Jenseits

Dort draußen lauern Gefahren
von Sven Jachmann

Märchen sind das Grauen. Nicht nur, weil sie mittels unsittlicher Methoden, der Bestrafung, zum sittsamen Verhalten erziehen wollen, sondern auch, weil sie durch die Kraft der Fantasie ein erstes Gespür dafür bereiten, dass die Welt dort draußen mit so mancher Gefahr aufwarten kann. Deswegen besteht das Figurenarsenal des Märchens aus Archetypen, deren Eigenschaften zugleich von konservativen Geistern zu zivilisatorischen Standards erhoben werden, im Guten wie im Schlechten: die bösartige Prinzessin als Zeichen ungehemmter Machtlust, die tugendhafte Magd als Zeichen moralischer Integrität, das rastlose Kind als Zeichen ungebremster Entdeckerfreude, dem indes noch die Genügsamkeit der Erwachsenen gelehrt werden muss.

Was aber passiert, wenn diese Archetypen ohne ihre erzählerische Funktion, außerhalb der Grenzen des Märchenbuchs und der Fantasie der Leser, die sie eigentlich leiten sollen, einer ihnen fremden Welt ausgesetzt sind? Dann sind wir im Comic „Jenseits“ von Kerascoet (das Pseudonym des Zeichnerduos Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) und Fabien Vehlmann angekommen.

Dort beginnt alles ganz harmlos beim verspielten Kaffeekränzchen. In niedlichsten Aquarellbildern spricht ein schüchternes Pärchen vom vergangenen Kostümball und kämpft sich zaghaft zum ersten Kuss vor, als plötzlich und unerklärlich monströse Tropfen von der Decke fallen und die Bilder wie auch die Figuren in einem düsteren Lila zu ersticken drohen. Die orientierungslose Flucht durch die überschwemmten Gänge nach draußen gelingt – und endet vor der Leiche eines jungen Mädchens, dessen Körper nun buchstäblich von den Gestalten und Fabelwesen ihrer Erinnerung verlassen wird. Wie aus einem unbrauchbar gewordenen Wirt strömen sie Parasiten gleich aus den Öffnungen des Leichnams und versuchen sich fortan in der neuen Umgebung einzurichten.

Seite aus „Jenseits“ (Reprodukt)

Erst hier beginnt die tatsächliche Drastik, die aus dem funktionslos gewordenen Zustand der archetypischen und kindlichen Identitäten erfolgt. Sie können sie nämlich nicht ablegen und gehen nun an ihrer eigenen oder der von ihnen unverstandenen Natur um sie herum zugrunde: Eine Prinzessin hat zu herrschen und kann deswegen das einäugige Mädchen lebendig begraben lassen, weil sie ein Monster ist; ein jungenhafter Abenteurer sucht die Gefahr und muss elendig verrecken, wenn sie sich als hünenhafte Wespe erweist; und der arglose Versuch einer Ballerina, es den Drosselküken gleich zu tun und sich von deren Mutter mit Insekten füttern zu lassen, endet mit geplatztem Kiefer. Adäquat zu den sich steigernden Exzessen verwest die Leiche des Mädchens im Hintergrund.

Mehr noch als eine augenscheinlich groteske „Herr der Fliegen“-Variation ist die Erzählung eine Form des zu Ende gedachten Märchens, dessen Akteure im Prinzip hier nur das schrankenlos ausleben, wofür sie geschaffen wurden, und dies mit jenem kindlichen Eifer und jener Naivität betreiben, die sonst ihren Rezipienten zu eigen sind. Das Ganze liest sich wie die Rache der schwarzen Pädagogik der Märchen. Die Figuren verstehen nichts von Gefahr, und so führen ihre Expeditionen zwar in den Tod, aber der wiederum ruft keine Läuterung hervor. Das macht die zuckersüßen Bilder, die gleichermaßen als Kinderbuchillustrationen funktionieren könnten, auf eine so schaurige Weise doppeldeutig: Wer bestraft hier wen? Der Mythos vom unschuldigen Kindsein das verkommene Weltbild der moralisch degenerierten Märchen oder umgekehrt? Rätselhaftigkeit ist nicht der schlechteste Indikator für exzellente Kunstwerke.

Dieser Text erschien zuerst am 09.01.2010 in der taz.

Fabien Vehlmann, Kerascoët: „Jenseits“.
Aus dem Französischen von Kai Wilksen.
Reprodukt, Berlin 2016. 96 Seiten, 20 Euro

Foto: © Reprodukt