„Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben“, schrieb Immanuel Kant in seinem berühmtesten Essay. Was das mit dem optisch hinreißenden französischen Spielfilm „Les Misérables“ zu tun hat? Indirekt jede Menge. Denn das Drama, das sich im Titel auf Victor Hugo bezieht, handelt von Ermächtigung, Macht, Ohnmacht, Unterdrückung und allem, was dazugehört: Randale und Polizeigewalt, Gangstern und Irren, Verzweifelten und Rebellen. Frauen sind kaum welche darunter, und auch das ist schon bei Kant impliziert: Die Weiber sind nicht nur einfach, sondern gleich mehrfach unterdrückt – von Gott und Staat wie jeder andere und von der Familie, sprich: dem Patriarchat, doppelt so schlimm wie jeder andere.
Insofern ist es zwar konsequent, dass in Ladj Lys Werk kaum Frauen auftauchen, doch irgendwie schade. Denn das Kino schafft Bilder und auch Vorbilder. Je mehr selbstermächtigte Weiber über die Leinwand springen, desto eher springt der Funke über. Wütend sind hier jedoch fast ausschließlich Schwanzträger: die ausgegrenzten, ärmlichen Bewohner eines Pariser Vororts, viele von ihnen rassistisch diskriminiert von der Mehrheitsgesellschaft und der Polizei. Ihre Form der Ermächtigung ist besonders hilflos und hart.
Präziser arbeiten da schon der Gangster Le Maire, die Muslim-Brüder und eine Zirkusgruppe, der eins dieser hilflosen Kids einen jungen Löwen klaut. Es kommt zum Krieg in der Vorstadt – und mittendrin agiert ein recht divers besetztes Polizeitrio. Sie stehen für Staatsmacht, aber auch für den Umstand, dass niemand, wirklich niemand der Gesellschaft entrinnen kann.
Trotz aller Hektik und eines bis ins Detail ausgearbeiteten Plots steht „Die Wütenden“ wie kaum ein Film für die alles umfassende Ohnmacht. Zum Zuschauen ideal. Denn während die Regie sonst oft das Moment des Nicht-Agieren-Könnens in bleierne Bilder kleidet, reiht sich hier Szene an Szene, Aktion an Aktion, Ausbruch an Ausbruch – und das in flirrend atmosphärischen Bildern –, sodass zumindest der Mensch im Kinosessel den Saal nicht als depressiver Ohnmächtiger verlässt, sondern als wissender. Und das ist schon eine ganze Menge.
Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 01/2020