Prolog: Sleaze City
Im Vorspann von „Fear City“ (1984) kreist die Kamera über Manhattan, dessen Wolkenkratzer in den Dunst des sternenlosen Nachthimmels ragen, lauernd, wartend. Von hier will sie eintauchen ins Lichtermeer, sich verfangen im Neon-Dickicht des Zementdschungels und dabei doch bis ganz nach unten vordringen. Runter auf die Straßen. Der Asphalt ist die Grenze. Einmal dort angekommen, scheint der ganze Film vollkommen außer Rand und Band zu geraten, kein Halten mehr zu kennen. Angetrieben von den Synthie-Rockklängen von Joe Delias „New York Doll“ scheinen Inszenierung und Schnitt wie berauscht von den blinkenden Leuchtreklamen der zwielichtigen Bars, Pornokinos und Strip-Clubs, die zu dieser Zeit noch das Stadtbild rund um den Times Square bestimmten. Die regennassen Straßen reflektieren das Rotlicht in einer Art verzerrtem visuellen Echo, das gleichsam davon zu künden scheint, wo das für den Menschen, der den Versuchungen der Stadt erliegt, alles endet – ohne dass es dabei in der Welt des Abel Ferrara auch nur einen Hauch von Didaktik gäbe, vielmehr sagen diese Bilder laut und deutlich: Welcome to Sleaze City!
Der Film markiert dabei auch das (vorläufige!) Ende einer Konsolidierung in Richtung des Mainstream in der frühen Karriere Abel Ferrara. Nach ein paar Amateur-Kurzfilmen drehte er zunächst einen Porno („9 Lives of a Wet Pussy“, 1976), dann einen Undergroundfilm, der mit seinen garstigen Mordszenen schon deutlich die Fühler in Richtung Exploitation ausstreckte („The Driller Killer“, 1979), mit der Rape-and-Revenge-Geschichte „Die Frau mit der 45er-Magnum“ („Ms. 45“, 1981) danach einen für die Zeit typischen (wenn auch in Teilen recht idiosynkratischen) Exploitation-Film und schien nun also mit dem im Rotlicht-Milieu angesiedelten geradlinigen Serienkiller-Thriller „Fear City“ im Mainstream seiner Zeit angekommen. Oder genauer: an jenem Rand von ihm, an dem in den Achtzigern und Neunzigern Filme entstanden, die sowohl ein düsteres gesellschaftliches Klima der Desillusionierung als auch die starke Stilisierung urbaner (mitunter auch kleinstädtischer) Räume des an der literarischen hard boiled-crime fiction geschulten amerikanischen Krimi-Kinos der Vierziger und Fünfziger übernahmen und in einen anderen historischen Kontext überführten und deshalb oft als Neo(n)-Noir bezeichnet werden. Dass diese Strömung filmhistorisch auch als Gegenentwurf zu einem immer mehr auf Familienfreundlichkeit gepolten Blockbuster-Segment der Zeit angesehen werden kann, passt gut zu Ferrara, der sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass er sehr deutlich Filme für Erwachsene dreht – und das längst nicht nur, weil es in ihnen immer wieder um Sex, Drogen und Gewalt geht.
Ein Ort der Verdammnis als organisches Wesen
New York ist in diesen Filmen nach keinerlei gängigen Maßstäben ein schöner Ort, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ein unendlich faszinierender. „Die bizarre Schönheit der Verdammten“ lautet der großartige Titel einer deutschsprachigen Essay-Sammlung zu Ferrara, und die große Stadt ist hier tatsächlich ein Ort der Verdammnis, der dabei doch immer verführerisch im Neonlicht zu leuchten und zu schillern scheint. Von der Idee des melting pot, in dem Menschen verschiedenster Herkunft friedlich zusammenleben, könnte sie dabei kaum weiter entfernt sein. „Krieg in Chinatown“ („China Girl“, 1987) entwirft vor dem Hintergrund eines Bandenkrieges zwischen italo- und sinoamerikanerikanischen Gangs eine Romeo und Julia-Geschichte zwischen zwei Teenagern, er italienischer, sie chinesischer Abstammung. Zu Beginn wird er von einer chinesischen Gang durch die Straßen gejagt, die aber an einer Ecke zunächst innehält, die den Übergang von Chinatown zu Little Italy markiert. Die Stadt wird so zu einem bis aufs äußerste segmentierten Ort voller unsichtbarer, aber darum kaum weniger wirkmächtiger Grenzen, um deren Verlauf sich im Film immer blutigere Kämpfe entspinnen. Die junge Liebe muss schließlich am Beharren beider Seiten auf der eigenen Kultur, die sich nicht mit anderen vermischen darf, und der Macht des Geldes, für das immer mehr Blut fließen muss, scheitern.
Wenn Ferrara aus einer Schlägerei zwischen den Gangs ein Schattenballett an den Häuserwänden macht oder das Blut auf dem Körper eines Erstochenen im allgegenwärtigen Neonlicht schimmert, fallen die Stilisierung von städtischem Raum und Gewalt in eins, so als würden sich beide organisch auseinander ergeben. Dass eine Stadt ein (heimlicher) Protagonist eines Films sei, mag oft nichts weiter als ein abgestandenes Klischee der Filmkritik sein, auf das New York der Filme Abel Ferraras aber trifft das allerdings hundertprozentig zu. Die große Stadt mit ihren Versuchungen und ihrer Anonymität scheint hier tatsächlich ein eigenes Leben anzunehmen. In Paul Hipps Abspann-Song „Midnight for you“ heißt es etwa in einer herrlich schrägen Metapher: „And the taxi cabs run like urine trhough this junkie towns last good vein.“ Die Stadt selbst also als Junkie, dessen Venen nach Drogen, vergossenem Blut und allerlei anderen Körperflüssigkeiten zu gieren scheinen. Und die große Dringlichkeit der Filme, deren Co-Protagonist sie ist, kann dann auch daher rühren, dass sie als Bewältigungsstrategie lesbar werden, als verzweifelter Versuch, all das das zu verarbeiten, zu veräußerlichen, indem sie wenigstens ein paar der acht Millionen Geschichten erzählen, die in den mean streets New Yorks darauf warten, erzählt zu werden.
Davon zeugt auch die Art, wie die Stadt immer wieder mit den ProtagonistInnen der Filme eine sonderbare Allianz einzugehen scheint. In „Die Frau mit der 45er Magnum“ dient der allgegenwärtige Müll auf den Straßen im Rahmen des Rape-and-Revenge-Plots auch als Metapher, die das grausame Empowerment der Hauptfigur Thana (Zoe Lund) spiegelt, ihre Art reflektiert, patriarchaler Gewalt weibliche Gegengewalt entgegenzustellen. Wird sie nach der ersten von zwei Vergewaltigungen zu Beginn einfach wie Abfall neben einer Mülltonne liegengelassen, ist es später dann sie selbst, die die sterblichen Überreste des zweiten Vergewaltigers in den Mülleimern der Stadt verteilt. Die Stadt des „King of New York“ (1990), des Saubermann-Gangsters Frank White (Christopher Walken), der seine Vendetta gegen die Unterwelt als Strafe für moralisch unlautere Geschäftsmethoden verstanden wissen will und sich aus den Sex- und Drogeneskapaden seiner Gang vornehm raushält, ist zwar unverkennbar der Prä-Giuliani-Moloch, dessen Straßenschluchten dabei jedoch zugleich in stylischem Blau schimmern. Immer wieder schneidet der Film von Bildern der nächtlichen Skyline auf Walkens Gesicht, das von deren Licht illuminiert wird. Die des drogensüchtigen „Bad Lieutenant“ (1992, gespielt von Harvey Keitel) hingegen, der dauerbreit durch den Film torkelnd eine erbärmliche Erscheinung abgibt, ist selbst einfach nur noch gritty und abgefuckt. Größtenteils ohne Drehgenehmigung entstanden, folgt die Kamera ihm durch finstere Straßen und versiffte Treppenhäuser, ohne dass es dabei eine Orientierung oder einen Überblick durch Totalen geben würde.
Stadtgeschichte im Fokus
Gerade das Spätwerk zeugt dabei davon, wie der Filmemacher in den mehreren Dekaden, über die sich seine Filmographie erstreckt, auch zu einem intimen Chronisten seiner Heimatstadt im Wandel der Zeit wurde. In „‘R X-Mas“ (2001) wird das explizit. Der Film ist nur seinem Plot nach, in dem es um eine Entführung im Drogen-DealerInnen-Milieu geht, ein Genrefilm, zeichnet sich aber eigentlich dadurch aus, dass er etwa in langen Montagesequenzen die Bilder von Drogen, die abgepackt und Geldscheinen, die gezählt werden, nicht zu Narrativen (zum Beispiel über Aufstieg und Fall von GangsterInnen) verdichtet, sondern schlicht als Alltag seiner Figuren stehen lässt. Dabei setzt er durch immer wieder auftauchende Nachrichtensendungen und eine Texteinblendung am Ende den Übergang der Amtszeit von David N. Dinkins (1990-1993) als Bürgermeister zu der von Rudolph Guiliani (1994-2001) als historischen Kontext, dessen „Befriedung“ des Molochs zugleich mit einem weiteren immensen Gentrifizierungs-Schub einherging. Die Texteinblendung endet mit den Worten: „To be contin…“
Und fortgesetzt wird der Diskurs um die Geschichte der Stadt dann z. B. in den schönen, mitunter auch ziemlich derangierten Dokumentarfilmen, die Ferrara kontinuierlich in den letzten zehn Jahren gedreht hat, in einem Alter und zu einer Zeit also, als andere noch lebende und einst sehr renommierte amerikanische Regisseure seiner oder der angrenzenden Generationen längst das Handtuch geworfen haben. In „Chelsea on the Rocks“ (2008) geht es um das legendäre Chelsea Hotel, dessen Mauern voller Geschichten über die Ausschweifungen, das Glück und das Leid lange vergangener Zeiten zu stecken scheinen. In der Gegenwart müssen aufgrund eines neues Managements, das, ohne jegliches Bewusstsein für die Geschichte des Hauses, in diesem nur eine gewinnträchtige Immobilie sieht, immer mehr der lang ansässigen Künstler ausziehen.
In „Mulberry St.“ (2010) unternimmt Ferrara rastlose Streifzüge durch das Viertel in Little Italy rund um die titelgebende Straße, redet mit Anwohnern und Passanten, sitzt mit Mitstreitern, seinem Manager, seinem Anwalt, dem Schauspieler Matthew Modine, der in drei seiner Filme mitspielte, in Straßencafés – manchmal ein bisschen wie eine real life-Version der „Sopranos“ wirkend, die an den Tischen vor der Metzgerei Satriale‘s sitzen. Geredet wird dabei unter anderem über die interessante und wohl sehr umstrittene Frage, wer genau die Drehbücher zu Ferraras Filmen geschrieben hatte, nachdem Nicholas St. John, von dem die meisten zwischen 1976 und 1996 stammten, den Job abgegeben hatte. Aber auch um eine Nachbarschaft im Wandel der Zeit. Die Giuliani-Ära markiert dabei immer eine historische Landmarke, über die hinweg die Filme in eine in vielem bessere, aber vor allem andere Vergangenheit gucken. Wenn „Welcome to New York“ (2014) seinen Titel einmal als Inschrift am Flughafen ins Bild rückt, darf das wohl auch als Kommentar darauf verstanden werden, dass die auf Vordermann gebrachte Stadt dabei auch unpersönlich, seelenlos geworden ist.
Sein bislang vorletzter Spielfilm „Welcome to New York“ ist deutlich ein Komplementärfilm zum zweiten, „Ms. 45“, nicht nur durch das bloße Thema Vergewaltigung, sondern auch darin, dass es nur der Duktus der Filme, nicht aber ihr Inhalt ist, der es schwierig macht, sie als „feministisch“ zu bezeichnen. Die Veränderung der Stadt scheint dabei tief ins ästhetische Gewebe der Filme eingeschrieben. „Dreckige“ analog gedrehte Exploitation auf der einen, sonderbarer – weil mitunter nicht wirklich zum Bildinhalt passender – digitaler Hochglanz auf der anderen Seite. Das geht damit einher, dass die patriarchalen Machtverhältnisse, die 1981 noch an dreckigen Straßenecken in Form denkbar plumper Anmachen und lüsterner Blicke in aller Öffentlichkeit ausagiert wurden, sich 2014 in der Geschichte um einen an den ehemaligen IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn angelehnten Geschäftsmann (Gerard Depardieu), dessen Leben eine einzige Sexparty mit Prostituierten zu sein scheint und der schließlich versucht, das Zimmermädchen eines Hotels zu vergewaltigen, hinter glänzende Glasfassaden zurückgezogen haben. Die Ergebnisse bleiben dabei aber die gleichen: Frauenkörper werden aus einer männlichen Machtposition heraus so sehr zu einem Gegenstand erklärt, der ausschließlich der eigenen sexuellen Befriedigung dient (und in „Welcome to New York“ als teure Ware auch zum Statussymbol wird, das das eigene Ego aufwerten soll), dass die Männer das Gefühl bekommen, vollkommen ungehemmt nach eigenem Gutdünken über sie verfügen zu dürfen. Und in beiden Filmen beginnen Übergriffigkeit und Misogynie mit der Sprache: Beim Mittagessen mit der Tochter und ihrem Freund im Nobel-Restaurant redet die Depardieu-Figur auf eine denkbare schmierige Altherren-Art über das Thema Sexualität, die dem Nachwuchs sichtlich Unbehagen und Scham bereitet, fragt den Freund der Tochter sogar vollkommen unverhüllt nach dem Sexualleben der beiden.
Epilog: „O gönne mir noch einen solchen Augenblick!“
Am Ende von „China Girl“ liegt das Paar auf der regennass glänzenden Straße, durchlöchert von derselben Kugel. Der Asphalt ist die Grenze, an der die Menschen und ihre Träume zerbrechen. Die Kamera entschwebt derweil nach oben, zieht sich in den Nachthimmel zurück, in dem vielleicht (das weiß man beim zweifelnden Katholiken Abel Ferrara und seinem gläubig katholischen Drehbuchautor Nicholas St. John ja nie so genau) der Gott sitzt, der die Stadt und ihre BewohnerInnen längst sich selbst zu überlassen haben scheint.