Ein Renaissanceschloss, eine Jagdgesellschaft, Adel und Großbourgeoisie, Treibjagd und Maskenball – die Besserverdienenden der Grande Nation amüsieren sich. Das muntere Durcheinander in den Salons findet sein Spiegelbild beim Management und im niederen Personal. Liebeleien, Affären, Eifersuchtswallungen, zynische Dialog-Pirouetten, auch Hass züngelt hier und da zwischen den Komplimenten. Dann wird beim Gewächshaus jemand erschossen. Nacht senkt sich über die Szene im Park, sickert in die Gemüter. Die Ordnung löst sich auf, die zierlichen Ornamente zerbrechen, eine junge Dame schluchzt hysterisch. Sie solle sich zusammenreißen, meint die Marquise: „Man schaut auf uns.“
Auf der Terrasse, angestrahlt wie der tragische Held auf einer Bühne, wendet sich der Marquis an seine Gäste, eine Prise Schmerz in der dezent vibrierenden Stimme. Ein bedauerlicher Unfall, sein Jagdaufseher habe einen Schuss abgegeben, versehentlich auf den Falschen. „Tief erschüttert beklagen wir den Tod unseres Freundes und hervorragenden Kameraden.“ Zwei altersmorsche Generale am Rande kommentieren die Szene: Eine neue Definition des Wortes „Jagd“? Nein, nein, der Mann zeige einfach Haltung, das sei sehr selten geworden. Wie eine geschlagene Truppe, einer nach dem andern, schleppen sich die Herrschaften ins Schloss. Frankreichs haute volée, 1939: Das Mondlicht malt die Schönen und Reichen – ein Bild wie aus dem Jenseits – als riesige, wandernde Schatten auf die Fassade.
Als ich mir neulich, am Vorabend der Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine le Pen, Jean Renoirs „La règle du jeu“ („Die Spielregel“; FR 1939) nach vielen Jahren wieder ansah, erlebte ich – im Kopf die Fernsehbilder eines langen Wahlkampfs mit seinen pompösen Ritualen und mediokren Schurkereien – ein seltsames déja vu. Und es bestätigte sich ein Verdacht. Ich blickte plötzlich durch die alten Filmbilder hindurch auf unsere Gegenwart. Das von Renoir gezeichnete Personal der Dritten Republik rückte beklemmend nah an das Figurentableau der Fünften heran, an die École nationale-Elite von heute, an die geliehene Grandezza, das selbstverliebte Spiel mit den feudalen Posen, von dem die politische Klasse in Paris so schwer Abschied nehmen kann.
Für den Marquis de la Chesnaye (Marcel Dalio) ist das Leben auf Eleganz, Großzügigkeit und Lüge gegründet – Lüge als Spiel und Kunst. Feine Ironie: Renoir hat ihm die Maske eines Stummfilmstars verordnet. Er ist ein Liebhaber des Theaters und der Treibjagd, der großen Geste und der von Spielregeln gebändigten Gewalt. Jenseits der Strukturen, die die Regeln setzen, bricht das Chaos aus. Der Feudalismus des Marquis ist längst tot, auch was an ihm „Haltung“ war, hat nicht überlebt. Renoir hat dieses Milieu nicht verdammt, er hat es scharfsinnig porträtiert und dabei seine kulturellen Leistungen ebenso wenig wie seine historische Schuld übersehen. Die Heldenwracks von heute, die Herren Sarkozy, Hollande oder Fillon liefern nur sehr verspätete und sehr missratene Kopien. Ihre Besessenheit von sich selbst, ihr Faible für die infame Intrige, aber auch ihre Fähigkeit zur Brutalität haben sie einer Elite abgeschaut, die Renoir schon 1939 in Schönheit sterben ließ.
Zwei Monate nach der Premiere des Films beginnt der zweite Weltkrieg. La règle du jeu wird im Oktober 1939 von der Zensur verboten, ein zweites Mal unter dem Vichy-Regime. Seit 1959 steht der Film unter den Top Ten der „ewigen Bestenliste“ von „Sight & Sound“.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.
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