Die Männerstimme aus dem Off gibt gleich zu Beginn Rätsel auf: „Was folgt, basiert auf einer wahren Geschichte. Die wahre Geschichte basiert auf einer unwahren. Die unwahre ist eher uninspiriert.“ Die Identität dieses unzuverlässigen Erzählers bleibt bis zum Schluss im Unklaren. Er habe das Tagebuch eines Mädchens gefunden, das ihn so fasziniert, dass er es weiterführt. Tagebuch und Film erzählen von einem Hitzesommer in einem römischen Vorort wie dem, in dem die Regisseure, die Zwillinge Fabio und Damiano D’Innocenzo, aufgewachsen sind.
Was sich hinter den adretten Fassaden der bürgerlichen Einfamilienhäuser abspielt, ist auf ganz alltägliche Art grausam. In den Episoden aus verschiedenen Kleinfamilien dominieren durchgängig abstoßende Erwachsene (ihre schiefen Zähne und ihr falsches Lachen führt eine Großaufnahme vor) schweigsame Kinder; sie sexualisieren und dressieren sie nach alten patriarchalen Mustern. Da ist der Macho, der zur Masernparty lädt, als sein Sohn erkrankt, und ihm dazu Kondome aufdrängt. Da erstickt ein Kind beinah beim Grillabend im penibel gepflegten Garten und zerstört die vom Vater geplante familiäre Standardsituation. „Siehst du, was du angerichtet hast? Du hast deinen Vater traurig gemacht“, ermahnt die Mutter pflichtschuldig. Als ein Junge seinen Vater ängstlich fragt: „Ist alles okay zwischen Mama und dir?“, bezieht er Prügel. Nicht den Pubertierenden, sondern ihren Erziehungsberechtigten fehlt hier jede Impulskontrolle.
„Unser Film ist ein dunkles Märchen, das von den schlimmsten Aspekten einer Form des Kapitalismus erzählt, die weder von der Kultur noch von der Tradition her zu uns gehören, aber die wir als (provinzielle) Weltbürger meinen, irgendwie verdient zu haben“, sagen die Regisseure, die sich das Filmen selbst beibrachten und auch zusammen Gedichte veröffentlichen. „Das Zuhause – das, was man früher als Nest … bezeichnete – ist nun der Knotenpunkt von Intoleranz, Kälte und Ängsten. Ein Blick auf die Statistiken der häuslichen Morde reicht aus, um zu erkennen, dass das oft der Wahrheit entspricht.“ Die „sterilen Routinen“, in denen die Familien feststecken, und die Unfähigkeit der Eltern, zu kommunizieren und Empathie zu zeigen, sezieren die Gebrüder so, dass es wehtut.
Die wenigen Glückmomente erleben die Kinder, die insgeheim bereits an Exit-Strategien arbeiten, wenn sie sich gegenseitig nass spritzen oder ins Meer abtauchen. Das kurze Idyll im gleißenden Sonnenlicht in Zeitlupe überlagern von drohendem Sirren begleitete Nahaufnahmen von verschwitzten Körperteilen und ausschwärmenden Ameisen, die von Zersetzung und Eskalation künden.
Zwischen Erwachsenen und Kindern steht die Figur der jungen und reichlich vulgären Schwangeren Vilma, die – nun ja – ehrlicher kommuniziert. „Hey, du Spast!“ oder „Na, du Arsch“ sind ihre Begrüßungsformeln, wenn sie mit Kindern spricht. Ein Jugendlicher fragt ebenso ehrlich zurück: „Bist du wirklich sicher, dass du ein Kind willst?“
Als das Baby da ist, lassen die jungen Eltern es weinen (sicher nur ein Hund, der da jault) und malen sich eine goldene Zukunft aus, in der sie ihr Leben nun endlich ganz erwachsen auf die Reihe kriegen – bis Vilma zusammenbricht, weil sie die Lüge erkennt, die hier alle Familien leben. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.
„Ich bereue“, bilanziert unser unsicherer Erzähler, „dass ich diese düstere Geschichte erzählt habe. Fangen wir von vorn an.“ Zu spät – diese Bilder kriegt man so schnell nicht aus dem Kopf.
Diese Kritik erschien zuerst am 05.01.2022 in: ND