Es muss spätestens bei der Pressekonferenz zu Heinrich Breloers „Brecht“ gewesen sein, als ich mir eine veritable Tom-Schilling-Unverträglichkeit zugezogen habe. Nicht nur, weil er in dem auf der Berlinale 2019 welturaufgeführten Schmierentheater den Dichter mit Wolf Biermann verwechselt und Brechts diversen Frauen mit Bänkelgesang zur Klampfe zu Leibe rückt. Auf die Frage nach seinem Bezug zu Brecht antwortete er, sie hätten am gleichen Tag Geburtstag. Der auch im Privaten offenbar äußerst feinfühlige Künstlerdarsteller entschuldigte sein Zuspätkommen zum Pressetermin beifallheischend damit, er habe einem ohnmächtigen Obdachlosen helfen müssen, und da wäre es doch das Mindeste gewesen, ihm die eigene Jacke unter den Kopf zu legen, bis der Krankenwagen kam. Applaus von den Pressekolleg*innen.
Nun also unser Major Tom in einem Berlin-Film von Dominik Graf, noch so ein Liebling der kulturbeflissenen Deutschen – wenn sie sich schon zu einem „Tatort“ oder „Polizeiruf“ herablassen, dann bevorzugt von einem Ästheten wie Graf.
Als Erich Kästners Antititelheld Jakob Fabian darf Schilling an der Liebe, am Leben und am Werte- und Sittenverfall in den letzten Jahren der Weimarer Republik sehr vorzeigbar leiden und vor die Hunde gehen. Oh, Boy! In dieser „Geschichte eines Moralisten“ (so der Untertitel der ersten vom Verlag abgeschwächten Romanfassung von 1931) verabscheut der unbeteiligte Beobachter Fabian die Nazis, begegnet aber auch den kommunistischen Umtrieben seines Freunds Labude mit Unverständnis und überlegener Distanz – so hat es das gesamtdeutsche Publikum gern.
Mit gekonnt brüchiger Stimme deklamiert Schilling aufs bedeutsamste Original-Kästner-Sätze, die Graf ihm in den Mund legt, wenn er sich nicht gerade mit einem altersweisen Off-Erzähler behilft.
Romanverfilmungen müssten lang sein, um der Komplexität der Buchvorlage gerecht zu werden, so begründet Graf Qual die drei Stunden, in denen wir den unglücklich verliebten arbeitslosen Werbetexter beim Dahintreiben und höchst symbolträchtigen Verirren in Babelsberger Filmkulissen begleiten. Unverständlich allerdings, warum das Drehbuch dann Entscheidendes am Roman ändert. Im Film rückt die Liebesgeschichte in den Vordergrund, und die Schauspielerin Cornelia (Saskia Rosendahl darf vornehmlich hübsch und verliebt sein), für die Fabian sein slackerhaftes Unbeteiligtsein aufgibt, taucht wieder auf, nachdem sie ihn für einen einflussreichen Filmproduzentenopi sitzen gelassen hat. Doch während sie im Buch die männliche Doppelmoral verhöhnt: „Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein“, entmündigt Grafs Drehbuch sie und legt diese Kritik Fabians ebenfalls unglücklich verliebtem Akademikerfreund Labude in den Mund.
Frauenfiguren dürfen nicht vielschichtig sein und haben Grafs Empathie nicht verdient. Er leidet mit den verlassenen Männern, aber nicht mit der treulosen Femme banale. Während Cornelia zunächst eine Heilige schien und für die Karriere zur Hure wird (Wer wird denn hier gleich an me too denken? Graf jedenfalls nicht), sind alle anderen Damen Abziehbilder des Sündenpfuhls Berlin. Was man von „Berlin Babylon“ kennt und hoffentlich hasst, feiert hier feuchtfröhliche Urständ. Meret Becker muss als übergriffige Nymphomanin den feschen Fabian vor den Augen ihres alten Gatten ins Ehebett lotsen. Alles Schlampen, außer Mutti, die den armen Jungen mit Essen versorgt.
Ungemein elegant dafür, wie Graf die Zeitebenen im historischen Kinoformat verwebt – mit Split-Screen, Originalaufnahmen der 30er und allen Schikanen. Da kann es passieren, dass man plötzlich über einen Stolperstein stolpert, damit auch der oder die Letzte schnallt, dass hier gewaltig irgendwas in Richtung Gegenwart mahnt und warnt – so allgemein und unverfänglich, dass der hingerissene „Welt“-Redakteur den Film getrost „eine Parabel auf alles, was uns zur Zeit beschäftigt“, nennen kann.
Diese Kritik erschien zuerst am 09.06.2021 im Rahmen der Berlinale-Berichterstattung in: ND