Eineinhalb Stunden können lang sein. Nicht nur, wenn man in der U-Bahn feststeckt oder mit Blinddarmentzündung in der Notaufnahme wartet. Auch im Kino dauern 90 Minuten gefühlt oft mehrere Tage, meist, weil Drehbuch und Regie komplett versagt haben. Aufstehen und gehen ist die einzige Antwort darauf, einschlafen nur ein billiger Kompromiss. Es gibt Filme, die sind einfach Folter. Das gilt in gewissem Sinne auch für den zweiten Spielfilm der norwegisch-pakistanischen Regisseurin und Schauspielerin Iram Haq. In ihrem Fall aber erwachsen die Qualen nicht aus der miesen Machart und der quatschigen Geschichte, sondern aus gesellschaftlichen Realitäten, die so menschenfeindlich sind, dass sie schon schmerzen, wenn sie nur als Fiktion auf der Leinwand flimmern.
Iram Haq hat die Geschichte von „Was werden die Leute sagen“ nicht erfunden. Sie hat sie selbst erlebt. Mit 14 Jahren haben ihre Eltern sie gezwungen, eineinhalb Jahre in Pakistan zu leben. Das klingt jetzt nicht so tragisch. Viele Leute leben in Pakistan. Viele Eltern drängen ihre Kinder zu irgendwas. Haqs Erziehungsberechtigte aber haben ihre Tochter, wie die Regisseurin selbst in einem Interview erzählt, entführt. Dieses Schicksal hat die heute 42jährige zugespitzt und zu einem Drehbuch verarbeitet: Ihre Protagonistin Nisha ist 15 Jahre alt und wohnt mit ihrer pakistanischen Familie in Norwegen. In der Schule und mit ihren Freunden führt sie ein typisch nordeuropäisches Teenagerleben. Sie geht aus, sie hat einen Freund. So einfach, so langweilig. Auch zu Hause ist die Stimmung zunächst alles andere als außergewöhnlich: mal herzlich, mal streng, meist der übliche Familienirrsinn (und das ist jetzt nicht mit einem affirmativen Lächeln geschrieben, das alle Unterdrückungsmechanismen wegwischt). Die Mutter bremst und erniedrigt ihre Tochter und sich selbst immer wieder und erfüllt damit die klassische Rolle der Frau im Patriarchat, wie es sie in verschiedenen Varianten unter pakistanischen Migranten ebenso wie im deutschen Bürgertum gibt: Selbst seit frühester Kindheit als „anderes Geschlecht“ mehrfach zusammengestaucht, auf Anstand und Kasteiung getrimmt, vollzieht die Mutter den gleichen Akt der Unterwerfung an ihrer weiblichen Brut, in diesem Fall an Nisha.
Der Film illustriert das gleich zu Beginn mit fast schon dokumentarischer Präzision. Eine Familienfeier. Der Vater will tanzen, die Mutter schämt sich vor der Verwandtschaft ob einer solchen Wollust. Kurz zuvor hat sie ihrer Tochter das Oberteil zugeknöpft. Das geschieht ganz subtil. Doch so subtil bleibt es nicht.
„Die Familie ist kein Zwangssystem, wie viele hippe Journalisten behaupten … Familie ist nie vorbei, sie wird wieder wichtiger.“ Zugegeben, dieses Zitat ist billig, denn es stammt von Matthias Matussek, und dem will nun mal kein Mensch recht geben. Doch seine Worte nicken nicht nur Bürgerliche und Traditionalisten ab, sondern insgeheim auch mancher Linker, der zwar gerne über die Psychoanalyse schwadroniert, niemals aber selbst eine machen würde, weil er sich dann mit den Strukturen der eigenen Familie auseinandersetzen müsste.
Familie ist ein Zwangssystem wie der Staat, nur viel subtiler, aus den Eingeweiden kommend und in die Eingeweide zurückkriechend. Unter feministischen Gesichtspunkten, aber auch im Hinblick auf die Utopie einer freieren Gesellschaft autonomer Subjekte ist diese These unabdingbar. Wie zwanghaft das System Familie in seinen radikalsten Auswüchsen sein kann, zeigt Haqs Drama mit voller Wucht. Natürlich leiden nicht alle so sehr wie Nisha. Natürlich gehen nicht alle so sehr durch die Hölle. Natürlich gibt es auch lustige und chaotische Familien. Doch allein, dass Menschen in biologistischen Kleinstgruppen in Wohnungen zusammengepfercht vor sich hinvegetieren müssen (oder etwas romantischer formuliert: in einer Art narzisstischer Ursuppe ihre Hintern aneinanderreiben), sollte nicht der Menschheitsgeschichte letzter Schluss sein.
„Was werden die Leute sagen“ hat einige sehr schöne Bilder. Mal dunkel und diffus, mal dunstig wie ein Aquarell, mal heimelig warm. Mitunter allerdings auch nüchtern, faktisch, grau. Die Bilder stehen in ihrer unmittelbaren Wirkung oft in Kontrast zur Handlung. Der romantische Blick über ein Tal und die Morgenröte über einem pakistanischen Häusermeer bergen mitunter mehr Schrecken als ein kühles norwegisches Amtszimmer. In diesem Zimmer sollen sich Nisha und ihre Familie einer Mediation unterziehen. Die Lage ist nämlich eskaliert. Der Vater hat seine Tochter nachts mit ihrem Freund erwischt – eine Katastrophe. Dass er nun die Zurichtung Nishas übernimmt und die Mutter nur noch als devote Hilfsarbeiterin auftritt, passt ganz ins patriarchale Bild. Die Frau wird ideologisch so indoktriniert, dass sie die Psyche ihrer Töchter ruiniert. Der Mann ist zuständig fürs Grobe. Und das Grobe hat gerade erst begonnen.
Von nun an quält Iram Haq ihr Publikum wirklich. Sie quält es jedoch nicht aus Sadismus, sondern um sadistische Strukturen aufzudecken. Während die Familie ihre Tochter mit Verachtung bestraft und mit radikalen Einschränkungen zu einer typisch weiblichen Funktionsträgerin – Kinder kriegen, dem Mann dienen, den Verwandten keine Schande machen und den ewigen Dreck bis zum Erbrechen reproduzieren – degradieren will, tun sich für Nisha immer wieder Möglichkeiten auf zu entkommen. Doch zunächst kann sie die Hilfe nicht annehmen. Sie liebt ihre Eltern. Sie kann sich nicht lösen. Sie kann ihre Familie nicht enttäuschen.
„Was werden die Leute sagen“ ist eine grausame, quälend lange Emanzipationsgeschichte. Sie führt Nisha schließlich nach Pakistan zu den Verwandten. Während die junge Frau immer mehr um ihre Freiheit kämpft, werden ihre Unterdrücker immer mächtiger. Selten zeigt ein Drama so detailliert und langgezogen die Zerstörung eines Menschen durch die Familie. Die gebeutelte Zuschauerin will am liebsten schreien, den Kinosessel aus den Ankern reißen, die Leinwand sprengen, hinausrennen, die Revolution ausrufen oder einfach nur weinen, so tief geht der Prozess des Grauens. Was werden die Leute sagen? Hoffentlich nur noch: Weg mit diesen Strukturen, her mit der freien Gesellschaft. Erdbeerkuchen für alle.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 05/2018