Intensives Kino
Das Kino holt seine Konkurrenz ins Kino: Im Wettbewerb der diesjährigen Berliner Filmfestspiele finden sich gleich zwei Produktionen des Online-Filmdiensts Netflix. Macht nichts: „Kino bleibt – Stream hin oder her. Aber audiovisuelle Medien sind im Umbruch“, weiß der scheidende Berlinale-Direktor Dieter Kosslick.
Für den Umbruch ist er selbst das beste Beispiel: Im vergangenen Jahr forderten ihn in einem offenen Brief über 80 Filmschaffende zum Rücktritt auf, nun dankt er nach 18 Jahren ab. Im Tagesspiegel philosophierte er noch mal schnell über seine Erfolge, vor allem über die, die kaum einer mitgekriegt hat. So attestierte er dem des sexuellen Missbrauchs angeklagten Produzenten Harvey Weinstein „stalinistische Einschüchterungstaktiken“, um auf der Berlinale Filme unterzubringen. Am Telefon habe er mitgehört, wie Weinstein zu seinem Assistenten gesagt habe: „Wir machen ihn fertig!“
Eine weitere Anekdote: Als ihn Nicole Kidman einmal gefragt habe, wie es ihm gehe, habe Kosslick geantwortet: „Ich glaube, ich habe Mundgeruch.“ Dann trat er noch auf die Schleppe der Schauspielerin, „und wir waren Freunde“.
Film, so lautete der Vorwurf der vergangenen Jahre, sei gar nicht Kosslicks Ding. Eher sei er ein Eventmanager. Der Anekdotentratsch mag dies bestätigen. So oder so: Das Publikum strömte in Massen in die Vorführungen.
Kosslicks immer schräger werdende Mitteilungen zielen mittlerweile ein bisschen unter die Gürtellinie. Und so kommt es einem vor, als sei der Berlinale-Direktor auch so einer, der zum Merkel-Personal gehört, das langsam in die Jahre kommt. Ab kommendem Jahr zeigen dann Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, was sie können.
Dann noch dies: Gefragt, wie er zu der Kritik des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu stehe, derzufolge die Berlinale häufig BDS-Aktivisten einlade, sagte Kosslick: „Die Berlinale zeigt Filme, die er nicht mag. Er macht Sachen, die wir nicht mögen.“ Netanjahu hatte die deutsche Regierung aufgefordert, solchen Projekten die Förderung zu entziehen. Er solle seine Kritik doch bitte noch einmal per Postkarte schicken, sagte Kosslick, gewissermaßen von Chef zu Chef. Der Wettbewerb zeige dieses Jahr mit „The Operative“ sogar einen israelischen Film.
Und daneben gibt es rund 399 weitere Werke, bei mittlerweile knapp der Hälfte haben Frauen Regie geführt. Es sind zumeist Filme, die eine politische Absicht zeigen sollen. „Weltweit setzen sich Unternehmen und kulturelle Institutionen seit Jahren mit Inklusion und Gleichberechtigung auseinander“, heißt es in der Selbstbeschreibung des Filmfests. Filme profitierten auf vielen Ebenen von Diversität – vom Entstehungsprozess bis zur Auswertung. „Teilhabe ist somit nicht nur eine gesellschaftspolitische Komponente, sondern die Voraussetzung für Erfolg. Die Auseinandersetzung mit der Vielstimmigkeit und Vielfalt der Gesellschaft gehöre seit der Gründung 1951 zum Selbstverständnis der Internationalen Filmfestspiele Berlin.“
Manchen ist das nicht streitbar genug. Bei der von Filmkritikern initierten „Woche der Kritik“, die gleichzeitig mit der Berlinale stattfindet, glaubt man, das Kino liege auf der „Intensivstation“. Zumindest lautet so das diesjährige Motto. „Ist das Kino heute nicht unfassbar brav? Gerade dann, wenn es angeblich ums Ganze geht?“
Gezeigt und diskutiert wird eine Werkschau mit Arbeiten von Christoph Schlingensief. Im Hinblick auf die Berlinale wirkt das ein bisschen, als wollten die Kuratoren fragen: Ist „divers“ das neue „brav“? Müsste man nicht fragen: Ist diversity hauptsächlich eine Wirtschaftsstrategie?
Wer weiß, was dabei herauskommt. Von heute sind Schlingensiefs Filme auch nicht gerade. Vielleicht fällt die Debatte darüber ja aktuell aus. Und im Berlinale-Wettbewerb sind drei deutsche Filme zu sehen. Fatih Akin hat „Der Goldene Handschuh“, Heinz Strunks krude Erzählung über den Mörder Fritz Honka, verfilmt. Brutalität dürfte immer aktuell sein. Außerdem laufen Angela Schanelecs Film „Ich war zuhause, aber“ und Nora Fingscheidts „Systemsprenger“.
Die dänische Regisseurin Lone Scherfig erzählt in „The Kindness of Strangers“ von einem Winter in New York. Der französische Regisseur François Ozon widmet sich in „Grâce à Dieu“ dem Missbrauch in der Kirche, Isabel Coixet erzählt in „Elisa y Marcela“ von einer Frauenliebe. Systemsprenger sind das erst mal nicht.
Von den 17 Wettbewerbsfilmen sind sieben unter weiblicher und zehn unter männlicher Regie entstanden. Weitere sechs Filme laufen außer Konkurrenz, etwa die Politsatire „Vice – Der zweite Mann“. Regisseur Adam McKay („The Big Short“) erzählt darin vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney. Hollywood-Produktionen sind keine darunter, darauf ist man bei der Berlinale seltsam stolz.
Typisch für den Wettbewerb ist, dass die in der Hauptsparte gezeigten Filme oft gar nicht so sehenswert sind; es gehen aber die meisten Leute hin. Bemerkenswerte Filme laufen oft in anderen Reihen, so etwa „Talking about Trees“ in der Programmschiene Panorama: Vier in die Jahre gekommene Regisseure aus dem Sudan, in den achtziger Jahren weltweit bekannte Künstler, versuchen, eine Filmvorführung zu organisieren. Ein politisches Bild des heutigen Sudan entsteht, das von Krieg, Zensur und Geheimdienst gekennzeichnet ist. Der aufzuführende Film karikiert die restriktiven Aktivitäten der Behörden nicht schlecht: Es ist „Django“ von Sergio Corbucci.
Eine weitere Perle ist der Film „Born in Evin“. Regisseurin und Schauspielerin Maryam Zaree untersucht die Hintergründe ihrer eigenen Geburt im Teheraner Folterknast Evin in den achtziger Jahren. Kaum waren die Restriktionen der Schah-Zeit vorbei, wurden dort Zehntausende politische Gegner Ayatollah Khomeinis von dessen Schlägern interniert. Zarees Mutter war schwanger, als sie dort eingeliefert und zusammengeschlagen wurde. Dann kam das Kind. Nun besucht Zaree ihre Familie und andere Menschen, die unter ähnlichen Umständen auf die Welt kamen. Die Täter sind bis heute an der Macht. „Born in Evin“ läuft in der Perspektive Deutsches Kino.
Ziemlich irre ist Florian Kunerts Dokumentarfilm „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“. Eine Handvoll Asylsuchender landet auf dem Areal des ehemaligen Kombinats „Fortschritt“ im sächsischen Neustadt. Dort werden sie von ehemaligen Werksmitgliedern unterrichtet. Die Tür zum Klassenraum geht auf, herein kommt ein Typ Marke klassischer Ostrentner – und spricht astreines Arabisch. Kein Wunder, hier spricht der ehemalige Syrien-Beauftragte des Kombinats. Im Sinne der alten Völker- und Ausbildungsfreundschaft zwischen Syrien und der DDR werden die jungen Männer an DDR-Landmaschinen ausgebildet – wie auch in FDJ-Gebräuche und Sitten der Nationalen Volksarmee eingeführt. So geht Integration.
Neben allem anderen ist die Berlinale auch ein Ort für das Kino der Menschenrechte. Es setzt sich mit Mord, Vergewaltigung, Folter und Krieg auseinander. Man muss dafür gute Nerven haben: Es gibt Tötungen vor der Kamera zu sehen; Aufnahmen, die entstehen, weil mittlerweile jeder ein Smartphone hat und Leute so etwas in ihre Filme einbauen. Man kann vier Stunden chinesische Psychiatrie verfolgen. Und es gibt Regisseure, in deren Fall man sich im nächsten Jahr erkundigen wird, ob sie noch leben, weil sie einen Film über Auftragsmorde in Mexiko gedreht haben.
Filmemacher riskieren ihre Finanzen und ihr Leben, sie werden nicht nur im Gefängnis geboren, sondern sie landen auch da, weil sie über politische und soziale Missstände berichten. Die Berlinale bietet ihnen ein großes Publikum. Sogar das Kinderfilmfest „Generation“ steht dieses Jahr unter dem Motto „Den Unterdrückten eine Stimme geben“.
Wer sich für solche Filme und Themen von überall auf der Erde interesssiert, ist bei der Berlinale richtig. Sie ist ein bisschen wie Youtube für unterdrückte Fakten, wie der Filmemacher Pepe Danquart sagt.
Geht doch da mal auf Entdeckungstour.
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 06/2019