Während Sibyl (Virginie Efira) in einem Restaurant den wortreichen Erklärungen ihres Verlegers zuhört, gleiten auf einem schmalen Förderband in einer Endlosschleife fortwährend Schälchen mit verschiedenen Essensangeboten an ihnen vorüber. Der Möglichkeiten sind viele, sagt uns diese Szene. Man muss sich nur entscheiden und zugreifen. Oder wie Sibyl selbst viel später einmal sagt: „Mein Leben ist eine Fiktion. Ich kann es jederzeit neu schreiben.“ Tatsächlich will die Psychotherapeutin, die vor etlichen Jahren mit einem Roman reüssierte, ein neues Buch beginnen und dafür einen Großteil ihrer Patienten aufgeben. Bezeichnenderweise trifft sie diese Entscheidung an ihrem Geburtstag, während es regnet und der Strom in ihrer Wohnung ausgefallen ist. Ihr Neuanfang gestaltet sich also zwiespältig, zumal sie noch keine Romanidee hat. Da trifft es sich gut, dass sie von der verzweifelten Schauspielerin Margot (Adèle Exarchopoulos) angerufen und um psychologische Hilfe gebeten wird. Diese ist von ihrem Kollegen Igor (Gaspar Ulliel) im zweiten Monat schwanger und erwägt gegen dessen Willen eine Abtreibung.
Ab diesem Zeitpunkt multipliziert Justine Triet in ihrem tragikomischen Film „Sibyl – Therapie zwecklos“ die Fiktionen. Für die schriftstellernde Therapeutin wird Margots unglückliche Liebesgeschichte zur heimlichen Inspirationsquelle für ihr Romanprojekt. Mit lustvoller Neugier beutet sie die Erlebnisse ihrer Klientin für die Kunst aus. Zugleich wird Sibyl mit ihrer eigenen dunklen Vergangenheit konfrontiert, die zum Spiegelbild wird von Margots Geschichte. In assoziativen Zeitsprüngen phantasiert sie sich zurück in ihre leidenschaftliche, aber gescheiterte Beziehung mit Gabriel (Niels Schneider); sie erinnert sich an den Selbstmord ihrer Mutter, zu der sie – im Gegensatz zu ihrer Schwester – ein distanziertes Verhältnis hatte; und sie erlebt noch einmal Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern. Obwohl die zweifache Mutter ihre Sucht mittlerweile hinter sich gelassen hat, wirkt sie noch immer labil und konsultiert selbst einen Psychiater. Das ihr zugedachte musikalische Leitmotiv ist dann auch das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless chield“.
In knapp skizzierten Handlungsdetails, schnellen Szenenwechseln und einer dichten Montage spitzt Justine Triet den zunehmenden Realitäts- und Kontrollverlust ihrer Heldin allmählich zu. An einem bestimmten Punkt ihres Identitätskonflikts steht Sibyl am Kreuzungspunkt verschiedener, sich überschneidender Fiktionen. Bei Dreharbeiten auf der filmgeschichtsträchtigen Vulkaninsel Stromboli, wo die am Rande eines Nervenzusammenbruchs agierende Regisseurin Mika (Sandra Hüller) einen Film mit dem Titel „Never talk to strangers“ dreht, wird Sibyl als Mittlerin zwischen den Akteuren selbst zur Spielerin und Regisseurin in einem Geflecht aus Lügen und Manipulationen.
Im überkonstruierten, inhaltlich überladenen Konzept von Triets Film, der zudem verschiedene Tonlagen bedient, teilt sich ihr Drama allerdings nicht nachvollziehbar mit. Zu wenig entwickelt und mehr der übergeordneten Idee als der Erzähllogik verpflichtet, erscheinen die Motive in einem allzu engen Korsett gefangen. So ordnen sie sich zu einem unübersichtlichen, von losen Erzählfäden durchwirkten Dickicht aus Fiktionen. Dies zu entwirren führt vermutlich zu keiner Übersichtlichkeit zurück. Fast scheint es, als verlöre sich die französische Regisseurin so wie ihre zwischen Realität, Phantasie und Fiktion strauchelnde Protagonistin in einem Meer der Möglichkeiten.