Nach gut zweidreiviertel Stunden im Kino: „Lieber Heiner, wir sollten uns mal treffen …“ Ein Gesprächswunsch, geäußert in einem Brief der Romanistin, Übersetzerin und Walter-Benjamin-Herausgeberin Rosemarie Heise, Ehefrau des Philosophen Wolfgang Heise, Mutter des Filmemachers. Was folgt, sind O-Töne eines Gesprächs zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller über Bertolt Brecht, das „Wissen der Macht und die Machtlosigkeit des Wissens“ und die „Tragödie des Sozialismus“, das 1986 stattfand und, allerdings in stark bearbeiteter Form, 1988 publiziert wurde. Man staunt nicht schlecht, auf welchem Niveau und mit welcher Verbindlichkeit hier über Ästhetik und Politik diskutiert wird.
Der Film beginnt indes 1912, als Großvater Wilhelm Heise einen pointierten Antikriegs-Schulaufsatz verfasst, dem erst kurz vor Schluss eine patriotische Wende gelingt. Nach dem Krieg wird Heise Kommunist und heiratet Mitte der zwanziger Jahre eine Jüdin aus Wien. Regisseur Thomas Heise selbst liest die Texte aus dem umfänglichen Archiv seiner Familie, das es erlaubt, Material des sehr Privaten entlang der Schrecken und Hoffnungen des 20. Jahrhunderts auszubreiten und Resonanzen zu produzieren. Dabei illustriert die Montage nicht die Texte, sondern schafft durch Bilder von „Nichtorten“ (Marc Augé) wie S-Bahn-Stationen, Fabriken, Steinhaufen, Natur zusätzlich Raum für Reflexion auf Gehörtes. Konsequent verzichtet Heise auf Off-Kommentar, Zeitzeugen und Wochenschau-Material.
Eine beklemmende Montage gilt der Auslöschung der jüdischen Gemeinde in Wien. Während ein Briefwechsel zwischen dem Wiener und dem Berliner Teil der Heise-Familie anschaulich macht, womit „im Osten“ nicht gerechnet wurde, läuft auf der Bildebene endlose Minuten lang die Liste mit den Namen und Adressen der Deportierten, auf der schließlich auch die Wiener Verfasser der Briefe stehen. Ein sehr langer Text, gewichtig am Schluss platziert, stammt von Heiner Müller, entstanden 1992: „Auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.“
Der Film handelt vom allmählichen Verschwinden einer Utopie, einer geistesgeschichtlichen Tradition, von mangelnder Zeit und fehlendem Raum, von Zweifeln und vom Verzweifeln.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 10/2019
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