Es ist Nacht, und so leuchten die Fensterzeilen eines nachkriegsmodernistischen Hochhauses im Hintergrund wie geometrische Muster. Gedämpft ist eine Orgelmelodie zu hören. Sie wird schlagartig lauter, als wir uns mit der nächsten Einstellung in dem Zimmer befinden, in dem sie erklingt, offenbar aus dem Radio. Das Panoramafenster des Zimmers ist vom Ausblick auf ein weiteres Hochhaus erfüllt: wieder Lichtzeilenmuster in Nachtschwarz. Drinnen, vor dem Fenster, steht auf einem Glastisch dasselbe in klein: ein kleiner Kasten mit Lichtzeilenmuster, vielleicht ein Modell eines Hochhauses, wie es für Architekturpräsentationen benutzt wird. Eine junge Frau kommt ins Bild, betrachtet das Modell kurz und geht ins Zimmer ab, wobei sie sich im Fenster spiegelt. Aus dem Radio tönt eine Stimme, Französisch mit US-Akzent: „Mesdames! Utilisez Quick Cleaneur, parce que Quick Cleaneur is the be…“ Abrupt endet die Werbebotschaft, auf dem letzten Wort ein Umschnitt: Wir schauen nun von außen in den grau und asketisch möblierten Zimmerkasten, sehen die Frau, wie sie auf die Oberseite des Hochhausmodells drückt. Das lässt die Werbung verstummen und das kleine Hochhaus zum Radio werden, das wie ein Modell aussieht.
Die Szene stammt aus „Playtime“ von und mit Jacques Tati, nach mehrjähriger Drehzeit 1967 ins Kino gebracht (und gefloppt). Die Hochhausfassade ist, wie all die anderen in einem Maßstab von 1:1 bis 1:10 errichteten modernistischen Stahl-Beton-Glasbauten im Film, Teil einer zu ihrer Bestandszeit Tativille genannten Kulissenstadt nahe Paris. Tativille spiegelt Paris, in mehrfachem Sinn. „Playtime“ hat keine Handlung. Als Komödie über das moderne urbane Massenleben, die tendenziell aus diesem Leben, seinen Führungen und Bahnungen besteht, ist der Film eben das, was der verdichtete Titel sagt: ein Spiel mit der Zeit, Zeit zum Spielen – Zeit im Bild als Zeit im Spiel als Zeit im Spiegel.
Es geht um Touristinnen und Touristen, die in Paris umgehen. Die Frau in besagtem (Hotel-)Zimmer ist eine von ihnen. Zwei Tage Blitzbesuch in einem Paris, das gespiegelt wird: Alle Wände und Türen von Tativille sind Fenster, stahl- und betongerahmtes Glas. Als Leitmotiv wird in diesem Film ab und zu, stets nur als Spiegelbild, in diesem wie ein Banken- oder Industrieviertel anmutenden Paris ein Pariser Gebäudemarker sichtbar – etwa, gleich nach dem Ausschalten des Radios, der Arc de Triomphe in der Glastür des Hotels.
Das Spiegelbild ist mehr als nur ähnliches Abbild, es lässt mehr erkennen als den Umstand, dass dies Paris ist, obwohl es der Flughafen Wien-Schwechat oder Brasilia sein könnte. Das Spiegelbild lässt eine Modularität erkennen, die dem modernen Leben eignet: Ob Hochhaus oder Radio – beide sind Kästen mit Lichtzeilen, die sich ähneln. Wenn Omi und Opi von der Postmoderne erzählen, während sie ihr Weißbrot im Kaffee aufweichen, dann erwähnen sie, dass damals die Großstädte von oben betrachtet wie das Innere von Computern oder Fernsehern aussahen (oder wie die Kistenkolonie am Ende von „Citizen Kane“, doch das ist eine andere Szene).
Aber da ist nicht nur Modularität beziehungsweise Modellhaftigkeit im Spiel der Zeit, nicht nur ein Schema, aus dem Häuser und Radios in jeweiliger Größe herausgestanzt scheinen (wie Werbebotschaften, quick und clean). Sondern es geht um Modulation, um einen flexiblen Prozess; Bildwerdung ist darin Formung, Wendung, Verwendung, Verwandlung. Das Hausmodell verwandelt sich in ein Radio, dient zum Wohnen, insofern es Sound (leider auch Werbung) in die Zimmer trägt. Sound ist bei Tati immer Modulation, ist Kurve und Welle, monotones Wiederkehren von Tönen; er ist dumpfes Murmeln, wenn es um Töne aus Menschenkörpern geht, ist markantes Signal, wenn er aus den Dingen kommt. Sprache und Soundscape schmiegen sich einander an.
Und Tativille spiegelt Paris nicht nur, sondern moduliert es, lässt am Paris von 1967 eine bauliche Modernisierung hervortreten, die zeitgleich den ollen Godard empört und viel später die umgehende Banlieu-Jugend heftig beschäftigt hat (dazwischen liegt der Bau von La Défense, deren Anblick une offense ist).
Modulation heißt schließlich, dass „Playtime“ sich der worktime anschmiegt und vice versa. Noch bevor der Postfordismus die kapitalisierte Welt richtig erfasste, fand er bei Tati prägnante Bild-Formen, die erkenntnisfähig, einsichtig (und mehrschichtig) sind. Die Touristin macht sich im Zimmer für den Pariser Abendausgang fertig. In der Lobby kreuzt ihre Reisegruppe den Weg einer anderen Gruppe, die eben vom Busausflug zurückkommt: Die einen fahren die Rolltreppe hinunter zum Bus, murmeln vergnügt, die Damen tragen stolzen Blumenschmuck an ihren Hüten; die anderen schleppen sich hinauf zu den Zimmern, murmeln erschöpft („I’m going straight to bed!“, lautet einer der wenigen verständlichen Sätze des Films), die Blumen hängen welk von ihren Hüten. Es sieht aus wie Schichtwechsel in der Fabrik. Freizeit ist Arbeit, Pause ist Produktionsstandort, Amüsement ist Verlängerung der Arbeitszeit, Spaßhaben oberste Bürgerpflicht und „Playtime“ ein Pflichtfilm (also, falls wir mal Zeit haben sollten).
Dieser Text erschien zuerst in: Spex