Das Dämmern der Welt

Dschungelkrieger jenseits der Zeit
von Wolfgang Nierlin

Im Frühjahr des Jahres 1974 gelingt es dem Studenten und Abenteurer Norio Suzuki, im Dschungel der philippinischen Insel Lubang den mittlerweile 52-jährigen japanischen Soldaten Hiroo Onoda aufzuspüren. Fast dreißig Jahre lang wähnte sich dieser weiterhin im Krieg gegen die USA und hatte mit wenigen Getreuen, die über die Jahre getötet wurden oder sich ergaben, seine ihm aufgetragene militärische Mission fortgeführt. In der Rahmenhandlung von Werner Herzogs Buch „Das Dämmern der Welt“, die diese Begegnung und Onodas Kapitulation beschreibt, erscheint der drahtige, sehr kontrollierte, extrem misstrauische und von Geheimnissen umgebene Krieger als „Geist“ und perfekt getarnter „Blättermann“, der sich im Lauf der Zeit optimal an seine Umgebung angepasst hat. Er sei ein „Teil des Dschungels geworden“, imaginiert der berühmte Filmregisseur seinen Helden: „Und Onoda ist jetzt ein Tier, ein geflecktes Tier.“

Von Anfang an spürt man die Faszination, die Herzog, selbst Grenzgänger, Weltensammler und auf gewisse Weise Dschungelkrieger, für den japanischen Leutnant hegt. Nach einer persönlichen Begegnung mit Onoda im Jahre 1997 schreibt Herzog viele Jahre später dessen unglaubliche Geschichte auf, wobei sich sowohl das Gedächtnis des Chronisten als auch dasjenige des Portraitierten als unzuverlässig erweisen; was wiederum die Phantasie und Imaginationskraft des Berichterstatters beflügelt, der seine subjektive Perspektive dem Sujet anverwandelt. In einem kurzen, prägnanten Stil sowie mit einem ausgeprägten Sinn für sinnliche Details und die feuchte, elektrisch aufgeladene Atmosphäre eines sich fortwährend zersetzenden Urwalds nähert sich Herzog einem Leben außerhalb von Zeit und Geschichte, das vielleicht nur ein Traum ist, den auch der Filmemacher träumt.

In kurzen, zeitlich und geographisch datierten Kapiteln, die sich vor allem auf die ersten Nachkriegsjahre konzentrieren, rekonstruiert Werner Herzog Onodas „geheime Kriegführung“ nach dem überstürzten, ziemlich chaotischen Abzug der japanischen Truppen. Jenseits üblicher soldatischer Hierarchien und Ehrbegriffe beschreibt Herzog den Guerillakampf als eine Form der Anpassung an eine zunächst lebensfeindlich erscheinende Umwelt. Für eine perfekte Tarnung müssen Onoda und seine Gefährten „unsichtbar werden“, indem sie „von der Natur lernen“. Im Kampf ums Überleben immer in Bewegung und auf der Hut will Onoda „ein nicht greifbarer Traum werden“. Und so taucht er ein in die Zeitlosigkeit des Urwalds, dessen „unerbittliches Präsens“ in seiner Formlosigkeit die Geschichte außerhalb des Inseldaseins negiert. Deren hin und wieder aufblitzende Wirklichkeit wird von Onoda, der gegenüber Botschaften vom Ende des Krieges bis zum Schluss skeptisch bleibt, stets umgedeutet. Und so gerät der Krieg für ihn zum Traum eines „Schlafwandlers“, der die Zeit flieht und vergisst und irgendwann dann doch von ihr eingeholt wird.

Werner Herzog: „Das Dämmern der Welt“. Carl Hanser Verlag, München 2021. 128 Seiten. 19 Euro

Foto: © Carl Hanser Verlag