Bernarda: „¿Qué pasa cuando los jailones pierden sus privilegios, pues?“
Carola: „Aparecen otros, rápidamete.“
(Bernarda: „Sag mir, was passiert, wenn die Oberklasse ihre Privilegien verliert?“
Carola: „Es werden schnell andere kommen.)
„Zona Sur“, Juan Carlos Valdivia
Prolog: Zwei Kinobesuche in Bolivien
Zwischen 2002 und 2009 habe ich insgesamt knapp zwei Jahre in Bolivien gelebt, aufgeteilt auf mehrere Aufenthalte. Ich bereiste fast alle größeren Städte und ging dabei relativ viel ins Kino. Ich erinnere mich an ein einst wohl ziemlich nobles, inzwischen aber etwas heruntergekommenes Kino am Prado, der Haupt-Flanier- und Einkaufsmeile von La Paz oder an den riesigen Multiplex am Rand von Cochabamba, der damals – in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts – noch etwas ziemlich besonderes war.
Die Filme, die ich dort sah, waren überwiegend große Hollywood-Produktionen, die ich mir wohl auch zuhause in Berlin angesehen hätte. Zweimal jedoch sah ich auch Filme, die man in Europa nur schwierig zu Gesicht bekommt, und die mich, gerade während meiner Zeit als Bolivien-Reisender, ziemlich nachhaltig beschäftigten: der eine, gesehen in einem kleinen alten Kino in La Paz, das schon in der Zeit, in der ich die Stadt weiter regelmäßig besuchte, aus dem Stadtbild verschwand – befand es sich tatsächlich, wie es meine Erinnerung will, an der Plaza Murillo, direkt gegenüber vom Parlamentsgebäude? – war eine ziemlich internationale Angelegenheit. Ein Film, dessen Titel „Bolivia“ lautete, von einem uruguayischen Regisseur in Buenos Aires inszeniert. Es war ein Film, in dem es um das Schicksal eines bolivianischen Migranten geht, der in der argentinischen Hauptstadt nach einem besseren Leben sucht – und dabei nur mehr Armut und Rassismus findet. Die einfachen, spröden Schwarzweiß-Bilder faszinierten mich, der tragische Ausgang dieses betont kleinen Films schockierte mich.
Dann viele Jahre später und zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, der für mich das Ende meiner regelmäßigen Südamerika-Reisen – aber auch von so manch anderem – bedeuten würde, sah ich im bereits erwähnten Multiplex von Cochabamba einen bolivianischen Film, der mich ebenso sehr faszinierte: „Zona Sur“ (Juan Carlos Valdivia, 2009). Wie es der Titel (der Name des Reichenviertels im Süden von La Paz) suggeriert, geht es um die Situation der oberen Mittel- und Oberschicht im Bolivien am Ende der 2000er Jahre – und somit in der Regierungszeit von Evo Morales, des ersten indigenen Präsidenten in der Geschichte eines Landes, das nach wie vor hauptsächlich von (den Nachkommen von) Indigenen bewohnt wird. (Auf die politische Situation Boliviens in der Zeit zwischen 2001 und 2009 werde ich ganz am Ende dieses Textes noch mal zu sprechen kommen.)
1. „Bolivia“ (Adrián Caetano, Argentinien 2001)
Ein kleines Fast-Food-Restaurant an einer Straßenecke irgendwo in Buenos Aires. Weil im Fenster ein Schild hängt, dass ein Koch bzw. Grillmeister gesucht wird, kommt Freddy (Freddy Waldo Flores) auf den Laden. Er ist gerade angekommen aus seiner Heimatstadt La Paz, auf der Suche nach einer Perspektive, einem besseren Leben für sich und seine Familie, die er in Bolivien zurückgelassen hat, und die er nun, wie so viele seiner Landsleute, unterstützen möchte, mit dem Geld, das er in der Fremde verdient.
15 Pesos verdient Freddy an einem Arbeitstag, der um 7 Uhr morgens beginnt und erst spät in der Nacht endet. Für zehn Pesos kann Freddy fünf Minuten lang mit seiner Familie in La Paz telefonieren. Ein Peso kostet ein Choripan, ein Chorizo-Sandwich oder ein Kaffee in einem Restaurant wie dem, in dem Freddy arbeitet. Seine Arbeitskollegin Rosa (Rosa Sánchez) – Halb-Paraguayerin und damit in einer ähnlichen Situation wie er, einmal davon abgesehen, dass ihr Chef Enrique (Enrique Liporace), seine Stammkunden, aber auch Freddy ihr unentwegt Avancen machen – empfiehlt ihm das Hotel, in dem sie selbst untergekommen ist, dort kostete jede Nacht 8 Pesos.
Während uns „Bolivia“ anhand all dieser in alltäglichen Gesprächen, ganz nebenbei genannten Zahlen klarmacht, wie rosig das neue Leben für jemanden wie Freddy aussieht (der übrigens gar nicht auf die Idee kommen würde, sich über seine Situation zu beklagen), sitzen die Stammkunden des Restaurants (überwiegend weiße Argentinier) rum. Während sie Choripanes essen, Bier trinken, Zigaretten rauchen, den Boxkampf im Fernsehen sehen und ziemlich verzweifelt auf bessere Zeiten warten, beschweren sie sich über all diejenigen mit dunklerer Haut, die aus Ländern, in denen die Verhältnisse noch schlimmer sind – Bolivien, Paraguay, Peru – viel zu leicht, so meinen sie jedenfalls, nach Argentinien kommen können, um „ihre“ Arbeitsplätze wegzunehmen und sich auf „ihre“ Kosten eine goldene Nase zu verdienen.
Die dezidiert linken Themen werden in „Bolivia“ also unmissverständlich gesetzt: Es geht um rassistische Ressentiments in einer Welt, die es vortrefflich versteht, diejenigen, die wenig haben, gegen die auszuspielen, die gar nichts haben, um patriarchale Strukturen, von denen Rosa als Frau immer noch mal anders betroffen ist als Freddy (letztlich verhält er sich ihr gegenüber ähnlich übergriffig wie die anderen männlichen Figuren – mit dem Unterschied aber, dass sie sein Begehren teilweise erwidert). Und es kommen sogar noch weitere hinzu: bspw. die US-Interventionen in Lateinamerika, wenn Freddy Rosa erzählt, dass er einst Kokabauer war, bis die „Yankees“ seine Felder niederbrannten. Oder, anhand der Geschichte eines schwulen Stammkunden des Restaurants gegen Ende des Films, der Umgang mit Homosexualität in der argentinischen Gesellschaft.
Das Gelingen des Films hängt damit zusammen, dass Caetano, der auch das Drehbuch schrieb, es schafft, für seinen Inhalt eine Form zu finden, bei der aus den politischen Zuspitzungen nicht unmittelbar dramaturgische folgen. Die einfachen, grobkörnigen 16mm-Schwarzweiß-Bilder im Bildformat 1,66:1 (das sicherlich nicht von ungefähr ans klassische europäische Autorenkino erinnert) erzählen eine Geschichte, die einerseits auf simple Gut/Böse-Zuschreibungen verzichtet, während sie andererseits so lakonisch und unaufgeregt daherkommt, dass sie klarmacht, dass das alles – die Armut, der ständige Überlebenskampf, die rassistischen Sprüche und Beleidigungen, aber auch die Polizeikontrolle auf dem nächtlichen Nachhauseweg – für Freddy (und auch, aber immer erst an zweiter Stelle: die Freddies dieser Welt) nicht großes Drama sind – sondern schlicht und ergreifend: Alltag.
Und, wie gesagt, nur weil Freddy Opfer der Verhältnisse ist (und zwar im Finale, wenn Caetano seinen Film letztlich doch dem Genre öffnet und damit auch endgültig klarmacht, dass sein Fast-Food-Restaurant auch die bonarensische Version der Pizzeria „Sal’s“ in Spike Lees „Do the Right Thing“ (1989) ist: ganz drastisch und buchstäblich), hält es ihn nicht davon ab, sich von Rosa zu nehmen, was er will, und damit auch seine Frau, die tausende Kilometer entfernt seine Kinder großzieht, zu betrügen. Und so sind auch alle anderen Figuren letztlich ambivalent: Enrique hat die sehr unangenehme Position zwischen seinen aus anderen Ländern stammenden Angestellten und der rassistischen Aggression seiner Kunden inne, und zeigt sich dabei stets gewillt, Erstere vor Letzteren zu beschützen. Dabei respektiert aber auch er das simple „Nein“ Rosas, der er anbietet, sie nach der Arbeit nachhause zu bringen, erst nach mehrmaligem Nachhaken. Und wenn er, ganz am Anfang, Freddy fragt, was er vorher in Peru so gemacht habe, spricht daraus ein anderes, subtileres Ressentiment, denn: Was macht es schon für einen Unterschied, wo genau der „Indio“ nun herkommt? Schließlich sind auch die Stammkunden Enriques, denen der Film unaufhörlich rassistische und xenophobe Diskurse in den Mund legt (die sich übrigens offenbar überall auf der Welt ziemlich ähnlich sind), nicht einfach menschenfeindliche Arschlöcher, sondern im Prinzip arme Kerle, die sich selbst mit der Situation in einem Land, das am Ende des 20. Jahrhunderts geradewegs auf eine der größten Krisen seiner Geschichte zusteuert, irgendwie und offenkundig mindestens am Rande der Illegalität, herumschlagen müssen – und dabei eben irgendwelche Bolivianer oder Paraguayerinnen brauchen, denen es noch beschissener geht und die sie für die eigene Misere verantwortlich machen können.
Wenn Ceatano in all seiner Lakonie, seinem unbedingten Willen, allen seinen Figuren mit dem gleichen Respekt und dem gleichen Verständnis zu begegnen und keine von ihnen für heilig zu erklären, überhaupt deutlich Stellung bezieht, dann ist es im Vorspann, wenn, zu den Bildern eines Fußballländerspiels, bei dem die argentinische Nationalmannschaft die bolivianische gehörig auseinandernimmt, Musik der in Bolivien ausgesprochen populären Folklore-Kombo Los Kjarkas erklingt. Genau wie während einiger Montagesequenzen später im Film.
„Bolivia“ ist keine bolivianischer Film. Es ist auch (teilweise im Widerspruch zum Titel dieses Textes) bloß implizit ein Film über Bolivien. Es geht darum, Dinge sichtbar zu machen: Bolivien ist ein Land mit neun Millionen Einwohner*innen. Etwa drei Millionen weitere Bolivianer*innen (oder ihre Nachkommen) leben irgendwo anders auf der Welt, sind geflohen vor der Perspektivlosigkeit in einem der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre. Für die Ärmsten von ihnen (also diejenigen, die nicht zu einer – oft ziemlich prekären – Mittelschicht gehören, sondern eher vom Land oder aus den Armutsvierteln der großen Städte stammen) sind wohl allein die Preise, die ein Flug nach Europa oder Nordamerika kosten würde, eine utopische Summe. Viele von ihnen, insgesamt weit über eine Million, gingen und gehen nach Argentinien, allein die bolivianische Population in Buenos Aires ist ähnlich groß wie die der größten Städte im Land selbst.
Adrián Caetano hat aus der privilegierten Position der Kulturindustrie der insgesamt wohlhabenderen und eher westlich geprägten Staaten Uruguay und Argentinien einen Film über das zwar fiktive, aber doch sicherlich nah an der Realität geschriebene Schicksal eines dieser unzähligen Migranten gemacht. Es geht ihm darum, kulturelle Ungleichheiten und ihre (teilweise tödlichen) Folgen aufzuzeigen, sich mit der Geschichte eines Menschen aus einem Land zu befassen, das beständig verliert und verloren hat: bei der Kolonialgeschichte und auf dem Fußballplatz – wozu auch gehört, dass sein Kino und seine (Populär)Kultur (anders als etwa die Argentiniens oder auch Mexikos oder Brasiliens, die den ganzen Subkontinent bspw. mit Pop-Musik und Telenovelas versorgen, und deren Kino immer mal wieder für Aufsehen sorgt im westlichen festival circuit) außerhalb der Landesgrenzen keinerlei nennenswerte Bedeutung hat. „Bolivia“ ist ein ziemlich desillusionierter Film, der sich keinerlei Illusionen hingibt, dass sich das, wovon er erzählt, und was Ergebnis sowohl kapitalistischen Wirtschaftens als auch von Jahrhunderten kolonialistischer Plünderung ist, sonderlich schnell oder einfach ändern ließe. Aber man kann die Geschichte von Freddy erzählen und dazu die Kjarkas spielen. Und das ist sicherlich mehr als nichts.
2. „Zona Sur“ (Juan Carlos Valdivia, 2009)
Die Gemeinsamkeiten, die „Zona Sur“ geeignet erscheinen lassen, ihn zur zweiten Hälfte einer Klammer des Kinos über Bolivien in den 2000ern zu machen, liegen zunächst einmal auf der Hand: Hier wie dort wird eine kleine Geschichte erzählt, die aber ein deutliches Bewusstsein ihrer großen politischen Implikationen hat. Hier wie dort spielt sich diese Geschichte überwiegend an einem einzigen, klar begrenzten und umrissenen Ort ab, der beide Filmemacher offensichtlich auch in seiner Funktion als Soziotop interessiert (allerdings ist Valdivias Film dabei sogar noch radikaler als Caetanos: Der Schauplatz des Einfamilienhauses mit Garten im wohlhabenden Süden von La Paz wird eigentlich nur in einer einzigen, aber darum in ihrer kontrastiven Wirkung umso wichtigeren Szene verlassen – dazu später mehr). Hier wie dort wird der Herausforderung eines merklich winzigen Budgets mit einem so klaren wie gekonnt umgesetzten ästhetischen Konzept begegnet.
Wo aber „Bolivia“ sich mit seiner Diaspora-Geschichte den sozialen Realitäten des Landes aus der Fremde, deutlich von außen her nähert, sind wir in „Zona Sur“ gleich mittendrin – im Eigenheim einer wohlhabenden Familie im südlichsten und niedrigst gelegenen Teil der Metropole La Paz, jener Zona Sur also, die sich schon aufgrund des im Vergleich zu anderen Stadtteilen, die teilweise mehrere hundert Meter höher liegen, wesentlich milderen Klimas den besser Betuchten empfiehlt, aber damit zugleich auch in den sozialen Realitäten (und ausdrücklich nicht nur denen der Oberschicht) eines Landes, das sich, drei Jahre nachdem Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten in seiner gesamten Geschichte gewählt wurde, offenbar inmitten tiefgreifender sozialer Umwälzungen befand.
Dieses Eigenheim ist zunächst einmal einfach ein sehr spezifischer sozialer und kultureller Ort: nicht einfach Bolivien, nicht bloß La Paz, sondern eben: die Zona Sur. Davon künden die Physiognomie und Hautfarbe sowie die Sprache der Mutter Carola (Niñon de Castilla), die hier mit ihrem kleinen Sohn Andres (Nicolás Fernández), ihrer lesbischen Teenager-Tochter Bernarda (Mariana Vargas) und ihrem Teenager-Sohn Patricio (Juan Pablo Koria), bei dem – bzw. hauptsächlich: in dessen Bett – seine neue Freundin Carolina (Luisa De Urioste) Dauergast ist. Aber auch, als absolutes Kontrastprogramm, die der beiden Hausangestellten, Wilson (Pascual Loayza) und Marcelina (Viviana Condori), die in dem Film keineswegs bloße Anhängsel sind, sondern, im Gegenteil, Figuren, deren Schicksale und Probleme der Film kein bisschen weniger ernst nimmt als die ihrer weißen Vorgesetzten.
Juan Carlos Valdivia ist inzwischen eine Art Veteran des bolivianischen Kino, sein Debüt „Jonás y la ballena rosada“ („Jonas und der rosa Wal“, 1995), ein queerer Erotik-Thriller, realisiert mit einem Budget, wie man es in Bolivien nur durch internationale Geldgeber zusammenbekommt, setzte in Sachen Professionalität Maßstäbe und gilt heute als moderner Klassiker des cine nacional. Der entscheidende inszenatorische Coup in „Zona Sur“ ist die Art, wie er es versteht, seinen Schauplatz so in Szene zu setzen, dass er zu einer eigenen hermetischen in sich geschlossenen Welt wird. Mit den Machtverhältnissen, die draußen herrschen – im Bezirk, der Stadt, dem Land – steht dieser Ort zwar in ständiger Beziehung, entscheidend dabei ist aber, dass er auch ganz eigenen Gesetzen zu folgen scheint. Etwa was die Beziehung der Doña zu ihren Angestellten anbelangt, die längst nicht mehr nur eine Frage von Status oder Bequemlichkeit ist: Die beiden sind für die Hausherrin mit die wichtigsten Bezugspersonen – schließlich sind ihre älteren Kinder in einem Alter, in dem sie bald ihr Haus, wenn nicht gar das Land verlassen werden (auch in der Gesellschaftsschicht der Zona Sur ist Migration ständiges Thema, wenn auch in anderer Form als für jemanden wie Freddy in „Bolivia“).
Die Kamera ist, während sie diese kleine Welt zeigt, in beständiger, langsamer Bewegung. In einem Film, der einen melancholischen Blick auf eine Welt im Wandel wirft, scheint dadurch beständig alles zu fließen. Statt fester Perspektiven oder Standpunkte gibt es beständige Verschiebungen. Gleich zu Beginn beschreibt die Kamera zwei 360°-Drehungen: eine in der Einfahrt und dem Garten, die andere im Esszimmer, das der soziale Lebensmittelpunkt der Familie, aber auch der Interaktion mit den Angestellten ist. Es sind die Bewegungen der Kamera und die Kadrierung, die die Beziehung der Figuren und ihrer Umwelt bestimmen. Zwei Arten der Einstellung, die sich immer wieder wiederholen: lange, sehr stille und deutlich einem magischen Realismus verpflichtete Bilder, die die Figuren zeigen, während sie aus den Fenstern des Hauses gucken, das wie ein verwunschenes, verwinkeltes Schloss wirkt, mit Blicken, die eine Sehnsucht artikulieren, die in Worte zu fassen ihnen verwehrt bleiben muss. Oder aber der kleine Andres, der mit seinem imaginären Freund, der Engelsflügel trägt und auf den Namen Spielberg hört, auf dem Ziegeldach des Hauses sitzt. Wenn die Kamera dabei mit diffusen Schwenks immer wieder für kurze Augenblicke den Blick öffnet auf Teile der Stadt, die umliegenden Appartementhäuser und bebauten Hügel oder die imposanten Felsformationen, die die Landschaft am und um den südlichen Stadtrand bestimmen, sind das letztlich die einzigen Momente, in denen wir wirklich sehen, dass es außerhalb des Soziotops, von dem der Film handelt, überhaupt noch irgendetwas anderes gibt.
Währenddessen sind im Haus Patricio und Carolina damit beschäftigt, rumzualbern, sich im Bett hin und her zu wälzen, zu vögeln, sich dabei zu filmen oder sich die Aufnahmen anzusehen. Bernarda streitet sich mit ihrer Mutter genauso leidenschaftlich wie mit ihrer Freundin Erika (Glena Rodríguez). Und schon daran zeigt sich, wie sehr sie ihre Mutter liebt – trotz der ständigen Beteuerungen, dass sie sie nicht verstehe und man nicht mit ihr reden könne. Valdivia, der den Film auch geschrieben hat, legt seinen Figuren immer wieder deutlich zeitgenössische akademische Diskurse in den Mund, etwa über den Zusammenhang von Klassismus und Rassismus, darüber, was kommen mag, wenn die „jailones“, die Reichen, die wohlhabenden Nachfolger*innen der einstigen Kolonialelite, endgültig ihre Privilegien verloren haben werden – oder aber über das „bolivianische Matriarchat“.
Aber weder sind die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten, ihren Träumen, Ängsten und Sehnsüchten so angelegt, dass sie sich zu reinen Theorie-Trägerinnen degradieren ließen. Noch ist die Theorie in diesem Film etwas ihrer Lebenspraxis äußerliches. Es geht um eine Welt, in der die Frauen schon deshalb das Sagen haben, weil die Männer in aller Regel mit Abwesenheit glänzen (etwa der Mann Carolas und Vater der Kinder). Und um eine, in der die jailones nach und nach ausgewechselt werden.
Der letzte Akt wird beherrscht von zwei Bewegungen. Zunächst verlässt jemand, wenn auch nur vorübergehend, das Haus: Andres fährt heimlich mit Wilson aufs Land, in sein Dorf, zum Begräbnis seines Sohnes. Mit der Welt der ländlichen Aymara sehen wir ein anderes Bolivien, eines das komplett außerhalb des immer nur um sich selbst und die eigene Klasse kreisenden Mikrokosmos des Hauses in der Zona Sur liegt.
Und dann kommt jemand hinzu: die Comadre Remedios (Juana Chuquimia), eine Geschäftsfrau de pollera, also in der traditionellen Tracht der indigenen Frauen, die aber bei ihr aus feinstem Stoff und mit großen Edelsteinen besetzt ist. Sie hat von Carols finanzieller Notlage Wind bekommen, will ihr nun ein Angebot machen, das abzulehnen Carols monetäre Situation, die ständigen Geldsorgen ihr verbietet: Sie will das Haus kaufen. Wenn die Frau zur Unterredung einen schicken Koffer voller Dollars, eingewickelt in die typischen bunten, zur Tracht gehörenden Lastentücher, mitbringt, spielt Valdivia geschickt mit den Insignien der westlich geprägten weißen Elite einerseits und der indigenen Bevölkerung andererseits.
Mit der Fixierung des Films auf den Garten in den letzten Minuten, während drinnen im Haus gepackt wird, verbindet Valdivia die Jahrtausende alte Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies mit einem sehr aktuellen Kommentar auf das Bolivien, das La Paz, die Zona Sur des Jahres 2009. Einem Kommentar, dem, indem er alle Figuren in ihrer jeweiligen Situation bedingungslos ernst nimmt, das kaum zu überschätzende Kunststück gelingt, keine klare Stellung zu beziehen, die Ängste und Wünsche verschiedener Gesellschaftsschichten nebeneinander stehenzulassen, mit den verschiedenen Klischees vielleicht kurz zu spielen, um sie dann aber doch lieber in irgendeiner Ecke liegenzulassen. Eine filmische Lektion in Sachen Pluralismus.
Epilog: Einige Eckdaten bolivianischer Geschichte in den 2000ern
Am 26. August 2002 wird Gonzalo Sánchez de Lozada Bustamente (genannt: „Goni“) zum Präsidenten gewählt. Als Sohn einer bolivianischen Diplomatenfamilie in Chicago geboren polarisierte der Mann, der bereits von 1993-97 Präsident war, das gespaltene Land stark. Mit seinem immensen Vermögen und seinem Spanisch mit deutlichem US-Akzent war er für die ärmeren Teile der Bevölkerung und die indigene Bevölkerungsmehrheit von Anfang an eine Hassfigur.
Nach der Ankündigung eines umfangreichen Reformpakets und Sparkurses kommt es zu einem Streik der Polizei. Bei Kämpfen zwischen der Polizei und dem Militär sterben am 12. und 13. Februar 2003 über 30 Menschen, viele davon werden von Scharfschützen erschossen. Gonis Abkommen mit US-Konzernen, denen er Erdgas zu Schleuderpreisen verkaufen will, ziehen Aufstände im ganzen Land nach sich. Im „schwarzen Oktober“ 2003 sterben mindestens 60 Menschen und über 400 werden verletzt. „Goni“ wird schließlich zum Rücktritt gezwungen und flieht in die USA. Anklagen gegen ihn, u. a. wegen Völkermord, Verfassungsbruch und Veruntreuung blieben letztlich ohne Erfolg. Der Mann, der immer noch als reichster Bolivianer gehandelt wird, genießt in den USA politisches Asyl.
Nach Gonis Rücktritt übernahm der Vizepräsident Carlos Mesa das Amt des Staatsoberhaupts, das er bis 2005 inne hat. Nach einer einjährigen Amtszeit von Eduardo Rodríguez wird schließlich am 22. Januar 2006 Evo Morales Präsident. Der erste Indigene in diesem Amt behält es für 13 Jahre (in den 13 Jahren davor gab es bei einer Legislaturperiode von eigentlich vier Jahren sechs verschieden Präsidenten). Die Präsidentschaft, deren letzte Jahre überschattet werden von Wahlbetrugsvorwürfen und der Missachtung eines erfolgreichen Volksbegehren, das es ihm verbieten sollte, erneut anzutreten, endet schließlich 2019 durch einen rechten Putsch.
Von „Bolivia“ gibt es eine US-DVD. „Zona Sur“ ist als Teil der Reihe Cinespanol mit deutschen Untertiteln als DVD erschienen. Beide sind aktuell ausverkauft.