Als es vor vier Jahren einen Volksentscheid zur Nutzung des Tempelhofer Felds – ehemals der Berliner Innenstadt-Flughafen – gab, mit dem die Berliner den Bebauungsplänen des Senats für das Riesenareal einen Korb gaben, dürften sie eines nicht im Sinn gehabt haben: dass in den zu Zeiten des Nationalsozialismus errichteten monströsen, Terminal, heute das größte Baudenkmal Europas, einmal Menschen einziehen würden. Es gab Nutzungen für Teile des Gebäudes, sicher. Ein schöner Rockclub logiert dort und auch die Modemesse „Bread & Butter“ hatte dort namensgerecht dick aufgetragen. Aber ein Wohnhaus, das war das Flughafengebäude bestimmt nicht.
Bis zum September 2015, als Deutschland rund eine Million Flüchtlinge aufnahm. Da war Leerraum dringend gesucht. Irgendwann waren die Turnhallen Berlins gefüllt, im angrenzenden Stadtteil Neukölln belegten Migranten den stillgelegten C&A. Da kam man auf die verrückte Idee, auch die Hangars des Flughafens zum Übergangswohnheim zu trimmen. Wie die rund 2.000 Menschen leben, die man dort einquartiert hatte, blieb oft der Spekulation überlassen: Presse und Fernsehen erhielten selten Zugang zu dem Gebäudekomplex. Man wolle die Privatsphäre der Menschen schützen, hieß es seitens des Betreibers. So machten Gerüchte die Runde von überquellenden Toiletten, von Bustransporten zu Duschen irgendwo in der Stadt. Von Achtbett-Zimmern und irrsinnigem Lärm, der die Kriegsversehrten dort unter massiven Stress setzte. Dass der Flughafenkomplex Filmkulisse sein könnte, kam schon mehreren Filmemachern in den Sinn. Selbst Jennifer Lawrence drehte hier schon die „Tribute von Panem“.
Das Gebäude selbst zum Hauptdarsteller zu machen, blieb jedoch dem brasilianischen Regisseur Karim Aïnouz vorbehalten. Als Spezialist für Liegenschaften – zuvor drehte er einen Film über das Centre Pompidou in Paris – und dezidiert politischer Filmemacher, der Minderheiten in den Blick nimmt, begann er vor drei Jahren mit den Dreharbeiten über das gigantische Bauwerk, in dessen weitläufigen Garten, dem Rollfeld, sich die Kite-Surfer und Urban-Gardening-Aktivisten tummeln. Und in dessen Innenausstattung Tausende Bürgerkriegsflüchtlinge warten, dass sie Anerkennung, Wohnung und Arbeit finden, kurz: eine bessere Zukunft. Das Ergebnis heißt „Zentralflughafen – THF“. Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Führung für Touristen. Dies sei einmal der „schönste und größte Flughafen der Welt“ gewesen, erklärt der Guide. Nun dürfte er das besonderste Übergangswohnheim sein. Auf drei Monate sollte der Aufenthalt dort ursprünglich begrenzt sein. Manche Flüchtlinge sind jedoch schon über ein Jahr dort.
Wer lebt innerhalb dieser Mauern? Aïnouz‘ Protagonisten, der 18-jährige Ibrahim, der vor dem Bürgerkrieg floh, und der irakische Mediziner Qutaiba, träumen davon, endlich anzukommen. Ein Jahr lang hat Karim Aïnouz den Alltag der beiden mit der Kamera begleitet, verrückte Bilder sind dabei entstanden. Etwa wenn Ibrahim auf einem Sofa vor dem Gemälde der Ampelmännchen sitzt.
Aïnouz weiß, wie man Menschen in Gebäuden inszeniert. Nach Architekturstudien in Brasilia und einem Filmstudium in New York wirkte er als Regieassistent, Drehbuchautor, Produzent und schließlich als Regisseur bei mehr als 20 Filmen mit. Auf der Berlinale 2014 war er mit „Praia do Futuro“ im Wettbewerb. Die prägendste Szene: Der Hauptdarsteller Wagner Moura reinigt als Taucher das Aquarium im Aquadom am Alexanderplatz. Der Taucher inmitten der Fische lässt die massive Architektur schwerelos erscheinen.
Ähnlich transformieren die Protagonisten in „Zentralflughafen THF“ ihre temporäre Behausung – die Nazi-Architektur wird lebendig. Sein Film diene ihm auch zur Bewältigung seiner eigenen Migrationsgeschichte, sagt der Regisseur, gerade in Ibrahim erkenne er sich wieder. Auch er sei als Jugendlicher zwischen den Kontinenten unterwegs gewesen, als er von Brasilien zu seinem Vater nach Frankreich zog. Er habe einen Film über die Solidarität machen wollen, die Menschenrechte im Hinterkopf. „Ich war schockiert, als ich gesehen habe, wie die Leute dort leben.“
„Zentralflughafen THF“ ist ein Film über ein irres Gebäude. Es sei nicht zum Wohnen gedacht, sagt Aïnouz. Das Unangenehmste: „Die Geräusche.“ In der Tat kommen die sehr lauten Durchsagen rüber, als sei der Flughafen noch in Betrieb. Sie lassen den Funktionsbau erahnen und können einen geradezu erschrecken – zum Beispiel, wenn über Lautsprecher zum Impfen gerufen wird. Daneben hallen Kindergeschrei und Arbeitsgeräusche durch die Hangars. Es stellen sich unschöne Assoziationen ein. „Würde man in meinem Film den Ton abdrehen, wirkt alles friedlich“, sagt der Regisseur. Erst der Lärm mache deutlich, dass dies ein Ort der Gestressten sei.
Dennoch ist dies ein ruhiger, ein eleganter und unvermutet hoffnungsfroher Film. Das liegt nicht zuletzt an den Protagonisten. Ibrahim ist zwar traurig, wenn er an den Verlust der Heimat in Syrien denkt. Einmal sitzt er mit zwei anderen auf einer Bank im Freien und raucht Shisha. „Der Blick auf das Feld ist so sensationell, ich werde nie woanders wohnen wollen“, sagt einer. Schallendes Lachen.
Voller Hoffnung bereitet sich Ibrahim mit Sprachlehrern und Jobvermittlern auf ein neues Leben in Deutschland vor.
Und Qutaiba? Der ist sowieso eingespannt. Er arbeitet als Sanitäter und Übersetzer. Sagt, dass man auf jeden Fall jede Gelegenheit zur Arbeit nutzen soll.
Wo andere Filme drastische Zustände mit drastischen Bildern beschreiben, bleibt dieser Film cool und zurückhaltend und zieht die Zuschauer auf diese Weise für das Geschehen. Der Zugang ist denkbar cineastisch: Der stillgelegte Flughafen mit den immensen Ausmaßen dient als Kulisse für die große Erzählung von Flucht und Migration. Ankunft und erst mal kein Abflug. Die Flüchtlinge bewohnen eine Metapher. Man möge den Film unbedingt auf großer Leinwand sehen, empfehlen die Protagonisten. Und draußen? Fährt die Kamera nachts mit den Parkwächtern über das weitläufige Gelände, zur Wildtierbeobachtung. Diese Nacht werden Füchse gesichtet. Ironisch gebrochen erzählt der Film seinen Stoff. In brillanter Montage Gleichzeitigkeiten schildernd.
„Zentralflughafen THF“ wurde dieses Jahr bei einer Auswahl von insgesamt zwölf Filmen mit dem Filmpreis von Amnesty International ausgezeichnet. In der Jury saßen neben der Schauspielerin Friederike Kempter die Leiterin der Abteilung „Kampagnen und Kommunikation“ von Amnesty International, Bettina Müller, der Regisseur Ali Samadi Ahadi, selbst preisgekrönter Dokumentarfilmer („The Green Wave“, 2009). Er sagt: „Das ist ein sehr schöner Film, rund und positiv. Ein Film, der den Zuschauern die Einladung ausspricht hinzugucken.“ Wir lebten in einer Zeit, wo uns die Ohnmacht angesichts der Zustände die Luft zum Atmen nehme. „Das Sanfte, das Ruhige, mit den Leuten mitzugehen, tut den Zuschauern gut.“
Dass die Jury auch durchaus andere Herangehensweisen zu würdigen wusste, kam mit der besonderen Erwähnung des Films „Eldorado“ (Kinostart: 3. Mai 2018) zum Ausdruck: Er wurde bei den Rettungseinsätzen im Mittelmeer gedreht, zeigt Tote, Verletzte und Sklavenarbeiter in Italien. Aïnouz‘ Film hingegen motiviert das Warten – auf Papiere, Zulassungen, Erlaubnisse. „Mit Wärme und Humor porträtiert der Regisseur das Engagement der vielen Helfer und zeigt, wie wichtig Mitmenschlichkeit ist.“ Der Film „lädt die Zuschauer ein, hinzusehen und mitzumachen und trägt damit eine Botschaft, die in der heutigen Zeit wichtiger ist denn je“, heißt es in der Laudatio der Jury. „Er begegnet den Menschen auf Augenhöhe“, sagt Friederike Kempter.
Dieser Text erschien zuerst in: Amnesty Journal 4/18