33. Il Cinema Ritrovato Festival

von Oksana Maistat


Irrfahrt durch den Kontinent der archivalischen Filme

Was treibt einen dazu, viele Tage nacheinander im Kino zu verbringen: die Bruthitze oder die ausgezeichnete Filmauswahl? Beim Il Cinema Ritrovato, das jedes Jahr im Juni in Bologna stattfindet, gibt es an beidem keinen Mangel. Das seit 1986 bestehende Festival hat sich zu einem der wichtigsten Ereignisse in der Welt des Archivkinos und der Filmrestaurierung entwickelt und in den letzten Jahren innerhalb von neun Tagen jeweils rund 400 Filme an verschiedenen Orten in der Altstadt Bolognas gezeigt, einschließlich Freiluftvorführungen für ein breites Publikum auf der riesigen Piazza Maggiore.

Neben dem Filmprogramm organisiert das Festival auch eine Buchmesse, Exkursionen sowie Gespräche mit Filmproduktions- und Restaurierungsfachleuten. Jedes Jahr erweitert sich das Programm in verschiedene Richtungen. In diesem Jahr sind 16mm-Filme hinzugekommen, die die Möglichkeit eröffnen, Independent- und Amateurfilme aus den 1930er bis 2000er Jahren auf Filmkopien zu sehen, wie es bei deren Erstaufführungen der Fall war. Zu den diesjährigen Ehrengästen gehörten Nicolas Winding Refn, der von seiner Streamingplattform byNWR, die sich der Wiederentdeckung und Restauration der vergessenen Filme widmet, und Francis Ford Coppola, dessen „Apocalypse Now – Final Cut“ in restaurierter Form (4K und Dolby Atmos) derzeit in den Kinos läuft.

Ob man Stummfilme liebt oder die Farben von Technicolor-Original-Filmkopien erleben möchte, die Filmprogramme des Festivals bieten alle diese Möglichkeiten. Man kann den Tag mit einem Film über den Bürgerkrieg in der Ukraine von 1926 beginnen, danach zu einem deutschen Nachkriegsfilm wechseln und abschließend eine Restauration von David Lynchs „Blue Velvet“ (USA 1986) genießen. Es ist ein cinephiler Genuss der Zugehörigkeit zur verschwindenden Tradition des Filmeschauens, wenn ein alter Film ein paar hundert Zuschauer gewinnt, die bereit sind, zwei oder drei Stunden schwitzend im nicht klimatisierten Kinosaal zu verbringen – ohne aufzugeben.

Abgesehen von diesen „physischen“ Herausforderungen gibt es noch andere Momente, in denen das Physische im Vordergrund stand. So bietet das Festival neben den Filmvorführungen auch ein Bildungsprogramm, bei dem man von den weltweit wichtigsten Experten über spezifische Erfahrungen mit der Restaurierung und Digitalisierung und Probleme, die daraus entstanden sind, lernen kann. Neben der Materialität des Filmmaterials hat man die Chance auch physische Eigenschaften und Eigenheiten der historischen Filmprojektion hautnah zu erleben, wenn zum Beispiel ein Filmprojektor mit Kohlebogenlampe während des Festivals für Stummfilmvorführungen in der Cineteca eingesetzt wird und dieser manchmal mehr als der Film selbst bestaunt wird. Und da ist auch das alte Kino mit dem Namen „Modernissimo“, das erst kürzlich wieder in Betrieb genommen wurde.

Il Cinema Ritrovato ist ein Atlantis des archivalischen Films. Die Programmblöcke, konzentrieren sich jeweils auf einen bestimmten Zeitraum, einen Ort oder ein Thema, das sich wiederum mit Personen ebenso wie Studios oder technologischen Entwicklungen auseinandersetzt. Der Stummfilm bildet dabei einen der Schwerpunkte des Festivals und man kann hier wie an kaum einem anderen Ort sehen, wie unterschiedlich deren Präsentation aussehen kann.

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I topi grigi

(R: Emilio Ghione; IT 1918)

Serien sind keineswegs nur ein gegenwärtiges Phänomen. Auch zum Teil des Cinema Ritrovato sind sie mittlerweile geworden, denn seit dem letzten Jahr gibt es ein Programm namens Mutiflix (als stummer Analog zu Netflix), im Rahmen dessen 100 Jahre alte Serien in Auszügen von ein oder zwei Folgen im historischen, noch nicht restaurierten unterirdischen Kino „Modernissimo“ gezeigt werden. Das Programm machte im vergangenen Jahr den Anfang mit „Wolves of Kultur“ (USA 1918) und wurde dieses Jahr mit der italienischen Serie „I topi grigi“ von Emilio Ghione fortgesetzt.

Die Einzigartigkeit des Mutiflix-Programm liegt zum einen daran, dass bisher nur nach analogen Restaurationsverfahren erstellte Filmkopien projiziert werden (heute muss man sich ja zumeist mit DCP-Restaurationen zufrieden geben). Zum anderen finden die Vorführungen in dem Kino statt, in dem genau diese Serien vor hundert Jahren gezeigt wurden. Was „I topi grigi“ betrifft, wurde die Serie sogar im „Modernissimo“ uraufgeführt. Zum Zuschauerraum muss der Stummfilmfan wie Orpheus zu seiner Eurydike hinunterkommen, da er unterirdisch gelegen ist und dank abgerissener Dekorationen entleert und unheimlich wirkt. Die abgenutzte und ein wenig abgerissene Leinwand, die seit der Schließung des Kinos im Jahr 2007 im Raum verblieben ist, als auch der hinter der Leinwand erkennbare riesige leere Raum einer abgebauten Theaterbühne, in den die Filmschatten versickert, runden den Eindruck ab.

„I topi grigi” steht im Einklang mit dem Ambiente des Ortes. In den 7 Episoden dreht sich die Geschichte um Hauptfigur Za la Mort (Emilio Ghione), der die Ruhe am Stadtrand sucht, aber dort den Jungen Leo (Alfredo Martinelli) trifft, der von der bösen Gang „Die grauen Ratten“ kidnappt wurde. Es stellt sich heraus, dass Leo von seiner geldgierigen Tante an die Gang gegeben wurde, damit das ganze Familienerbe in ihre Hände fallen konnte. Za la Mort setzt sich zum Ziel, Leo zu befreien und das Erbe für ihn zurückzugewinnen, und damit auch seine eigene alte Rechnung mit den „Ratten“ zu begleichen.

Za la Mort, „Apache“ und Abenteurer, ist das von Arsen Lupin inspirierte permanente Alter Ego von Emilio Ghione. In dieser Serie tritt er als freundlicher Charakter auf, der dem Waisenkind Leo helfen will und dadurch selbst in Schwierigkeiten gerät. Doch scheint seine Persönlichkeit in sich widersprüchlich zu sein, und seine Mimik gibt den Auftakt zu ambivalenten Interpretationen seiner Motive. Am Ende der Serie stirbt der arme Waisenjunge Leo und Za la Mort scheint nicht wirklich um ihn zu trauern, weil er durch Erpressung und Betrug an das eigentlich Leo zustehende Erbe kommt.

Za la Mort ist äußerst charismatisch und hebt sich auch unter den exzentrischen Helden der Stummfilmserien durch sein atypisches kantiges Gesicht ab, das für die Rollen des Bösewichts besser geeignet gewesen wäre. Er wendet seine ausdrucksstarken Blicke und Grimassen direkt an die Zuschauer und involviert sie somit als Komplizen seiner schlauen Einfälle und dramatischen Emotionen. Allerdings bleiben die unausgearbeiteten psychologischen Motivationen bis zum Ende unklar. Das Übermaß an Ereignissen, das typisch für die frühen Serien ist, macht es unmöglich zu entscheiden, ob Za sich für den Jungen rächen wollte, durch seinen Hass auf den Bandenführer oder sogar durch Geldgier dazu bewogen wurde. Die Mimik Ghiones arbeitet mit alldiesen Möglichkeiten. Doch genau der Eklektizismus und die Maßlosigkeit dieser Mimik macht diese Serie interessant, weil sie über das Genre selber zu reflektieren scheint und die überdramatischen Peripetien mit Ironie darzustellen.

Die Serie schließt mit einer Karnevalszene, in der es Za la Mort gelingt, den Bandenführer zu täuschen, indem er die Maske seiner Gefährtin, mit der der Bösewicht flirtet, mit seiner tauscht und dem verratenen Versteck folgt. Za la Mort findet Leos Geld und triumphiert. Diese makabre Schlussszene verweist auf die Bestimmung Films, uns unserem Leben zu entführen und uns die Vergänglichkeit vor Augen zu führen. Bei dieser Vorführung des Stummfilms im fast leeren Kinosaal, dessen Name Modernissimo ironisch unmodern klingt, kann man diese Vergänglichkeit nicht nur spüren, sondern riechen, sehen und fast berühren.

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Das Lied von der glutroten Blume

(R: Moritz Stiller; SE 1919)

Die vom Schwedischen Filminstitut durchgeführte digitale Restaurierung von „Das Lied von der glutroten Blume“ lässt den Charme von Lars Hanson, einem der „Sexsymbole“ der Stummfilmzeit mit durchdringendem Blick heller Augen, wiederaufleben. Der Film wurde von einem Meister der schwedischen Schule Moritz Stiller im selben Jahr wie dessen anderes prominentes Werk „Herr Arnes Schatz“ („Herr Arnes penningar“) gedreht und mit der dafür geschriebenen Musik von Armas Järnefelt begleitet, deren Partitur als einzige erhaltene eines schwedischen Stummfilm gilt.

Während dieser Film als Ausgangspunkt für den Starruhm Larsons gilt, zweifelt sein Held, Olof Koskela, Sohn des wohlhabenden Gutbesitzers, von Anfang an nicht eine Sekunde an seiner Attraktivität, und gewinnt jedes Mädchen. Schon in der Anfangsszene, in der er einen riesigen Baum fällt, nennt er sich „Waldlord“ und lädt ein Hirtenmädchen, das zufällig danebensteht, ein, den Thron mit ihm zu teilen. Das ist ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann. Wegen der nächsten von Olaf verführten Arbeiterin (Lillebil Ibsen), die er liebevoll „Gaselle“ nennt aber nicht heiraten darf, gerät Olof in Konflikt mit seinem Vater und ist gezwungen, sowohl den Bauernhof als auch das Mädchen zu verlassen. Die Möglichkeit, sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten entgegenzustellen ist ihm in dieser Situation, als auch in den danach folgenden wichtiger, als das Mädchen selbst.

Als armer Flößer buhlt er um die Liebe Kyllikkis (Edith Erastoff), der Tochter eines anderen reichen Grundbesitzers. Auch dabei spielt die Natur ihm in die Hände: In einer sehr spektakulären Szene, in der Olof auf einem Baumstamm die bis dahin von niemandem überwundenen Stromschnellen bezwingt, um Kyllikki für sich zu gewinnen, triumphiert der „Waldherr“ über die Natur. Als das Mädchen dies sieht, gibt sich der Leidenschaft hin. Aber auch sie darf er nicht heiraten, weil er seine Herkunft nicht offenlegen will. Deswegen verlässt er sie, drängt nach der Großstadt und trifft hier seine kleine Gaselle – jetzt Prostituierte – wieder. Er wird zum Zeugen ihres Selbstmordes und erkennt die Auswirkungen seines eigenwilligen Handelns. Am Ende dieses nach dem gleichnamigen Bildungsroman von Johannes Linnankoski gedrehten Films kehrt Olof selbstverständlich zurück zu seinem Bauernhof und heiratet die ebenbürtige Kyllikki, um den Reichtum beiden Familien zu vermehren.

Die Natur wird in diesem schwedischen Stummfilm als Landschaft der Seele inszeniert, für die eine Frau entweder eine Blume oder eine „Gazelle“ ist, jedenfalls ein zerbrechliches und willenloses Spielzeug in den Händen eines Waldlords. Die im Film gezeigte Gesellschaft lebt in engem Kontakt mit der Natur, nach fast feudalen Regeln, mit einer scharfen Kluft zwischen Grundbesitzern und armen Arbeitern. Wie es in frühen Filmen oft der Fall ist, wird diese Kluft in einer melodramatischen Handlung eingesetzt, wobei die Leidenschaften der Hauptfigur im Grenzbereich zwischen Moderne und Tradition ausgespielt werden.

Olof, der geboren wurde, um über seine Ländereien zu herrschen, ist jedoch enttäuscht, dass diese ganze traditionelle Welt nach seinem Maß angefertigt ist und all seine Wünsche erfüllt. Was ihm Macht gibt, bestimmt aber auch die Grenzen seines Handelns – die gleiche traditionelle Ordnung, die ihm die Heirat mit einer Arbeiterin verbietet, lässt ihm die Tochter die Gutsherren nicht haben, wenn er sich für einen einfachen Holzfäller ausgibt. Der Wunsch, den Normen zu widerstehen, führt ihn in eine Stadt, in der es keine Natur und keine Tugend gibt. Die untrennbare Verbindung des letzteren zeigt sich nicht nur in der Wahl der Stadt als Ort des tiefsten Absturzes der Hauptfigur, sondern auch in der Übertragung der Dreharbeiten ins Atelier, wo die Künstlichkeit des Hintergrundes auf die Spitze getrieben wird. In der Stadt hellt sich die Einstellung der schwedischen Schule zu den Atelieraufnahmen im Allgemeinen auf: die Stadt ist der tiefste Punkt seines Falls. Hier verliert Olof die Weite und damit Freiheit , die ihm die Landschaft gaben. Sowohl Olof als auch die Natur sind von Gott geschaffen und nur ihre Anwesenheit im Hintergrund bietet dem Menschen eine Chance, diese Verbindung aus der Sicht nicht zu verlieren und der Herrlichkeit der Natur zu gleichen.

In den menschengemachten Stadträumen hingegen muss seine Figur eingeengt werden, hier gibt es nicht seinesgleichen. Im Dialog mit dem Spiegel erlebt der heruntergekommene Olof eine Erkenntnis seiner Grenzen. Erst durch das Treffen mit der Arbeiterin, die sich gleich danach umbringt, versteht Olof, dass seine Grenzübergänge allen nur Leid zufügen und akzeptiert den einzig richtigen Weg: die Rückkehr zur traditionellen Lebensweise, zu seinem Heimatgut und zu einer standesgemäßen Heirat.

Foto: © Il Cinema Ritrovato Festival