1. In narrativer Kunst geht es immer um Gegensätze, Widersprüche und Brüche. Wie im Leben jedes Menschen. Wie in jeder Gesellschaft, die ja letztlich immer nur eine Ansammlung von Menschen sein sollte, die versuchen, so gut es eben geht miteinander klarzukommen, was aber dann in der Realität leider viel zu oft darauf hinaus läuft, dass sie nur dem Zweck dient, dass Menschen einander möglichst effektiv ausbeuten können.
* * *
2. In guter narrativer Kunst geht es in aller Regel nicht darum, die Gegensätze miteinander zu versöhnen, die Widersprüche aufzuheben, die Brüche zu kitten, alles irgendwie auf Gedeih und Verderb in Kongruenz zu bringen.
* * *
3. In großer narrativer Kunst geht es oft darum, zu zeigen, dass die Brüche im Individuum und in der Gesellschaft groß, klaffend und tief sind wie Gletscherspalten. Große narrative Kunst ist immer humanistisch. Es geht ihr darum, auf die unterschiedlichsten Arten, das Individuum, den einzelnen Menschen zu verteidigen gegen Gewalt, Abhängigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft, gegen die Gesellschaft, aber auch (und vor allem) gegen sich selbst.
* * *
4. Es ist das Jahr 1999 und wir befinden uns im suburbanen New Jersey. Ein Mann mit italienischen Wurzeln, der sich sein Geld durch organisierte Kriminalität verdient, leidet unter Panikattacken und sucht Hilfe bei einer Psychiaterin, die ebenfalls italienische Wurzeln hat. Schon in der ersten Szene geht es also darum, dass Lebensmodelle und Wertsysteme aufeinander prallen, die offensichtlich kaum in Einklang zu bringen sind: Die Omerta, das Gesetz des Schweigens, das besagt, dass wer Dinge ausplaudert, die nicht ausgeplaudert werden dürfen, ermordet werden muss, trifft auf die talking cure, die davon ausgeht, dass es Menschen helfen, manchmal ihr Leben retten kann, so ehrlich wie sie können über all das zu sprechen, was ihnen das Leben zur Hölle macht. Es gehört zu dieser Konstellation natürlich dazu, dass der Patient Tony Soprano (James Gandolfini) männlich ist, die Ärztin Jennifer Melfi (Lorraine Bracco) hingegen weiblich. Aber natürlich ist es in einer derart reflektierten, psychologisch und soziologisch ambitionierten Fernsehserie wie „The Sopranos“ weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle mit einer einfachen Dichotomie getan. Sprich: nein, es geht hier garantiert nicht darum, dass Männer gewalttätig und verlogen, Frauen hingegen fürsorglich und ehrlich sind. Auch ganz bestimmt nicht darum, dass Italoamerikaner immer Mobster sind und Italoamerikanerinnen, die Gangsterbraut und überprotektive Mutter, die in ihnen steckt, irgendwie überkompensieren müssen. Um solch horrenden Unsinn zu verbreiten, ist David Chase, dem Schöpfer der Serie, der Mensch zu wichtig.
* * *
5. Geht es der Prämisse nach um die Kollision von Systemen, dann bedeutet das immer auch, dass Ungleichzeitiges zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort aufeinander prallt. Enerviert weist Tonys Tochter Meadow (Jamie Lynn Sigler) ihren Vater einmal darauf hin, dass sie sich in den 1990ern befinden. Seine Antwort darauf ist bezeichnend: „You see out there it’s the 1990s but in this house it’s 1954.“ Ohne das an dieser Stelle genauer analysieren zu wollen (und natürlich könnte man zu diesem Satz im Kontext dieser Serie eine interdisziplinär geisteswissenschaftliche Doktorarbeit schreiben) möchte ich nur ganz kurz darauf hinweisen, was hier gegeneinander steht: Tochter und Vater, die 90er und die 50er, die Gesellschaft da draußen gegen das Haus, das für die Familie steht, die Keimzelle jener Gesellschaft. Die Gegensätze lassen sich nicht in Einklang bringen, aber die verschiedenen Pole stehen in vielfältiger wechselseitiger Beziehung zueinander.
* * *
6. „There’s always the option.“ sagt einer von Tonys Kompagnons einmal zu ihm und meint damit, dass man einen gemeinsamen Geschäftspartner einfach gewaltsam aus dem Leben befördern kann, wenn sich ein Konflikt nicht anderweitig regeln lässt. Das ist erst einmal einfach einer der unzähligen Euphemismen, die die Gangster in dieser Serie benutzen, wenn sie etwas meinen, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht bei seinem eigentlichen Namen nennen wollen: Mord.
* * *
7. Schon der Titel der Serie „The Sopranos“ ist doppeldeutig. Tony Soprano lebt mit seiner Frau Carmella (Edie Falco), ihrer Tochter Meadow und ihrem Sohn Anthony Junior, kurz: A.J. (Robert Iler) zusammen. Die Sopranos sind also das, was in der Soziologie bürgerliche Kleinfamilie heißt: zwei Generationen unter einem Dach. Aber dann sind die Sopranos auch eine Familie im übertragenen Sinne der crime family, deren Boss Tony ab der zweiten Staffel ist. Auch darum wie diese beiden sozialen Systeme zusammenhängen und wie dysfunktional sie beide sein müssen, um zusammenhängen zu können, geht es in den „Sopranos“. In der crime family gibt es immer die Möglichkeit, unliebsame Mitarbeiter einfach zu ermorden. Von den unzähligen Soprano-Mobstern, die im Verlaufe der Serie gewaltsam aus dem Leben scheiden, sterben die meisten durch die Hand Tonys oder zumindest gibt er den Auftrag, sie zu ermorden. In der anderen Familie, die aus Papa, Mama, Kindern besteht, gibt es diese Option nicht. Tony wurde in sein schmutziges Geschäft quasi hineingeboren, tut das, was sein Vater vor ihm getan hat. Das gleiche steinzeit-patriarchale Wertesystem, das ihm beigebracht hat, andere Männer zu töten, wenn es den eigenen Interessen dient oder auch manchmal einfach nur, weil er es kann, sagt ihm auch, dass er seine bürgerliche Kleinfamilie ehren soll. Das bedeutet, dass Tony, wenn Carmella keine Lust mehr hat, über die ewige Untreue ihres Mannes schweigend hinwegzusehen oder eines seiner Kinder mal wieder auf vielfältige Weise gegen den Vater rebelliert, nicht einfach seine Familie ermorden kann wie einen unliebsam gewordenen Geschäftspartner. Er muss sich anderer Mechanismen bedienen, um sie seinem Willen zu unterwerfen, um – wie man so sagt – den Laden am Laufen zu halten.
* * *
8. „The Sopranos“ ist insgesamt sicherlich keine sonderlich optimistische Serie. Aber zumindest wird A.J. seinem Vater nicht auf die Art folgen, wie dieser seinem Vater folgte. Und auch für Meadow besteht sicherlich eine große Chance nicht zur Gangsterbraut werden zu müssen wie ihre Mutter. Die 90er sind nicht die 50er. Die nächste Generation Sopranos wird in jedem Fall anders werden und hoffentlich auch etwas besser.
* * *
9. Eine Erklärung sollte nicht zu einer Relativierung führen. Eine genaue Analyse nicht zu einer Rechtfertigung. Ein Extrembeispiel: Auch Adolf Hitler, Josef Goebbels, Josef Mengele , Adolf Eichmann und alle anderen, die in irgendeiner Funktion auf irgendeine Art am schrecklichsten aller Menschheitsverbrechen beteiligt waren, hatten wie alle Menschen persönliche Gründe für ihr Tun, die nachzuvollziehen zu versuchen richtig und wichtig ist. Jegliche Rechtfertigung und Relativierung der Shoah jedoch ist infam. Daraus folgt auch, dass jede/r, der/die die Psychologie, die ein Instrument ist, den Menschen zu verstehen, um ihm helfen zu können, missbraucht, um das zu relativieren, was nicht relativiert werden darf, das zu rechtfertigen, was nicht gerechtfertigt werden darf, sie letztlich gegen den Menschen richtet.
* * *
10. Ein berühmtes Diktum von Max Horkheimer lautet: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Tony Soprano nimmt als Mafiaboss eine tragende Funktion in einem System ein, das man, wenn man denn wollte, als faschistoid bezeichnen könnte. Jedenfalls ist das organisierte Verbrechen, daran lassen die 86 Episoden der „Sopranos“ nicht den geringsten Zweifel, Kapitalismus in einer seiner schlimmsten Formen, weil er keine der Einschränkungen kennt, mit denen in der Geschichte versucht wurde, die Bestie in diesem Wirtschaftssystem zu bändigen und zu zähmen. Es gibt im organisierten Verbrechen keinerlei soziale Absicherung, keine Gewerkschaften und keiner der Gangster zahlt für den größten Teil seiner Einkünfte auch nur einen Cent Steuern. Wer aber den Fehler macht sich von diesen Männern Geld zu leihen, zahlt horrende Zinsen. Zusammengefasst: Es geht immer um maximalen Profit durch maximale Ausbeutung und Unterdrückung.
* * *
11. Der fiktive Mensch Tony Soprano tut in den sechs Staffeln der Serie sehr vieles, was menschlich absolut nicht zu rechtfertigen ist und die Serie versucht an keiner Stelle, das in irgendeiner Form zu relativieren. Er schadet anderen Menschen und sich selbst in jeder nur erdenklichen Form. Er ermordet, foltert, manipuliert, verletzt, unterwirft und unterdrückt andere Menschen in einem fort, schadet so ziemlich allen Menschen um sich herum ständig auf irgendeine Art. Große narrative Kunst zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, dass sie niemals versucht es ihrem Publikum leicht zu machen. In den „Sopranos“ heißt das, dass uns die Serie dieser Figur mit Haut und Haaren ausliefert. Tony Soprano ist kein Monster, er ist ein Mensch wie wir. Und wir sitzen gebannt vor unseren Fernsehern, gucken ihm zu und haben jede/r für sich Gründe, warum wir uns das – nun ja – antun. In ihrem Nachruf auf James Gandolfini, der leider im Sommer 2013 mit nur 51 Jahren einem Herzinfarkt erlag, schreibt Christina Nord: „Das Verführerische an TV-Serien ist ja, dass die Figuren mit der Zeit zu Gefährten werden, auch wenn sie alles andere als sympathisch sind. Und „douchebag“ ist nicht nur ein Wort, das Tony Soprano gerne benutzt, er ist auch selber einer. Deshalb war es ein Coup von David Chase, mit der Figur der Dr. Melfi eine Stellvertreterin für das Publikum zu schaffen. So gebannt und angewidert, so abgestoßen und fasziniert die Analytikerin Tony Soprano zuhört, so tut man das auch, wenn man vor dem Fernseher sitzt. Und so wie sie irgendwann auf Tony Soprano angewiesen ist, so ergeht es auch dem Publikum, das sich vom Tun und Lassen des Mobsters unterhalten lässt. Ob man auch darin Dr. Melfi gleicht, dass sie durch ihre therapeutische Arbeit das kriminelle System des Tony Soprano am Laufen hält, ist dann noch einmal eine andere Frage, die aufzuwerfen zur Smartness der Serie gehört.“
* * *
12. Auf Facebook habe ich einmal mit einem anderen Filmjournalisten über die Wirkung von dieser und anderen HBO-Serien diskutiert. Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Argumentation, aber es ging um seine Art, mit dem eigentlich absolut Unerträglichen umzugehen, was diese Serien erzählen. Dass sie auf irgendeine Art doch wieder systemstabiliserend wirken. Macht alle narrative Kunst, zumal wenn sie eine Menge Geld kostet und also auch eine Menge Geld erwirtschaften muss, das, was sie zeigt, in irgendeiner Form komensurabel? Und wenn ja, ist das schlimm? Oder ist das eine nötige Voraussetzung dafür, dass man etwas analysieren und verstehen kann? Und daran, dass es in den „Sopranos“ um eine möglichst detaillierte Analyse der Funktionsweise verschiedener Systeme geht, besteht wohl kein Zweifel.
* * *
13. Zwei Enden großer narrativer Kunstwerke: In Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho“, dem sicherlich finstersten und vielleicht größten Kunstwerk über den Neoliberalismus, kommt die gesellschaftliche Verrohung nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass die Menschen einander nicht mehr zuhören können, sich nicht mehr genug für einander interessieren, um dem, was ihr gegenüber sagt, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Auf der letzten Seite des Romans sitzt der Protagonist und Ich-Erzähler, der Wall Street-Broker und Serienkiller Patrick Bateman, mal wieder mit anderen Männern in einer New Yorker Bar. Mal wieder hört er niemandem zu und niemand ihm. Die letzten Worte, die er im Roman spricht, lauten „and this is what being Patrick means to me, I guess, so, well, yup, uh…”. „Patrick zu sein“ bedeutet rein gar nichts. Der Name ist ein Signifikant, zu dem es kein Signifikat mehr gibt. Es geht, im Namen Bateman stecken Batman und Norman Bates (zwei ebenfalls „gespaltene Persönlichkeiten“), nicht um die Vielteilung der Persönlichkeit, sondern um deren vollkommene Zersetzung. Es gibt kein Individuum mehr (sei es noch so gespalten). Nur noch eine leere Hülle. Es gibt keine Sprache mehr, nur noch zusammenhangsloses Gestammel. Deswegen gilt im vielleicht in sich geschlossensten, auf eine absolut verzweifelte Art nihilistischsten aller Kunstwerke das, was Patrick zuvor sagte: „There is no katharsis.“ Die letzten Worte des Romans lauten dementsprechend: „THIS IS NOT AN EXIT.“
In der letzten Einstellung der „Sopranos“ sehen wir Tony in einer „Amerikanischen“ mit seiner Familie am Tisch eines Restaurants sitzen. In dem Song, der dazu läuft, erklingt die Zeile „don’t stop“ und plötzlich wird das Bild abrupt schwarz, bricht genau gleichzeitig die Musik ab. Im Abspann der 85 vorherigen Folgen war immer ein anderer Song zu hören. Die letzten zwei Minuten der Serie herrscht nun eisige, bedrückende, verstörende, schmerzliche Stille.
Walter Benjamin schrieb: „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“
* * *
14. Ich bin der festen Überzeugung, dass der beste Ansatz den Menschen und die Menschheitsgeschichte zu verstehen ein dialektischer ist. Doch gleich zu Beginn der „Dialektik der Aufklärung“ heißt es: „Die vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Und zwar nicht nur 1948, sondern immer wieder aufs neue. Dass auf jeden Fortschritt der Backlash folgt, das kann einen schon in die Verzweiflung treiben. „The Sopranos“ entstanden zwischen 1999 und 2007 in den USA und sie sind in wahrscheinlich jeder nur erdenklichen Hinsicht ein sehr amerikanisches Kunstwerk. Im Herbst 2016 hat sich in den USA etwas durchgesetzt, das in vielerlei Hinsicht so archaisch ist, dass es im 21. Jahrhundert in einem aufgeklärten Land eigentlich nichts zu suchen haben sollte. Um es kurz zu sagen: Der sechunsundvierzigste Präsident der USA sollte bitte nicht allzu lange auf sich warten lassen.