Wolfgang Nierlin: Ihr Film „Das freiwillige Jahr“, den Sie zusammen mit Henner Winckler realisiert haben, ist eine Fernsehproduktion, die in den Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno eingeladen wurde und jetzt bundesweit im Kino startet. Wie kam es dazu?
Ulrich Köhler: Der Stoff hat verschiedene Phasen durchlaufen und sollte ursprünglich ein Kinofilm werden, für den wir aber keine Finanzierung erhielten. Später ist er wiederauferstanden als Fernsehfilm. Das Drehbuch für den geplanten Kinofilm war allerdings epischer und erzählte einen Zeitraum von zehn Jahren, der bis in Jettes Kindheit zurückreicht. Die Verdichtung auf zwei Tage ist erst entstanden, als klar war, dass wir diesen Low-Budget-Fernsehfilm machen können und aus produktionstechnischen Gründen den Stoff deshalb komprimieren müssen. Wir haben den Film dann so gedreht, wie wir auch einen Kinofilm drehen würden. Ehrlich gesagt, haben wir von Anfang an insgeheim auf eine kleine Kinoauswertung und das Interesse eines Festivals gehofft. Deshalb haben wir uns über die Einladung nach Locarno natürlich gefreut.
Gab es hinsichtlich der Ästhetik vom produzierenden Fernsehsender Vorgaben oder waren Kompromisse nötig?
Wir hatten natürlich Angst vor der Einflussnahme der Redaktion auf die künstlerische Arbeit. Es gab einen Austausch mit ihr, aber weder bei der Besetzung noch beim Schnitt gab es Vorgaben oder Uneinigkeit. Im Gegenteil: Der Film wurde sogar kürzer als vertraglich vereinbart. Wir haben dem Sender zwar auch eine längere Fassung angeboten, aber die kürzere war die bessere. Was sich zumindest für meine Verhältnisse unterschieden hat, war das Budget und die kürzere Drehzeit. Henner hat auch schon bescheidener gearbeitet. Aber ich habe bisher immer versucht, möglichst viel Geld in die Zeit zu stecken und möglichst wenig in die Teamgröße und war deshalb ziemlich verwöhnt. Beispielsweise waren es bei meinem letzten Film „In my room“ etwa 47 Drehtage.
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Ihr Film im Gegensatz zu Ihren früheren Arbeiten durch eine höhere Schnittfrequenz auch dynamischer wirkt.
Klar, der ist viel höher aufgelöst. Das erschien uns in bezug auf den verdichteten Stoff adäquater. Ein großer Teil der Handlung spielt ja in einem Auto und so war klar, dass wir viel mit Schuss-Gegenschuss und am Schauspiel orientiert arbeiten würden. Das kommt auch von Henner Wincklers Seite, der bisher nicht so plansequenziell gearbeitet hat wie ich. Und mich hat das auch interessiert. Ich muss sagen, es war in bezug auf die Verantwortung sehr entspannend. Denn beim Drehen in langen Einstellungen ist der Rhythmus vorherbestimmt und man kann im Schneideraum nicht mehr viel ändern. Mir ist klar geworden, dass der Schnitt den Dreh sehr erleichtert.
Dann wäre eine solche Arbeitsweise durchaus auch eine Option für Ihre zukünftigen Projekte?
Ich möchte unkonventionell damit umgehen. Ich glaube nach wie vor, dass es besser ist, die Perspektive innerhalb einer Szene nicht zu wechseln. Man sollte in keine Richtung dogmatisch sein. Ich finde aber auch, dass man durch den Schnitt etwas verliert, nämlich eine physische Präsenz, die bei langen Einstellungen doch sehr viel größer ist. Für mich hängt es einfach auch vom Stoff ab.
Trotzdem scheint es mir aber auch stilistische Ähnlichkeiten zu Ihren früheren Filmen zu geben. Zum Beispiel entwickelt sich die Geschichte im kaum voraussehbaren Nacheinander der erzählten Ereignisse und entfaltet dabei eine Dramatik, ohne einer konventionellen Dramaturgie zu folgen.
Über diese dynamische Spannung sind wir auch ganz froh. Sie kommt vor allem von der Figur des Vaters, der ein getriebener Mensch ist, Hektik verbreitet und damit auch den Film vorantreibt.
Den Vater empfand ich zunächst als sorgend und liebevoll, dann als zunehmend übergriffig und dominant, schließlich aber auch als ein Mensch, der unter seinem Kontrollbedürfnis und einer damit verbundenen Getriebenheit leidet. Manchmal muss er auch durchatmen, um neue Kraft zu schöpfen. War die Figur in dieser Ambivalenz geplant?
Sowohl Henner als auch ich legen Wert darauf, dass keine Figur diffamiert wird, sondern dass man immer denkt, das könnte einem selbst auch so passieren. Er hat natürlich seine Gründe so zu sein, wie er ist. Aber es gibt auch Zuschauer, die sich über die Tochter sehr aufregen, über ihr Phlegma und ihre Scheu vor Konflikten. Es war geplant, dass der Vater seine Tochter versteht, aber trotzdem nicht anders kann, als sich so zu verhalten wie er sich verhält. Das Grundmotiv dahinter ist Liebe beziehungsweise die Sorge um andere Menschen. Aber eine gute Absicht führt nicht zwangsläufig dazu, dass man anderen Menschen guttut. Diese Erkenntnis findet sich als Thema teilweise schon in meinen anderen Filmen, z. B. in „Schlafkrankheit“. Es ist sehr schwer anderen Menschen zu helfen. Sie müssen meist selbst ihren Weg aus der Krise finden.
Weshalb spielt der Film eigentlich in der Provinz?
Uns schien der Grundkonflikt des Vaters, der Angst hat, dass die Tochter hängen bleibt und die Welt nicht entdeckt, in der Provinz stärker und filmischer zu sein als in der Stadt. Für Henner und mich verbindet sich mit der Provinz außerdem unsere Jugend an der Lahn. Dass der Film in Ostwestfalen spielt, hat mit der Finanzierung durch den WDR zu tun. Außerdem hatte ich in der Region kurz zuvor den Film „In my Room“ gedreht und kannte mich deshalb dort schon aus. Auch landschaftlich ähnelt die Gegend unserer Heimat an der Lahn.
Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit Henner Winckler bei der Entwicklung des Stoffes und bei der Inszenierung?
Das ist ein ganz altes Projekt. Direkt nach „Schlafkrankheit“ sind die ersten Fassungen des Drehbuchs entstanden. Bei mir gab es den Wunsch, zu erfahren, wie es ist, wenn die Verantwortung geteilt wird. Denn die Dreharbeiten zu „Schlafkrankheit“ waren für mich eine Art traumatisches Erlebnis, weshalb ich ausprobieren wollte, ob es auch anders geht. Zumal Film sowieso ein sozialer Prozess ist, an dem viele mitwirken.
Und die ästhetischen Vorlieben von Ihnen und Henner Winckler sind ähnlich?
Wir schätzen wechselseitig unsere Arbeit. Und gerade bei diesem Film sieht man auch beide Aspekte. Die Lebendigkeit des Spiels, gerade auch bei Jugendlichen, ist etwas, was man in Henners Werk findet. Und das hat mir immer gefallen. Die Zusammenarbeit beim Schreiben funktionierte gut. Wir haben dafür auch das Internet genutzt, obwohl wir nur eineinhalb Kilometer voneinander entfernt wohnen. Es gibt ein Programm, mit dem man gleichzeitig im selben Dokument arbeiten kann; was umso praktischer ist, da wir auch sehr unterschiedliche Lebensrhythmen haben.
Und wie sah das beim Drehen auf dem Set beziehungsweise beim Inszenieren aus?
Einer hielt sich mehr im Hintergrund, um auf den Monitor zu schauen und der andere hat mehr mit den Schauspielern gearbeitet. Wir haben Szene für Szene entschieden, wer was macht. Da ich durch die zeitlichen Überschneidungen mit meinem vorhergehenden Film „In my room“ und durch die Arbeit mit dem Kameramann Patrick Orth bereits „im Training“ war“, ergab es sich, dass ich mehr „der Lautsprecher war“ und Henner analytischer drauf geschaut hat. Trotzdem hatte er in vielen Szenen mit den Jugendlichen die Regie. Der Film ist durch die Zusammenarbeit bestimmt besser geworden, als wenn wir jeweils allein gearbeitet hätten.
Der Film ist auch ein Roadmovie, dessen Dynamik aus verschiedenen Kettenreaktionen resultiert und manchmal gerade auch durch den Schnitt in einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit kulminiert.
Das war auch unser neues Konzept, mit dem wir lange Szenen verdichtet haben. Dabei wird die Situation förmlich durchbuchstabiert. Dafür haben wir ohne Dialoge geprobt und dabei zugleich neue Ideen bekommen. Es war ein Prozess, der sich sehr am Schauspiel orientierte – fast wie bei einem Theaterstück.
Wer ist eigentlich die Hauptfigur des Films? Die Perspektive wechselt ja irgendwann.
Eigentlich sollte es ein Film über zwei gleichberechtigte Figuren sein. Aber im Endeffekt ist der Vater die Hauptfigur, weil er die Handlung vorantreibt und die Tochter fast nur reagiert.
Jette wirkt unsicher und unentschlossen. Wie kann sie wissen, was sie will und zu einer Entscheidung finden, wenn sie ständig dem Druck und den Einflüssen anderer ausgesetzt ist?
Durch die Figur des alleinerziehenden Vaters und die damit verbundene enge Vater-Tochter-Beziehung hat Jette kaum eine Chance, ihren eigenen Weg aus dieser Enge heraus zu finden. Wenn zwei Eltern da wären, gäbe es zumindest zwei Meinungen. Wir hatten uns die Passivität der Figur noch extremer vorgestellt, aber dann haben wir Maj-Britt Klenke gesehen und waren beide in sie als Schauspielerin verliebt, weil sie so bei sich ist. Sie hat der Passivität der Figur eine gute Energie gegeben. Jette ist harmoniebedürftig und will es sowohl ihrem Vater als auch ihrem Freund recht machen. Sie fragt lange Zeit nicht, was sie eigentlich will. Damit ist auch die Grundidee des Films verbunden: Was würde uns als Eltern am meisten verunsichern? Wenn unser Kind etwas macht, was wir nicht so toll finden, wäre das wohl weniger destabilisierend als wenn es gar nicht weiß, was es will.