Wo wir uns befinden, bleibt zuallererst einmal unklar. Minutenlang stochert die Kamera im Schwarz der Nacht, sucht das Auge vergeblich nach Objekten, Subjekten, nach irgendetwas, das Halt bieten und eine Erzählung in Gang setzen könnte. Stattdessen blendendes Licht, Meeresrauschen, das uns bis zum Ende des Filmes kaum eine Sekunde mehr verlassen wird, rasselnde Ketten, hydraulisches Kreischen, verfremdete Stimmen, die ihre Kommandos brüllen wie gegnerische Alien-Krieger eines Videospiels, Wasser, das auf rostige Metallplatten prasselt. Vieles ist und wird vor allem Sound bleiben, der aus der Dunkelheit nicht zuordenbar, manchmal übersteuert und kratzig wie aufgewühlte See gegen das Publikum brandet und eine beklemmende Stimmung erzeugt.
„Leviathan“ von Lucien Castaing-Taylor and Véréna Paravel, als recht lose Erforschung der Arbeit auf einem amerikanischen Fabrikschiff angelegt, gebiert sich von Beginn an als ein gefährlicher Strudel. Mit jeder neuen Welle, in die das Hochseeschiff hineinsteuert, wird man unter Wasser gezogen. Vergeblich schnappt man zwischendurch in den nur selten klaren Bildern nach Luft, nur um wenige Momente später wieder im Wasser zu versinken. Ganz so, als wolle einen das Regie-Duo zur Aufgabe zwingen. „Leviathan“ ist filmisches Waterbording, herausfordernd in der konstanten Desorientierung. Jeder Blick ist von einer solchen Subjektivität, wie es das Kino selten gesehen hat. Extrem kleine Digitalkameras, die über das ganze Schiff verstreut wurden, erzeugen ungeahnte Perspektiven, versetzen das Publikum in die Position stürmisch über das Deck hastender Arbeiter oder gefangenen und an Bord des Schiffes hin- und hergespülten Fisches. Und unter diesen unruhigen, verwackelten Bildern beginnt auch der Film selbst zu schwanken. Vom Dokument zum Experiment. In der Subjektivität verliert sich ein Blick von außen, der im Extremfall das Wasser an die obere Bildkante und den das Schiff begleitenden Vogelschwarm an die untere Bildkante schiebt oder eine Zuordnung des Gesehenen gänzlich verweigert. Sehen macht in „Leviathan“ seekrank, die Kälte in den Gliedern, die Nässe auf der Haut und den Geruch von Blut und Fischabfällen, die aus dem Schiffskörper gespiehen werden, physisch erfahrbar.
Zwar zeigt „Leviathan“ in dieser absoluten Subjektivität durchaus die Routinen einer unter beständigem Zeitdruck stehenden industriellen Verarbeitung von Fisch, wenn minutenlang Muschelschalen von Fischern geknackt werden, das schwere Fischernetz mehrfach eingeholt und der noch lebende Fisch emotionslos zerkleinert wird. Nur Sinn will sich einfach keiner ergeben. Alles hier funktioniert, greift sinnvoll ineinander und steht doch fremd nebeneinander. Und das Fischereischiff wird im düsteren und gespenstischen Rausch der Bilder samt seiner Besatzung zu einem Organismus oder Tumor, der wuchert, seinem biologischen Plan folgt und Fragen nach einer Zweckhaftigkeit schon deshalb hinfällig erscheinen lässt. Es geht in „Leviathan“ primär nicht um ein ökonomisches Prinzip, das in seinem nüchternen Funktionieren gezeigt und allein dadurch in seinem Zynismus entlarvt wird. Dass man nach dem Abspann keine Lust mehr auf Fisch hat, ist eher ein Nebenprodukt dieses Filmes, der ins Zentrum seiner Beobachtung die Frage nach den Ordnungsprinzipien unserer Welt stellt, die sich unter dem Eindruck geoökonomischer Interessen vollkommen verselbstständigt haben. Das apokalyptische Moment dieses Filmes liegt in der scheinbaren Unauflösbarkeit der gezeigten Verhältnisse, die im blinden Voranschreiten zum ewigen Wachstum beitragen. „Leviathan“ zeigt die Natur eines Menschen, dessen Suche nach Sicherheit und Reichtum in der Gewinnsucht zum permanenten Kampf mit Widersachern, der Natur und schlussendlich sich selbst geführt hat.
Man wünscht sich, wenn die Augen vom Sehen zu brennen beginnen und die Lider kraftlos werden, geradezu die Erscheinung eines alttestamentarischen Leviathans aus den Tiefen des Meeres, der dem Gezeigten Einhalt gebietet. Aber so wenig wie die Fischer bei der Arbeit eine Mine verziehen, weicht das Schiff von seinem Kurs ab. Und wie zu Beginn nicht klar war, wo wir uns befinden, geht auch die Fahrt des Trawlers nirgendwo hin. Es gibt kein Ankommen, kein Abladen des gefangenen Fisches, keine Erlösung von der Arbeit für die Besatzung. Es gibt nur den traurigen Schlaf vor dem Fernseher in der Messe und das fraglose Weitermachen bis alles wieder in die Dunkelheit fällt.