Journey through a body

(FR 2019; Regie: Camille Degeye)

Brüche und Bewegungen

Thomas sitzt mit gebrochenem Bein zu Hause fest. Minutenlang schauen wir dem Musiker dabei zu, wie er versucht das Beste aus der Situation zu machen, sich die Haare schneidet, isst, auf dem Bett herum lungert, Youtube-Videos schaut, telefoniert, Elektronikteile verlötet, raucht und Musik hört. Dass die Narration in diesen Szenen jede Entwicklung verweigert, ist durchaus langweilig anzuschauen, doch ist diese Langeweile nicht Ausdruck mangelnden filmischer Gestaltungswillens, sondern ihr ganzes Gegenteil. Der Film braucht diese Zeit, um Thomas’ Gefühlshaushalt auf die Zuschauer*innen zu übertragen, so schmerzlich sich sein Versuch, mit der Langeweile umzugehen, auch anfühlen mag.

Zugleich bietet die Dehnung der Zeit einen intimen Zugang zu Thomas’ Welt, denn im Grunde genommen sehen wir in dieser ersten Hälfte von “Journey through a body” der Kreativität beim Entstehen zu. Nach und nach verlässt der Film seinen festen Pfad und führt uns aus der anfänglichen Langeweile eines Tagesablaufs in einen beinahe hypnotischen Rausch. In einer etwa siebenminütigen Sequenz bewegt sich der Film von einem Telefongespräch in die Heimat über sich langsam in das Gespräch schleichende Vogelgeräusche und Bilder von Insekten im Urwald, über die sich wiederum erste Ansätze eines Ambient-Tracks legen, zu Aufnahmen von Werner Herzog im Dschungel weiter zu Thomas, der an Reglern spielt und den Song kreiert, der bereits seit Minuten zu hören ist und in den sich wiederum Herzogs Respektbekundungen zum grünen Dickicht hinter ihm mischen. Selbst die Beleuchtung in der Wohnung beginnt ein Eigenleben, wenn sie plötzlich auf den Wänden wabert und diese flüssig zu werden scheinen.

Die im Filmtitel formulierte Reise durch den Körper ist hier die Reise durch Thomas‘ Gedanken, zeigt den Weg von der Inspiration zum Ausdruck als fluide Bewegung. Thomas’ Soundcollagen verschmelzen langsam mit der bildlichen Gestaltung, die sich von den zunächst starren und sehr nahen, beinahe aufdringlichen Bildern löst und im geschlossenen Raum den geistigen öffnet und zu einer Weite gelangt, in der sich der Blick und die eigenen Gedanken nach und nach verlieren.

Daneben findet die Überlagerung, die wie selbstverständlich ins Mehrdeutige neigt auch in Thomas’ äußerer Erscheinung ihre Entsprechung. Durch das Abrasieren seiner Haare zu Beginn des Filmes und seiner Nacktheit entzieht er sich hinsichtlich seiner Identität einer eindeutigen Kategorisierung. Mit Thomas Kuratli wird der Protagonist des Filmes zudem von einem Musiker gespielt, der mit seinem Projekt „Pyrit“ nicht nur die Musik zum Film beisteuerte, sondern auch als Filmkomponist (u.a. für „Blue My Mind“ von Lisa Brühlmann) tätig ist. „Journey through a body“ versieht also auch die Schnittstelle von Fiktion und Wirklichkeit mit Frakturen. Der Filmtitel wiederum ist einem Albumtitel der Industrial-Pioniere Throbbing Gristle entlehnt, deren Musik Grenzbereiche auslotet und einen Bruch mit gewohnten Songstrukturen darstellt.

Und als wäre das eingegipste Bein nicht genug, vollzieht sich in der Mitte des Filmes ein weiterer Bruch. Eine Mitarbeiterin des Sozialamtes möchte mit Thomas einen von ihm gestellten Antrag auf staatliche Unterstützung durchgehen und auf Rechtmäßigkeit prüfen. Was folgt, ist eine 15-minütige Demütigung, in der es plötzlich um die Suche nach Eindeutigkeiten und Kategorisierungen geht. Sogleich werden Kontoauszüge verlangt, Daten und Angaben nüchtern abgeglichen, das Mietverhältnis hinterfragt, Rechnungen gesucht, blank gezogen. Das beinahe quadratische Bildformat (1,33:1), die kleinen Räume der Wohnung, die Kamera, die an Thomas klebt und die vielen Detailaufnahmen, die zu Beginn des Filmes eine unmittelbare Intimität schufen, zwingen einem mit einem Mal eine Enge auf, die sich im weiteren Verlauf in Ausweglosigkeit verwandelt. Nichts kann sich der Kraft des Raumes noch entziehen, alles steht zur Inspektion. Die Räumlichkeiten werden nun auch wortwörtlich in einem anderen Licht gesehen, da die Wohnung von Thomas plötzlich heller wirkt. Kühles Tageslicht ersetzt die schummrigen Kerzen und die orangestichigen Nachttisch- und Deckenlampen.

Mit jeder freundlich gestellten Frage der unnachgiebigen Beamtin verengt sich das Herz und türmt sich die Anspannung, die von Minute zu Minute nach einer Entladung schreit. Ihr Eindringen in Thomas’ Wohnung ist einerseits Ausdruck der immer diffuser werdende Grenze von privat und öffentlich zugunsten des Letzteren. Beide Brüche – Thomas Bein und die dramaturgische Wende in der Mitte des Filmes – verweisen andererseits auf die immer deutlicher zu Tage tretenden gesellschaftlichen Brüche und die zunehmende Kluft zwischen arm und reich. „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ So brachte es in Deutschland in der Phase der Umstrukturierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes am Ende des vergangenen Jahrtausends einmal ein Arbeitsminister auf den Punkt. Zynischer kann Politik nicht sein. Doch 15 Jahre später ist etwa ein Viertel der Menschen in diesem Land im Notfall nicht in der Lage 1000 Euro für anfallende Kosten zu bezahlen – von Altersvorsorge oder anderen Rücklagen ganz zu schweigen. Die Entsolidarisierung mit den sozial Schwächeren und jenen, die nicht vom Arbeitsmarkt und seinen begrenzt lohnstarken Berufen, profitieren, ist auf dem Tiefpunkt.

Viel wurde in den beiden großen Krisen der vergangenen zwanzig Jahre von “Systemrelevanz” gesprochen, doch gemeint war damit immer nur ein bestimmter Teil der Ökonomie. In diesem werden Banken und Konzerne lautlos gerettet, Pflegekräfte hingegen vor allem beklatscht. Zuletzt wird die Kultur mit dem Label versehen. Doch glaubhaft klingt das nie, wirkt im Gegenteil nachgeschoben. Auch, weil jede*r weiß, dass Kultur unter den gegebenen Marktlogiken nicht „systemrelevant“ ist. Der Begriff schafft Hierarchien, erzeugt Abwertung und Ausgrenzung. Doch das System, um dessen Relevanz es geht, ist die Gesellschaft, nicht die Wirtschaftsform. „Journey through a body“ setzt da ein unmissverständliches Zeichen und zeigt in seiner letzten Einstellung, wie mit dem Problem umzugehen ist.

Benotung des Films :

Ricardo Brunn
Journey through a body
Frankreich 2019 - 32 min.
Regie: Camille Degeye - Drehbuch: Camille Degeye - Produktion: Lorenzo Bianchi, Anthony Lapia - Bildgestaltung: Robin Fresson - Montage: Valentin Féron - Musik: Thomas Kuratli - Verleih: Société Acéphale (Produktion) - FSK: ohne Angaben - Besetzung: Thomas Kuratli, Laurence Hallard
IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt10415710/
Foto: © Société Acéphale, Camille Degeye