Nicolette Krebitz wurde 1972 in Westberlin geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Schauspielschule „Der Kreis“ wirkte sie in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen als Darstellerin mit. Darüber hinaus ist sie auch als Drehbuchautorin und Regisseurin tätig. Ihr letzter Film „Wild“ (2016) wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und kontrovers diskutiert. Mit Nicolette Krebitz sprach Marit Hofmann.
Die in Ihrem Film wegen ihres Alters mittlerweile erfolglose Schauspielerin Anna wirft männlichen Kollegen in einer Talkshow vor, das vermeintliche Kompliment, sie habe noch eine tolle Figur, sei der Versuch einer Erniedrigung. Sie selbst sagten mal: „Dieser Versuch, mich als It-Girl darzustellen, war auch ein Neutralisierungsversuch.“ Wie verändert sich der Sexismus, wenn man als Frau in der Filmbranche älter wird?
Ich glaube nicht, dass Anna allein ihres Alters wegen eine erfolglose Schauspielerin ist. Es ist eher ihr Widerstand gegen den ihr entgegengebrachten Sexismus, der sie Sympathie gekostet hat beziehungsweise zu anstrengend war für ein Geschäft, in dem es sich Männer gerne leicht machen. Ich glaube auch nicht, dass Sexismus sich verändert, umso älter man wird. Sexismus ist Sexismus. Wie gern man mit einer Schauspielerin schlafen würde, ist leider oft das einzige Kriterium, eine Frau im Kino zu beschreiben. Umso älter man wird, umso deutlicher wird es nur. Und in der Talkshow-Szene, die 20 Jahre früher spielt, also als Anna etwa 40 war, ging es gar nicht so sehr ums Älterwerden, sondern darum zu zeigen, wie anders es damals noch war. Ich erinnere mich an eine Talkshow aus meiner Kindheit, in der Prinzessin Stéphanie von Monaco ihre neue Single vorstellen wollte und man Paparazzi-Fotos von ihr am Strand einblendete, was sie so beschämte, dass sie nicht mehr frei reden konnte. Das würde heute nicht mehr passieren. Und der junge Adrian, der sich diese alte Talkshow anguckt, ist auch schon ganz anders geprägt als die beiden Herren in der Talkshow.
Hat sich seit der MeToo-Debatte etwas geändert?
Ja, schon durch die 68er und die Frauenbewegung hat sich die Welt bewegt. Und ganz einfach dadurch, dass Frauen zu einem großen Teil inzwischen berufstätig sind und erheblich zum Bruttosozialprodukt beisteuern, haben sie das Recht darauf, unsere Gesellschaft mitzugestalten.
Warum war es Ihnen gleichzeitig wichtig, die von Sophie Rois gespielte 60-jährige Anna, die eine Liebesbeziehung mit dem unter 20-jährigen „Problemschüler“ eingeht, als attraktiv und sexy zu zeigen?
In der Szene, in der Adrian sich die Fotos aus Annas Leben anguckt, sieht er sie auch in seinem Alter. Ich finde es interessant, wie sich der Blick auf jemanden ändert, wenn man sich daran erinnert, wie er aussah, als er jung war. Ich glaube, dass sich Adrians Blick auf sie dadurch befreit. Alter ist nur eine Zahl.
Eine Kritikerin wirft Ihnen vor, einen Film über eine missbräuchliche Beziehung als Liebesgeschichte zu verkaufen. Würde man die Liaison unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen nicht tatsächlich anders beurteilen?
Wenn man die Konstellation umdreht, würden wir einfach über die hunderttausend Filme sprechen, die wir alle gesehen haben und die niemand als missbräuchlich beurteilt hat.
Wobei das Machtgefälle zwischen Ihren beiden Figuren auch nicht so groß ist, beide haben unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen gemacht, und beide leiden unter Armut.
Ja, beide stehen auf ihre Weise ein Stück außerhalb der Gesellschaft und können sich vielleicht deshalb erst erkennen. Das war das Gerüst für diesen Film: Zwei Leute, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, kommen trotzdem zusammen. Gemeinsamkeiten machen eine Liebe schnell langweilig, Unterschiede feuern sie an.
Wie kam es zur Entscheidung zum Off-Kommentar, bei dem Sophie Rois aus ihrer Rolle fällt und als allwissende Erzählerin fungiert?
Die Erzählerstimme sollte zuerst von einem Mann gesprochen werden, beim Drehen kam mir die Idee, mal auszuprobieren, was passiert, wenn es Anna selber wäre, die ihre Geschichte erzählt. Dann kam es uns plötzlich so vor, als wäre es ganz falsch, wenn das ein Mann tun würde. Wir wollten die Geschichte auf keinen Fall aus der Hand geben. So erfahren wir auch viel mehr über Anna und wie sie zu dieser Liebe steht. Dass sie humor- und liebevoll auf sie zurückblickt.
Die farblich akribisch komponierten Bilder und Interieurs verleihen dem Film etwas Künstliches, fern der realen Gegenwart.
Wir haben uns am französischen Kino der 60er Jahre orientiert. Da waren die Wohnungen noch nicht so vollgestopft wie heute. Dieser leicht bühnenhafte Charme aus dieser Zeit, das Interieur und die Kostüme betreffend, hat uns inspiriert, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir alle sitzen mit einer ganzen Bibliothek an romantischen Filmen, die wir im Kopf haben, im Kino. Filme wie Luis Buñuels „Belle de Jour“, Tony Richardsons „Mademoiselle“ oder einfach Monica Vitti in den Filmen von Antonioni, folgen Mittelstandsfrauen in der Zeit der Industrialisierung auf ihrem Weg raus in die Welt – immer im perfekten Kostüm. In Filmen von heute fehlt besonders älteren Frauen, die ihrem Begehren nachgehen, meist diese Würde, sie werden diffamierend dargestellt, und oft endet ihr Aufbruch tragisch. Wir wollten dagegen unbedingt das Schöne daran herausstellen und Bilder in die Welt setzen, die diese Frauen nicht dafür bestrafen. Anna folgt ihrem Begehren – in der Liebe so wie im Erzählen von Geschichten. Wir schauen ihr dabei zu, und sie bekommt den ganzen Platz.
Woher kommt eigentlich diese diebische Freude, auf die ein nicht unerheblicher Teil der Filmgeschichte setzt, einem Gangsterpärchen dabei zuzusehen, wie es die Reichen und die Polizei austrickst?
Verbotenes zu tun, übt einen Reiz aus, und besonders wenn man den ganzen Tag im Büro arbeitet, träumt man vom Abenteuer.
In „A E I O U“ erobern die zwei sich das Leben zurück, das ihnen so lange genommen war, indem sie krasse Sachen machen und auf der Kante des Gesetzbuches balancieren. Sie erlaben sich richtig an ihrem Übermut und schöpfen daraus die Kraft, die sie brauchen, um sich diese Liebe zuzutrauen. Als Schauspielerin hat Anna ja einen riesigen Koffer an Geschichten und weiß der Polizei auch solche aufzutischen.
Für Ihren vorigen Film „Wild“ über die Liebe einer Frau zu einem Wolf mussten Sie drei Jahre einen Produzenten suchen. „A E I O U“ wirkt zugänglicher. War es diesmal leichter, einen Produzenten zu finden?
Ich habe schneller einen gefunden, aber musste (auch wegen Corona) dann doch noch drei Jahre warten, bis ich drehen konnte. Viele scheinen erwartet zu haben, dass jetzt ein noch krasserer Film von mir kommt und waren ein bisschen enttäuscht, dass ich mich nicht dem transgressiven Filmemachen für ein Arthouse-Publikum verschreibe. Der Film verbirgt eine ähnlich unmögliche und provokative Liebesgeschichte wie „Wild“, aber kommt in einem leichteren Gewand daher, weil mir selber danach war und wir alle gerade eine gute Zeit im Kino haben wollen.
„A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“: Deutschland 2022. Regie und Buch: Nicolette Krebitz. Mit: Sophie Rois, Udo Kier, Milan Herms und Nicolas Bridet. 105 Min. Start: 16.6.