Dass die Jugend eine unbeschwerte Angelegenheit sei, ein Lebensabschnitt voller Freiheit, die so später niemals wiederkehren werde, ist natürlich eine blanke Lüge, vom vermeintlich unabhängigen Leben der Erwachsenen gar nicht erst zu reden. Schlechte Coming-of-Age-Erzählungen inszenieren Jugend als melancholischen Abschied: Etwas Gutes geht vorbei, und was sich stattdessen am Horizont auftut, ist zwar ungewiss, aber deswegen nicht weniger aufregend.
Die u. a. mit dem Ignatz- und Eisner-Award, dem Printz Honor und dem Caldecott Honor für besondere Bilderbuchkunst ausgezeichnete Graphic Novel „Ein Sommer am See“ der kanadischen Cousinen Mariko und Jillian Tamaki hebt sich von solchen Mythen ab. Denn der titelgebende (und, so steht zu vermuten, letzte) Sommer am See entlässt seine beiden Hauptfiguren, die Freundinnen Rose und Windy vor allen Dingen ratlos. Alljährlich sehen sich die zwei beim Familienurlaub am Avago Beach. Aber zu den einst sorglosen Spielen am Strand treten nun neue Komponenten: Rose himmelt insgeheim den jugendlichen Drugstore-Verkäufer des kleinen Nests an, und die eineinhalb Jahre jüngere Windy spricht womöglich etwas zu oft über ihre wachsenden Brüste. Weder erwachsen noch kindlich üben sie sich in Initiationsritualen, wie sie diese neue Parallelwelt zu verlangen scheint: Man trainiert die diffuse Furcht in den eigenen vier Ferienhauswänden beim Schauen von Splatterklassikern wie „Texas Chainsaw Massacre“ oder „Freitag der 13.“ und versucht sie draußen in der Begegnung mit Gleichaltrigen durch leidlich ausgestellte Coolness zu überspielen.
Die Rechnung geht jedoch nicht auf. Langsam dämmert Rose, dass der Kioskschwarm in einem ausgesprochen tristen White-Trash-Dasein versackt ist, und auch ihren Eltern hilft das Naturidyll nicht mehr, um an der Illusion einer intakten Ehe festzuhalten, seit die Mutter nach einer Fehlgeburt an Depressionen leidet. Eine zunächst beiläufige Passage wie die, in der der Vater auf der Anreise seine Familie im Auto mit der Metalmusik von Rush malträtiert, wirkt rückblickend wie sein hilfloser Versuch, jene Jugendphase nostalgisch zu konservieren, der Tochter Rose wiederum gerade entgleitet. Und das ist eben nicht immer aufregend, sondern oft ein schmerzhafter Wandel: Die Krise der Eltern wird plötzlich manifest; der Körper verändert sich zum Träger sexueller Merkmale und wird anders angeschaut; aus albernen Spielen werden peinliche Angelegenheiten.
Mariko und Jillian Tamaki gewähren den beiden Mädchen viele Momente der Flucht. Sie bewahren sich ihre Ausgelassenheit, lästern über die Dorfjugendlichen, scherzen über Zukunftspläne. Und trotzdem: Wenn Rose und Windy auf prächtigen, in sanftem Blau gestalteten Doppelseiten den Wald erkunden, die eine links, die andere rechts positioniert, kündigt sich in dieser Distanz bereits ihre gegenseitige Entfremdung an. Hinter den beschwingten Zeichnungen, jeder unscheinbaren Geste lauert stets die Falle des Erwachsenwerdens. Und was aus der Welt der Erwachsenen in Roses und Windys Leben dringt, hat mit Glück und Freiheit nicht viel gemein. Da wollen die Tamakis weder ihnen noch uns falsche Hoffnungen machen.