierigen Momenten, von Stress, Rückschlägen und Konflikten unter den mit dem Fall betrauten Kollegen. Seine ebenso präzise wie spannende Beobachtung des Polizeialltags steht damit in einer Traditionslinie mit Werken von Maurice Pialat („Der Bulle von Paris“), Bertrand Tavernier („Auf offener Straße“), Xavier Beauvois („Eine fatale Entscheidung“) und Arnaud Desplechin („Im Schatten von Roubaix“). Als „komischen Job“ bezeichnet einmal Yohans frustrierter, unter Eheproblemen leidender und außerdem der französischen Literatur zugeneigter Kollege Marceau (Bouli Lanners) ihr Tun: Hoffnungen werden immer wieder enttäuscht; falsche Spuren münden regelmäßig im Misserfolg.
Nicht nur die Vermischung von polizeilicher Arbeit und privaten Problemen, sondern vor allem der Fall selbst lenkt den Blick dezidiert auf die grundsätzliche Beziehung zwischen den Geschlechtern. Die männliche Dominanz sowohl bei Gewaltverbrechen als auch unter denjenigen, die diese aufklären, spiegelt sich im Mord an einer jungen Frau, die als „unkompliziertes Mädchen“ galt, sich leicht verliebte und offensichtlich viele sexuelle Beziehungen hatte; auch mit zu Gewalt neigenden „bad boys“. Der Film berührt hier ein Tabu, weil dem Opfer, das wir nur aus den Erzählungen anderer kennenlernen, von den Ermittelnden unterschwellig eine Mitschuld an seinem grausamen Schicksal gegeben wird. Doch Claras beste Freundin Nanie (Pauline Serieys) weist diese Unterstellung vehement zurück: „Clara wurde ermordet, weil sie ein Mädchen war.“ Und später heißt es einmal: „Alle Männer haben Clara umgebracht.“
Im Gewand des Polizeifilms verhandelt Dominik Moll auf eindringliche Weise gesellschaftliche Fragen und blickt dabei besonders auf die Beziehung zwischen Männern und Frauen. Vor allem aber begleitet er den Entwicklungsprozess seines ebenso schweigsamen wie melancholischen Helden, der es mit vielen Verdächtigen zu tun hat, aber keinen Täter findet. Trotzdem führt der ungelöste Fall bei ihm zu neuen Einsichten und einem anderen Blick aufs Leben. Der allein lebende Yohan, der auf einem Rennrad nachts seinen Stress auf einsamen Runden in einem Velodrom abbaut, wird schließlich den Kreis verlassen, um die Höhen jener Berge zu erklimmen, die im Tal die Sicht begrenzen.
Kultur des Tötens – Lav Diaz‘ Film „When the waves are gone“
„Man muss die Wahrheit innen suchen, nicht außen“, wird eingangs Agatha Christies fiktiver Privatdetektiv Hercule Poirot zitiert. Dann blicken wir lange in ein leeres, in körnigem Schwarzweiß aufgenommenes Klassenzimmer. Der ebenso angesehene wie gefürchtete Lieutenant Hermes Papauran (John Lloyd Cruz) unterrichtet hier, an der Polizei-Akademie von Manila, angehende Polizisten, indem er seinen reichen Erfahrungsschatz teilt. So erzählt er von einem Fall, der lange nicht gelöst werden konnte und bei dem ihm schließlich der Zufall zur Hilfe kam. Als „Glück einer Ermittlung“ bezeichnet dies Hermes, um zu sagen, dass bei der Polizeiarbeit neben Geduld und Beharrlichkeit immer auch unkontrollierbare Faktoren eine Rolle spielen. Dazu gehört auch, dass er selbst manchmal die Beherrschung verliert und Grenzen überschreitet. Als „bad cop“ wird er dann zum brutalen Rächer, dessen Gewalttätigkeit sich kaum von derjenigen anderer Gesetzesbrecher unterscheidet.
Weil die Polizei unter der Regierung des philippinischen Präsidenten Duterte selbst kriminell geworden ist und mit brutaler Härte gegen Drogenkriminalität vorgeht, heißt es in Lav Diaz‘ neuem Film „When the waves are gone“ einmal: „Die Kultur des Tötens wird langsam zum System.“ Diese illusionslose politische Diagnose bildet die Folie für einen behutsam entwickelten und mit gewohnt langem Atem erzählten Rachethriller, dessen oft dunklen Bilder von Gassen, Hotelzimmern und Hafengelände Anleihen beim Film noir nehmen. Dabei erzählt Diaz in Parallelen, mit Ellipsen und mit Geschichten, die innerhalb der Geschichten von den Figuren erzählt werden. Dadurch entstehen fiktionale Schichtungen, die Raum und Zeit erweitern, vor allem aber die erzählten Geschichten selbst allmählich vervollständigen.
So tritt in einer Parallelhandlung Hermes‘ ehemaliger Vorgesetzter und Lehrer Supremo Macabantay (Ronnie Lazaro) ins Geschehen, der zehn Jahre lang im Gefängnis saß. Nach seiner Freilassung will er sich an Hermes rächen, weil er in ihm einen Verräter sieht, und fordert ihn deshalb auf zum Duell. Supremo ist ein verhaltensgestörter „Jäger“ und widersprüchlicher Ex-Polizist, der als eine Art Missionar wiederholt Menschen durch Taufe bekehrt und sich zugleich tanzend im Rotlichtmilieu bewegt. Lav Diaz fängt diese und andere Szenen in atmosphärisch dichten Bildern ein. Manchmal scheint es, als würden die Figuren mit ihrer Umgebung verschmelzen.
Noch stärker wirkt diese visuelle Symbiose in den Passagen, die im lichten Tropenwald und am Meer spielen. Der traumatisierte Hermes kehrt im Kampf mit sich und seiner Angst an seinen Heimatort zurück, um eine starke Schuppenflechte zu kurieren, die er als „Krankheit der Seele“ bezeichnet. Aber er ist nicht willkommen. Und so folgt, während die Spannung steigt, seine abschließende Begegnung mit Supremo im Dunkel des nächtlichen Hafens einer geradezu ausweglosen, selbstmörderischen Logik; als könnten die beiden Protagonisten ihrem Schicksal und damit dem System, das sie hervorgebracht hat, nicht entgehen.
Die Preisverleihung des 71. IFFMH
Die Zwischenbilanz des Festivalleiters Sascha Keilholz anlässlich der Preisverleihung des 71. IFFMH im Heidelberger Luxor-Kino fiel erfreulich positiv aus. Nach den beiden Corona-Jahren sei das Publikum in die Lichtspielhäuser zurückgekehrt und das Abstimmungsverhalten der Zuschauer beim Publikumspreis, der in diesem Jahr an Saim Sadiqs gesellschaftskritischen Film „Joyland“ geht, lasse sich als „Gradmesser für die Qualität“ der 16 Filme im Wettbewerb verstehen. Als besondere und auch persönliche Highlights wertete Keilholz den Live-Voguing-Showcase, die integrative Kraft des Kinderfilmfestes sowie den Besuch der australischen Schauspielerin Anne-Louis Lambert, die im Rahmen der Retrospektive Peter Weirs Klassiker „Picnic at hanging Rock“ präsentierte.
Die maßgebliche Funktion des Filmfestivals, Menschen zusammenzubringen und damit ein Gespräch über gesellschaftliche und politische Themen anzustoßen, sei diesmal angesichts diverser Krisen besonders ausgeprägt gewesen. Noch unter dem Eindruck eines Panels, das sich u. a. in Anwesenheit des iranischen Filmemachers Mohsen Makhmalbaf mit der Situation und den Arbeitsbedingungen unterdrückter Künstler besonders in Afghanistan und in Iran beschäftigte, bekräftigte Sascha Keilholz die Notwendigkeit des Festivals „Flagge für die Demokratie zu zeigen“. Verstärkt wurde dieses Anliegen noch durch eine kurze politische Ansprache Makhmalbafs zur aktuellen Situation in Iran und zu den dortigen Demonstrationen. Diese seien weniger als eine Revolution, sondern vielmehr als eine „Renaissance“ zu verstehen, so der Regisseur, der von den westlichen Demokratien mehr politische Einmischung und Unterstützung für sein Land forderte.
„Ein zutiefst humaner Film, der die Grenzen des Kinos erweitert“, wurde folgerichtig mit dem International Newcomer Award für die beste Regie ausgezeichnet. „You won’t be alone“ von Goran Stolevski konfrontiere den Zuschauer „durch die Neuerzählung eines Mythos auf unerwartete Weise mit grundlegenden Fragen von Gender und Identität“. Den Rainer-Werner-Fassbinder-Preis für das beste Drehbuch sprach die Internationale Jury, der neben Makhmalbaf der Schauspieler Christoph Bach und die französische Regisseurin Antoinette Boulat angehörte, Youssef Chebbi und François-Michel Allegrini für ihren Film „Ashkal“ zu. Darin geht es um die Selbstopferung von Menschen im tunesischen Freiheitskampf nach dem Arabischen Frühling.
Gleich zwei Preise und eine lobende Erwähnung erhielt Graham Foys kanadischer Independent-Film „The Maiden“, der „das lyrische Bild einer zerbrechlichen Generation zeichnet“. Während die Jury des FIPRESCI Awards die „Vermischung von Realismus und urbaner Mystik“ des auf 16mm gedrehten Films hervorhob, beeindruckte die Junge Jury bei der Vergabe des Student Award die „feinfühlige, pure Weise“, mit der der Film „Freundschaft, Begegnung mit dem Tod und Trauerbewältigung“ thematisiere. Der Preis der Ökumenischen Jury ging schließlich an den Film „Valeria is getting married“. Die Israelin Michal Vinik erzählt darin „von einer innigen Schwesternbeziehung und einer israelisch-ukrainischen Emanzipation“.
Außerdem wurde im Rahmen des 71. IFFMH der Siegfried-Kracauer-Preis 2022 verliehen, der das Augenmerk auf die Förderung und Stärkung der Filmpublizistik richtet. Ausgezeichnet wurde der „Zeit online“-Journalist David Hugendick für seine gewitzte Kritik „Viel los da oben“, in der es um den Blockbuster „Top Gun: Maverick“ geht. Das Jahresstipendium wurde Morticia Zschiesche zuerkannt. Diese Autoren/innenförderung soll der Heidelberger Filmsoziologin dazu dienen, sich in einer Reihe von Essays, die dann im „Filmdienst“ erscheinen wird, unter dem Titel „Rückkehr zum Publikum: Das Comeback der Wanderkinos“ mit der Zukunft des Kinos zu beschäftigen.