Die weiße, von ewigem Eis und Schnee bedeckte Unendlichkeit Jakutiens erstreckt sich unter dem blauen Himmel. Eine blendende, klare Helle dehnt sich bis zum Horizont. Ganz klein und verloren bewegt sich ein Mensch mit einem Hundeschlitten von rechts nach links durch dieses großartige Bild einer Eiswüste, das dann noch für ein paar Augenblicke stehen bleibt, weil es schon immer da ist. Mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegend, blickt ein Mann ins kalte Blau, durch das sich die Kondensstreifen zweier Flugzeuge ziehen. Ferner Motorenlärm dringt in die Stille der Natur und erzeugt so jenen Kontrast zwischen Natur und Zivilisation, Tradition und Moderne, von dem Milko Lazarovs beeindruckender Film „Nanouk“ (Ága) von Anfang an handelt. Das Ewige im Unterschied zum Vorübergehenden spiegelt sich in dieser Dichotomie ebenso wie die Erinnerung an eine Zeit, die für das Heute verloren scheint.
Ein altes Ehepaar, das in einer mit Rentierfellen bespannten Jurte mitten in dieser eisigen Weite wie vor Zeiten lebt, steht stellvertretend für diesen Konflikt. Während Nanouk (Mikhail Aprosimov) mühsam Löcher in die dicke Eisschicht schlägt, um nach Fischen zu angeln, kümmert sich seine Frau Sedna (Feodosia Svanova) um alles Häusliche. Wenn sie gemeinsam eine Tierfalle zimmern, zeigt sich nicht nur ihre handwerkliche Geschicklichkeit, sondern auch ihr fast stummes Einverständnis. Doch die Zeichen stehen auf Veränderung: Nanouk fängt kaum noch Fische, immer wieder begegnet er toten Tieren im Eis und das einzelne Rentier, das ihm wie in einer Vision erscheint, wirkt wie das mythische Bild einer vergangenen Zeit. In einer „Zaubergeschichte“ vom „magischen Rentier“ erzählt Nanouk von der wundersamen Vermehrung der Tiere. Doch tatsächlich beobachtet er, dass der Frühling neuerdings immer früher einsetzt.
In der gedehnten Zeit langer Einstellungen, getragen von einem langsamen Rhythmus, erzählt der bulgarische Regisseur Milko Lazarov von einem alltäglichen Leben, das im Verschwinden begriffen ist. Die Bilder einer aussterbenden Kultur, unterlegt mit Gustav Mahlers schwermütigem Adagietto aus der 5. Sinfonie, werden überdies durch persönliche Krisen der Protagonisten verschärft: Nanouk leidet darunter, dass Tochter Ága (Jalina Tikhonova) die Familie verlassen hat, um in der gigantischen Diamantenmine von Udatschnaja zu arbeiten; an seiner Frau Sedna wiederum zehrt eine schmerzhafte Wunde, die sie zunehmend schwächt und an der sie bald sterben wird. Ihr Traum über das Versinken in einem schwarzen Loch des Vergessens symbolisiert ihre Todesahnungen. Zwar wird in „Nanouk“ nur wenig gesprochen und auch keine Geschichte dramatisiert, trotzdem handelt Lazarovs einfach erzählter Film in überwältigenden Landschaftspanoramen und vielen subtil beobachteten Details von den großen Themen des Menschseins und seinen Bedingungen: den ökologischen Grundlagen und dem zwischenmenschlichen Zusammenhalt.