Vor 31 Jahren erschien der zweite, abschließende Teil von Art Spiegelmans „Maus“. Der Band, in dem der New Yorker Zeichner das Leben seines Vaters während des Holocaust schildert, erregte großes Aufsehen. Er wurde als erster Comic mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. Was die öffentliche Anerkennung des Mediums betraf, war „Maus“ ein internationaler Durchbruch. Auch außerhalb von Fankreisen wurde nun anerkannt, dass es möglich ist, mit „Sprechblasenbildern“ mehr als nur Geschichten von Schlümpfen und Superhelden zu erzählen.
Heute wundert sich niemand mehr über Comics, die von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Judenverfolgung handeln. Dass sie eine künstlerische Herausforderung bedeuten, ist allerdings weiterhin so. Dies gilt erst recht, wenn eine ursprünglich für ein minderjähriges Publikum erfundene Figur plötzlich dem Eiswind der Historie ausgesetzt wird. Der französische Zeichner Émile Bravo hat dies etwa bereits in seiner außergewöhnlichen „Spirou“-Graphic Novel „Porträt eines Helden als junger Tor“ (dt. 2013) getan.
Spirou im Zweiten Weltkrieg
Der vor allem in der Version André Franquins populär gewordene rothaarige junge Mann in Pagenuniform agiert hier im Brüssel des Jahres 1939. Er verliebt sich in eine Jüdin und wird über die Arbeit in seinem Hotel Zeuge diplomatischer Verwicklungen unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Zuletzt hat Bravo nachgelegt, und zwar in ganz großem Stil. „Spirou oder: die Hoffnung“ besteht aus vier Teilen, in denen fast ein Jahrzehnt Arbeit stecken dürfte. Die fast 320 Seiten hat Bravo zunächst vorgezeichnet. Beim lange währenden Reinzeichnen kam er sich, nach eigener Aussage, manchmal vor „wie ein technischer Zeichner, der für einen Architekten arbeitet“.
Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Bravo sich grafisch weniger an Franquin orientiert als an dessen mächtigstem Konkurrenten Hergé, dem Schöpfer von „Tim und Struppi“. Dies geht so weit, dass Spirou seine Uniform ablegt und mit Knickerbocker und Mütze Tim zum Verwechseln ähnlich sieht – was im Comic von anderen Figuren wiederum amüsiert wahrgenommen wird.
„Spirou oder: die Hoffnung“ schließt nun nahtlos an „Porträt eines Helden als junger Tor“ an. Die Handlung erstreckt sich vom Januar 1940 bis in den Sommer 1945. Nach dem deutschen Überfall und der Kapitulation Belgiens verliert Spirou den Arbeitsplatz. Sein naiv-großspuriger Freund Fantasio, der von einer Karriere als Reporter träumt, tappt mit seinem Schreiben für die von den Besatzern kontrollierte Zeitung Le Soir zunächst in die Falle der Kollaboration. Dann aber engagiert er sich für den Widerstand. Mit Spirou reist er durch das Land, vorgeblich, um für Kinder ein Puppentheaterstück aufzuführen. In Wahrheit aber, um Botschaften zu schmuggeln und unauffällig bei der Rettung gefährdeter Menschen zu helfen.
Mit einer Fülle von Figuren, die teils wiederholt, teils nur in ein, zwei Szenen präsent sind, entfaltet Bravo ein Panorama des Lebens im okkupierten Belgien. Er zeigt nicht nur die Extreme von Gut und Böse, sondern die große Grauzone, die dazwischen besteht. „Spirou oder: die Hoffnung“ ist nicht die Comic-Entsprechung eines Spielfilms wie „Inglorious Basterds“; zöge man Filme zum Vergleich heran, wäre eher an Jean Renoirs „Die große Illusion“ oder Roberto Rossellinis „Paisà“ zu denken.
Es gibt keinen großen Spannungsbogen; das Episodische dominiert. Und nicht alles geht gut aus: Mit dem deutschjüdischen Maler-Ehepaar Felix Nußbaum und Felka Platek hat Bravo zwei reale Personen in den Comic integriert – trotz aller Bemühungen Spirous werden beide, wie in der historischen Wirklichkeit, deportiert und ermordet. „Spirou oder: die Hoffnung“ zeigt Tod, Folterkeller und Züge, die nach Auschwitz fahren, spart die Konzentrationslager aber aus.
Eine andere Graphic Novel, das kanadisch-israelisch-deutsche Gemeinschaftsprojekt „Aber ich lebe“, führt hingegen auch an diese Orte des größtmöglichen Grauens. Versammelt sind hier die Berichte von vier Zeitzeugen, die als unter zehnjährige Kinder den Holocaust überlebten.
Kinder im KZ und in den Verstecken
Emmie Arbel, in Holland geboren, war in Ravensbrück und Bergen-Belsen interniert. David Schaffer, aus Rumänien vertrieben, vegetierte mit seiner Familie unter größten Entbehrungen in den Wäldern Transnistriens, während ebenfalls in Holland die Brüder Nico und Rolf Kamp dank eines kleinen Unterstützernetzes von einem Versteck ins andere gereicht wurden.
„Aber ich lebe“ wurde angeregt von einer Professorin an der University of Victoria. So unterschiedlich die Schicksale der auftretenden Überlebenden, so unterschiedlich sind auch die Zeichenstile. Miriam Libicki fängt David Schaffers Erinnerungen in Aquarellbildern ein, die an kindliche oder naive Malerei erinnern. Gilad Seliktar abstrahiert stark. Er beschränkt sich auf die Farben Blau, Beige und Schwarz und lässt die Kamp-Brüder vor oft nur skizzierten Hintergründen auftreten.
Beide Beiträge sind gelungen, aber am stärksten ist doch der über Emmie Arbel, für den Barbara Yelin („Irmina“, „Der Sommer ihres Lebens“) verantwortlich ist. Erzählgegenwart und Erinnerung lässt Yelin fließend ineinander übergehen, und die ästhetisch wie moralisch überaus schwierige Aufgabe, die Höllenwelt der Lager bildlich darzustellen, meistert sie ohne einen einzigen Fehltritt.
Anderthalb Millionen jüdischer Kinder unter zwölf Jahren wurden während der Kriegsjahre ermordet. Dass nun Stimmen von Kindern, die davongekommen sind, gehört werden, heißt auch, Stimmen zu hören, die bislang kaum zu Wort gekommen sind. Dass die vier in „Aber ich lebe“ es trotz ihrer traumatischen Erfahrungen geschafft haben, ein normales Berufs- und Familienleben wie andere auch zu führen, ist eine Leistung, die man nur bewundern kann.
„Ich weiß, was ich will und was ich nicht will“, sagt Emmie Arbel im Anhang des Buchs: „Ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Was ich in den Lagern gelernt habe, hat mich gelehrt, mutig und stark zu sein, und diese Erfahrungen prägen mich bis zum heutigen Tag.“
Dieser Text erschien zuerst am 14.08.2022 in: Taz