Barzakh

(FIN 2011; Regie: Mantas Kvedaravicius)

In der Nicht-Welt

Das Bild einer einsamen Frau, das im Regen verschwimmt. Ihre Klagen verwischen, verlaufen wie die Farben, die Landschaft, der Mensch. Mit dieser Einstellung beginnt Mantas Kvedaravicius’ Dokumentarfilm „Barzakh“. Ein Mensch, der das Verschwinden betrauert: Der Sohn wurde entführt, er wird wohl nie wiederkommen.

Das von Krieg und Folter gezeichnete Tschetschenien ist der Ort der Handlung dieses eindrucksvollen Films: Städte, in denen Moscheen neben Foltergefängnissen stehen und in denen Auskünfte über den Verbleib von Menschen weniger glaubwürdig sind als die Voraussagen von Wahrsagerinnen.

Der 35-jährige litauische Regisseur, der derzeit in Cambridge studiert, besuchte für seinen ersten Film Angehörige von Verschwundenen. Von Beamten soll der junge Verwandte abgeführt worden sein, ganz offiziell, das haben Zeugen beobachtet. Dennoch kennt niemand seinen Aufenthaltsort.

Die Menschen berichten von unerhörten Vorgängen. Mit seinem Kamerateam besuchte Kvedaravicius auch ehemalige Gefängnisse. Dabei gelingen ihm einige der härtesten Bilder: Etwa wenn die ehemaligen Häftlinge ins Bild rücken und davon erzählen, was dort geschehen ist. Ihnen allen fehlen die Ohren – weil sie im Gewahrsam abgeschnitten wurden.

Von einem besonderen Platz an der Grenze der Welt handelt dieser Film. Sein Name gibt den Titel vor: „Barzakh“. Einer alten Sufi-Legende zufolge liegt er zwischen Leben und Tod, ist eine Nichtwelt. Wer hier landet, gehört weder zu den Lebenden noch zu den Toten.

„Barzakh“, gerade einmal eine Stunde lang, setzte auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen vom 10. bis zum 20. Februar in der Sparte Panorama Maßstäbe im Kino der Menschenrechte. Wie seine Protagonisten zwischen Leben und Tod feststecken, so wandelt auch der Film auf den Grenzen des Genres. Diese Kunst der Darstellung beeindruckte auch die Amnesty-Filmjury – Schauspielerin Juliane Köhler, Regisseur Hans-Christian Schmid und Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke –, die den diesjährigen Preis an „Barzakh“ vergab: „Der Film zeigt eindringlich die lähmende Ungewissheit und den Schmerz der Wartenden, deren Leben stillsteht“, begründete die Jury ihre Entscheidung.

„‚Barzakh‘ dokumentiert nicht, der Film beobachtet nicht aus der Distanz – sondern er schafft Nähe. Wer diesen Film sieht, ist in Tschetschenien. Der Regisseur nimmt die Zuschauer mit in das Dorf, in das Leben und in die Seelen der Menschen.“
Durch den mit 5.000 Euro dotierten Preis will Amnesty International die Aufmerksamkeit von Fachleuten und Publikum auf das Thema Menschenrechte lenken und Filmemacher dazu ermutigen, sich dieses Themas verstärkt anzunehmen.
15 Filme waren dieses Jahr nominiert. Darunter so schöne Werke wie der spanische „Tambien la Iluvia“ von Icíar Bollaín. Er handelt vom Wasserkrieg in Bolivien im Jahr 2000 bzw. 2005. Ein gelungener Film über den Kampf um die Privatisierung der Grundversorgung in Südamerika.

In der Auswahl stand natürlich auch der Wettbewerbssieger „Nader und Simin: Die Trennung“ aus dem Iran – nicht nur ein brillanter Film, sondern auch einer mit besonderer politischer Brisanz, dadurch, dass Jafar Panahi, Kollege des Regisseurs Asghar Fahadi, in der Hauptjury der Berlinale sitzen sollte, jedoch nicht aus seinem Heimatland ausreisen konnte. Ihm drohen nach einem Gerichtsverfahren sechs Jahre Haft und 20 Jahre Berufsverbot. Seit dem vergangenen Jahr stand Panahi im Mittelpunkt mehrerer Amnesty-Initiativen und Urgent Actions. Auch der iranische Filmemacher Mohammed Rasulof ist derzeit von Gefängnis bedroht. Der Vorwurf lautet: „Propaganda gegen das System.“ Beide Künstler hatten sich offen auf die Seite der Opposition gestellt. Fahadi erklärte sich mit ihnen solidarisch. Sein Film bekam nicht weniger als drei Bären, die offiziellen Auszeichnungen der Berlinale – die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war gegeben.

Wie diskutierte angesichts der politischen Großwetterlage die Amnesty-Jury? „Unsere Entscheidung stand schnell fest“, sagt Juliane Köhler dem Amnesty Journal. „Wir haben uns bewusst für einen ‚kleineren‘ Film entschieden – um jenen zu helfen, die nicht so viel Unterstützung bekommen.“

Auch der künstlerische Anspruch habe die Jury überzeugt, sagt Köhler. „Barzakh“ sei ein Dokumentarfilm, der wie ein Spielfilm gemacht sei. Und dazu handelt es sich auch noch um ein Filmdebüt – zu einem Thema, das aus der Öffentlichkeit nahezu verschwunden ist, beinahe so wie die Menschen, über die der Film berichtet. Nach wie vor stellt der Amnesty-Länderbericht für Tschetschenien schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen fest: „Nach den zwei Kriegen in Tschetschenien, in deren Umfeld praktisch jede Familie der kleinen Republik im Nordkaukasus Angehörige durch willkürliche Tötungen, Folter und ‚Verschwindenlassen‘ verlor, hat sich die Lage dort nur scheinbar beruhigt.“

Wer Kritik übe, könne Opfer von Folter und Mord werden; „die Verantwortlichen gehen nach wie vor straffrei aus“. Gern sei von offizieller Seite von Normalität die Rede. Ein Zustand, der so nicht existiere.,“Ich habe nach einer Möglichkeit, einer Sprache gesucht, um die Gefühle der Menschen zu transportieren“, sagt Regisseur Kvedaravicius dem Amnesty Journal. Sich selbst sieht er gar nicht in erster Linie als Filmemacher, aber er hat offensichtlich ein gutes Auge für das Team: Als Produzenten konnte Kvedaravicius immerhin den finnischen Ausnahme-Regisseur Aki Kaurismäki gewinnen. Der Amnesty-Preis sei für die Menschen, die er zeige, eminent wichtig, sagt Kvedaravicius: „Es ist ihr Film.“

Das große Thema der diesjährigen Berlinale hieß: Beziehungen. Viele Filme spiegelten das Verhältnis der Menschen untereinander, die Veränderungen im Privaten angesichts gesellschaftlicher Transformation. Ein Aspekt, den auch Kvedaravicius’ Film aufnimmt, in ganz eigener Weise: „In Tschetschenien sind Beziehungen elementar wichtig“, sagt der Regisseur. „Von diesem Film habe ich mir erhofft, mit vielen Leuten in Beziehung zu treten. Ich habe mich dafür entschieden, einen Film zu machen, weil ich nach einer universellen Sprache gesucht habe, einer Sprache, die weltweit verständlich ist. Film ist diese Sprache.“ Nichtsdestotrotz arbeitet der Regisseur auch an einem Buch zum Thema Tschetschenien.

Wer „Barzakh“ sieht, lernt zugleich etwas über das Kino selbst. Doch ob der Film in Grosny laufen kann, ist ungewiss.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 19.05.2011 in Amnesty Journal.

Barzakh
Finnland 2011 - 59 min.
Regie: Mantas Kvedaravicius - Drehbuch: Mantas Kvedaravicius - Produktion: Aki Kaurismäki, Mantas Kvedaravicius - Bildgestaltung: Mantas Kvedaravicius - Montage: Mindaugas Galkus, Mantas Kvedaravicius, Timo Linnasalo - Verleih: Extimacy Films - Besetzung: -
IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt1813175/
Foto: © Extimacy Films