Alle Farben der Psychedelik: Ein Bericht vom 4. Terza Visione – Festival des italienischen Genrefilms

von Nicolai Bühnemann


Vom 27. bis zum 30. Juli 2017 fand zum vierten Mal das „Terza Visione – Festival des italienischen Genrefilms“ statt. Da es gerade für den Bereich der Filmgeschichte, um den es hier geht, das italienische Genrekino der Fünfziger bis Achtziger Jahre, viele Aficionados gibt, lud das Kuratorenteam Andreas Beilharz und Christoph Draxtra aus Platzgründen diesmal nicht ins Nürnberger KommKino, sondern erstmals ins Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main ein.

Wie auf allen Veranstaltungen aus dem Dunstkreis des Hofbauer-Kommandos, dem Andreas und Christoph angehören, wurden auch hier alle Filme von 35mm gezeigt. Die erklärte Aufgabe des Festivals ist es einerseits, Werke der großen Heroen des italienischen Genrekinos zu zeigen, die dem hiesigen Publikum zwar oft bestens bekannt sind, aber hier womöglich zum ersten Mal in analoger Projektion auf eine große Leinwand geworfen bewundert werden können. Zum anderen soll aber auch ein Forum geschaffen werden für das Abseitigere, wenig bis gar nicht Bekannte, was das populäre italienische Kino der Epoche ebenfalls ausmachte. Letzteres ist vielleicht gerade deshalb so wichtig, weil die Rezeption dieses Kinos, beeinflusst von der Veröffentlichungspolitik der meisten hiesigen DVD-Labels, in Deutschland immer noch hauptsächlich nach der Devise abläuft: Violence sells. Veröffentlicht wurden und werden also hauptsächlich die Splatterfilme, einige der harten Polizei- und Gangsterfilme, Italo-Western und die sogenannten Gialli. Schon der Blick ins Programmheft offenbart, dass all das genante zwar auch zu diesem Kino gehört – aber eben auch noch so viel mehr.

Man kann argumentieren, dass die vierzehn Filme, die auf diesem Festival gezeigt wurden, vierzehn verschiedenen Genres zuzuordnen sind. Es liefen also (und diese Aufzählung ist auch dazu da, eben die schier unfassbare Bandbreite vor Augen zu führen, die mich immer wieder aufs Neue verblüfft, auch wenn ich in diesem Text nicht auf alle Filme des Festivals eingehen werde, ja, ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten konnte ich nicht einmal alle sehen): eine Pop-Art-Comicverfilmung: „Diabolik“ (Mario Bava,1986), ein Psychothriller: „Una lucertola con la pelle di donna“ („Lizard in a Woman’s Skin“, Lucio Fulci, 1971, ich verwende an dieser Stelle bewusst nicht den inzwischen recht umstrittenen Begriff Giallo), ein Sandalenfilm: „La rivolta di sette“ („Blutgericht“, Alberto Di Martino, 1964), ein Melodram: „Chi è senza peccato…“ („Wer ohne Sünde ist…“, Raffaello Mattarazzo, 1952), ein surrealistischer Mystery-Film: „Arcana“ (Giulio Questi, 1972), ein Mondofilm: „Svezia, inferno e paradiso“ („Schweden – Hölle oder Paradies?“, Luigi Scattini, 1968), ein Gangster- bzw. Heistthriller: „Un uomo di rispettare“ („Ein achtbarer Mann“, Michelle Lupo, 1972), eine Sexkomödie: „La Sposina“ („Kleine Braut, was nun?“, Sergio Bergonzelli, 1976), ein Prostitutionsdrama: „Ingrid sulla strada“ („Ingrid auf der Straße“, Brunello Rondi, 1973), ein Söldner-Actionfilm: „Rolf“ (Mario Siciliano, 1984), ein Mantel- und Degen-Film: „Il magnifico aventurriero“ („Mit Faust und Degen“, Ricardo Fredda, 1963), ein Sexfilm: „La fine dell’inocenzza“ („Das Ende der Unschuld“, Massimo Dallamano, 1976), ein Western: „La notte dei serpenti“ („Die Nacht der Schlangen“, Guilio Petroni, 1969) und schließlich ein Horrorfilm, wie ihn nur Dario Argento drehen konnte: „Phenomena“ (1985).

 

Szene aus „Diabolik“, Copyright: Paramount

„Diabolik“ (Mario Bava, 1968)

Einen großen Teil der ersten Hälfte seines Bildungsauftrags, also Filme der bekannten Maestros zu zeigen, erfüllte das Festival gleich am ersten Abend mit einem Bava/Fulci-double feature. Wer Mario Bavas „Planet der Vampire“ („Terrore nello spazio“, 1965) kennt, weiß, dass dieser Regisseur nicht nur aus kleinsten Mitteln größten Effekt erzielen, sondern dabei das Defizitäre zu einer ganz eigenen ästhetischen Agenda erheben konnte. Auch im drei Jahre später entstandenen „Diabolik“ gibt es herzige Pappkulissen, bei den typischen Auto-Rückprojektionen, die schon im klassischen Hollywood leicht zu durchschauen waren, sieht man hier sehr deutlich die Umrandung der Personen, die sie vom Hintergrund trennt, und ein Zug auf einer Brücke ist eindeutig als Spielzeug zu erkennen. Bava lud in eine Welt infiniter Künstlichkeit, was „Diabolik“ auch zum besten Eröffnungsfilm eines Festivals macht, den man sich nur wünschen kann. Wie könnte ein Film zu Menschen, die den Großteil der nächsten Tage in einem Lichtspielhaus verbringen werden, besser sagen: Willkommen im Kino!

Das ist sicherlich toll genug, aber die sprichwörtliche andere Seite der Medaille ist, dass „Diabolik“ gleichzeitig vielleicht der quintessenzielle Film über die Sechziger ist – und das nur in erster Linie ästhetisch. Neben den Interieurs, denen das Jahrzehnt aus allen Poren zu strömen scheint, neben Morricones psychedelischen Klangewelten und Bildern von kiffenden Hippies geht es auch um das Narrativ, für das gerade das Entstehungsjahr des Films oft emblematisch steht: das Aufbegehren gegen das Establishment.

Besagtes Establishment nimmt dann auch deutlich faschistoide Züge an. Der Innenminister (Terry Thomas gibt ihn schön pikiert) führt aufgrund der steigenden Kriminalität die Todesstrafe wieder ein. Michel Piccoli spielt Inspektor Ginko, den einzigen der Gegenspieler des Superräubers Diabolik (John Philip Law), der nicht vollständig der Lächerlichkeit überantwortet wird, der aber im Kampf gegen die Titelfigur mit dem Syndikatsboss Valmont paktiert, dem Adolfo Celi deutlich karikatureske Züge verleiht. Letzterer lässt übrigens an einer Stelle demokratisch über einen Plan abstimmen – nur um die, die dabei nicht seine Position vertreten, sogleich aus dem Leben zu befördern. Während der Rede des Innenministers mischen sich Diabolik und seine Freundin Eva (Marissa Mell) unter die Gäste und verströmen Lachgas, gegen das sie sich selbst mit den entsprechenden Pillen immun machen. Auch wenn es den beiden nicht um den Umsturz geht, sondern nur darum, ihre Widersacher dem Spott preiszugeben, mag man hier ein Zitat von Peter Paul Zahl anklingen hören: „Die andere Kultur zur herrschenden Barbarei: Ein Lachen wird es sein, das euch vernichtet.“

Wie sieht diese andere Kultur nun aber aus in diesem Film? Nun, stehen Diabolik und Eva für eine Art Anarchie, dann ist diese keine politische im eigentlichen Sinne, sondern eine durch und durch hedonistische. Nach dem ersten Coup in ihrer unterirdischen Höhle angekommen, gehen sie zunächst ausgiebig duschen, räkeln sich dann auf dem Sofa in protzigen Interieurs, die hier noch nicht wie in der folgenden Dekade bei Fassbinder oder auch in Romeros „Dawn of the Dead“ (USA 1978) von bürgerlicher Entfremdung und Langeweile künden. Sie schwimmen förmlich im Geld und haben Sex in einem Meer aus Dollarscheinen, das ihre Körper teilweise ganz bedeckt. Sie stellen die Fetische des Kapitalismus einzig und allein in den Dienst des Genusses und lachen seinen verbitterten Vertretern in bester Laune ins Gesicht. Ennio Morricones wieder mal ziemlich unfassbarer Score swingt dazu wunderbar leicht und befreit und unterstreicht damit, dass sich der Film ganz auf ihre Seite schlägt.

Bleiben ein paar Worte zum Frauenbild des Films zu sagen. In einer Einstellung auf dem Boot von Valmont sind er und seine Männer zu sehen, die Lagepläne machen. Im Bildvordergrund befinden sich mehrere Frauen im Bikini, eine von ihnen feilt sich die Nägel. Die Bildanordnung scheint zunächst den ornamentalen Charakter der Frauen im Gangsterpatriarchat zu unterstreichen, sie sind, wie das Schiff, auf dem sie sich befinden, in erster Linie ein Statussymbol, durch das sich die Männer definieren und profilieren. Der Kontext dieses Films aber und namentlich die Art, wie Bava hier den Müßiggang zelebriert, erlaubt wohl auch eine andere Lesart dieser Szene, nach der die Frauen, die es nicht nötig haben sich abzumühen den Männern, die genau das in einem Fort tun, haushoch überlegen sind.

In einer Szene gegen Ende setzt Eva die „Waffen einer Frau“ ein, um einem Lastwagenfahrer sein Gefährt abspenstig zu machen, das sie und Diabolik für ihre Flucht brauchen. Zunächst sehen wir sie aus der Subjektiven des Brummifahrers auf der Straße stehen und den Daumen ausstrecken. Diese Einstellung könnte gut und gerne aus einem Porno späterer Dekaden stammen. Der Fahrer ist von der Schönheit der Frau sichtlich eingeschüchtert, fängt, bildlich gesprochen, geradezu an zu sabbern. Eine solche Szene ist im Genrekino sicherlich nicht neu, aber die schiere Unverschämtheit, mit der die Kamera den wie immer recht spärlich bekleideten Körper Marissa Mells sexualisiert und fetischisiert (in einer Einstellung wandert sie von ihrem Gesicht ihren Körper hinab bis zu ihren Hotpants und dann wieder zurück, als würde sie ihn streicheln) macht daraus eine regelrechte Matriarchatsphantasie, wie sie sich höchstens noch bei Russ Meyer findet. Doch wo in der biblischen Genesis Gott Eva verkündet, dass der Mann wegen ihres Vergehens über sie herrschen soll und so die patriarchale Ordnung begründet, ist Bavas Eva ihrem Mann, der das Teuflische im Namen trägt, gleichberechtigt, in Liebe und Respekt führen die beiden eine Beziehung auf Augenhöhe.

Szene aus „Lizard in a Woman’s Skin“, Copyright: Studiocanal

„Una lucertola con la pelle di donna“ („Lizard in a Woman’s Skin“, Lucio Fulci, 1971)

Wo schon „Diabolik“ in manchen Szenen eine gewisse onirische Qualität aufwies, befinden wir uns dann beim zweiten Festivalfilm direkt in einem Traum – der allerdings ungleich düstereren Sorte. Florinda Bolkan, die hier in ihrer ersten von zwei Hauptrollen auf dem Festival zu sehen war, dessen unbestrittener Star sie damit war, drängt sich zunächst durch einen Zug, panisch, versucht vergeblich sich Zugang zu einem der besetzten Abteile zu verschaffen, rüttelt an den Türklinken, vergeblich. Der Logik eines Traumes folgend, findet sie sich plötzlich im Korridor einer Wohnung wieder, bahnt sich ihren Weg zwischen lauter nackten Menschen hindurch in ihrem Pelzmantel, schamvoll bedeckt und sichtlich zutiefst verunsichert von dem sich frei entfaltenden Begehren um sie herum. Dann hat sie in aufs äußerste stilisierten, poetischen Bildern Sex mit einer blonden und großbrüstigen Frau. Wie die Protagonistin scheint hier auch der Film zur Ruhe zu kommen. Statt der Handkamera, die vorher die rastlose Getriebenheit der Figur verdeutlichte, die verstört auf der Suche nach etwas war, sehen wir nun relativ lange statische Einstellungen, sie scheint am Ziel angekommen zu sein, sich ganz entspannen und hingeben zu können. Dann erwacht sie jedoch in ihrem Bett, sich windend und hin und her wälzend.

Diese erste Szene verdeutlicht, worum es in dem Film geht: das unterdrückte und verdrängte Begehren einer Frau, das versucht zu seinem Recht zu kommen, auszubrechen sucht aus den Fesseln, die die bürgerliche Sexualmoral ihm anlegt. Der Aufbau des Ichs wird hier in einer architektonischen Metapher verdeutlicht. Neben der Wohnung, in der Bolkan eine spießige und sexuell unbefriedigende Ehe führt, feiert die Nachbarin Julia Durer, die Frau aus dem Traum, wilde Sexpartys. Bewusstes und Unbewusstes, das Ich und das Es. Ein Split Screen bringt das auf den Punkt. In der einen Hälfte des Bildes ist Bolkan zu sehen, die eine Zigarette raucht, in der anderen hat ein Paar in der Nebenwohnung ausgelassenen Sex. Extreme Starre auf der einen Seite, wilde Ekstase auf der anderen. In einer Szene sitzen Bolkan und ihr Mann (Jean Sorel) mit einer gediegenen Gesellschaft beim Abendessen, während laute Musik von dem wilden Treiben nebenan kündigt. Es rumort im Unbewussten.

Darum dass die Mauern durchlässig werden, der Traum und die Bedürfnisse, die sich durch ihn artikulieren, in der Realität manifest werden, geht es schon auf der Ebene des Plots. Bolkan träumt schließlich, dass sie die Nachbarin bei einem sexuellen Stelldichein umbringt. Wenig später wird Durer dann tatsächlich ermordet aufgefunden. Einerseits wird sie so dafür bestraft, ein eben von der Gesellschaft, in der sie lebt, nicht geduldetes sexuelles Verlangen in Bolkan auszulösen, andererseits stellt der Messermord die phallische Ordnung des Begerhens wieder her. Das homosexuelle – und also gesellschaftlich nicht legitimierte – Begehren wird so durch brutale Gewalt wieder „heterosexualisiert“.

„Lizard“ ist ein stilistisch ungemein exzessiver Film, dessen formale Gestaltung geradezu prototypisch für die Stilexzesse des Genrekinos der Zeit – und nicht nur des italienischen – stehen kann. Die Kamera ist nervös und agil, die Bilder sind oft ganz und gar durchgestylt, es gibt lange und hektische Zooms, einen immer wieder stakkatoartigen Schnitt, Split Screens und Split Diopter-Einstellungen. Aber die Ausdrucksmittel des Films sind für Fulci nicht reiner Selbstzweck, sondern er stellt sie ganz in den Dienst seiner Erzählung, nutzt sie meisterlich, um von der tiefen Verunsicherung und Verängstigung einer in ihren Grundfesten erschütterten Frau zu erzählen und damit das großartige Spiel Bolkans zu ergänzen.

So sehr sich die ersten zwei Filme des Festivals in Atmosphäre und Ton voneinander unterscheiden, liegen die Gemeinsamkeiten doch auf der Hand: In beiden Filmen gibt es die Gegenüberstellung eines bürgerlich bigotten Lifestyles und eines – auch sexuell – wesentlich „liberaleren“ Gegenentwurfs. Wo Bava aber durch diesen „gegenkulturellen“ Lebensentwurf durch ein Paar personifiziert, das ausgelassen vögelte und dem Establishment Streiche spielte, erzählt Fulci eben von einer Frau, die ihr Begehren so lange verdrängt und unterdrückt, bis es sich schließlich in mörderischer Gewalt manifestiert. Sind beide Filme in ihrer Ästhetik zumindest stellenweise auch das, was man wohl psychedelisch nennt, dann verdeutlichen sie auch die Bandbreite des Psychedelischen von ausgelassen und fröhlich bis düster dräuend – und Morricone, von dem auch die Musik zu Fulcis Film stammt, findet für beide Spielarten bombastische Töne.

„La rivolta dei sette“ („Blutgericht“, Alberto De Martino“, 1964)

Wo die beiden großen Meister Filme drehten, die das Genre transzendierten und in den Dienst ihrer eigenen Zwecke stellten, ging das Festival am nächsten Tag mit einer wesentlich formelhafteren Art von Genrekino weiter. „Blutgericht“ ist ein Peplum, also einer der Sandalenfilme, die in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern ein Gros der italienischen Produktion des populären Kinos ausmachten, bevor sie nach dem Riesenerfolg von Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) durch die Schwemme von Spaghettiwestern abgelöst wurden. Ich kenne mich in diesem Genre absolut nicht aus, habe wohl außer, ich glaube, einem der zwei Sandalenfilme, die Leone vor seinen ungleich bekannteren Western drehte, und den Filmen, die auf den zwei vorigen Ausgaben des Terza Visione liefen, keine weiteren gesehen. Dabei bin ich für die spezifische Art der Schauwerte dieses Genres durchaus empfänglich, seine pompösen Pappkulissen, in denen sich jede Menge gut gebauter und spärlich bekleideter Männer und Frauen tummeln, aber auch für ihre Mischung aus Camp und Pathos. Von „Blutgericht“ ist bei mir gut zwei Monate nach der Sichtung des Films nicht wirklich irgendetwas Detailliertes hängen geblieben. Ich erinnere mich, dass mir als eigentlich ziemlich dogmatischer OV-Gucker die Synchro in diesem Fall ausgesprochen gut gefiel, weil ihr Gaga-Pathos ausgezeichnet mit der restlichen Anlage des Films zu harmonieren schien. Außerdem erinnere ich mich, dass ich mit verdammt guter Laune aus dem Kino kam, die ich an diesem Morgen dringend gebrauchen konnte.

Szene aus „Chi è senza peccato“, Copyright: Rai Cinema

„Chi è senza peccato…“ („Wer ohne Sünde ist…“, Raffaello Matarazzo, 1952)

Mit dem folgenden Film schloss das Festival eine weitere Lücke in einem anderen unterrepräsentierten Bereich seines Feldes, indem es erstmals einen Film von Raffaello Mattarazo zeigte, der mit seinen in den Fünfzigern gedrehten Melodramen als eine Art italienischer Douglas Sirk gehandelt wurde und wird. Wird er in anderen Ländern immerhin soweit beachtet, dass sich etwa die Criterion Collection einiger seiner Filme annahm, fristet er in Deutschland weiterhin ein Nischendasein, werden seine Filme selten bis gar nicht gezeigt und sind nicht auf DVD erhältlich. „Wer ohne Sünde ist…“ erzählt die Geschichte von Stefano, der zum Arbeiten nach Kanada geht, von dort aus der Ferne seine geliebte Maria heiratet, die er nun nachholen möchte, die aber unterdessen in der alten Heimat in allerlei Widrigkeiten verwickelt wird. „Wer ohne Sünde ist…“ ist ein regelrechter Patchworkfamilienfilm, der affektive Bindungen nicht von der biologischen Verwandtschaft her denkt, sondern ausschließlich von dem, was man gemeinsam durchlitten hat.

„Svezia – inferno e paradiso“ („Schweden – Hölle oder Pardies?“, Luigi Scattini, 1968)

Auch ein Mondofilm darf im Programm nicht fehlen. Jene Gattung, die ihren Namen und die Grundzüge ihrer Machart bei dem 1962 unter der Regie von Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi und Paolo Cavara entstandenen „Mondo Cane“ entlieh, um in (semi)dokumentarischen oder auch inszenierten Bildern z. B. die Rituale „archaischer“ Völker zu zeigen und sensationalistisch auszuschlachten. Auch hierbei wird die deutsche Rezeption heutzutage durch die Tendenz von Videolabels beeinflusst, vor allem den Splatter vermarkten zu können. Die US-amerikanischen „Gesichter des Todes“-Filme, die ab 1978 auf den europäischen Erfolgszug aufsprangen, waren schon in meiner frühesten Jugend, damals noch auf VHS-Kassetten, die in den hinteren Ecken der Videotheken gleich neben den Pornos standen, Gegenstand erregter Schulhofdebatten, in denen sie als eine Art Härtetest für angehende Gorehounds wie mich gepriesen wurden. Dass nicht alle Filme des Genres, mit dem ich mich nie eingehender beschäftigt habe, nur auf Schauwerte der blutrünstigen Art angelegt waren, sondern es bei einigen auch um vornehmlich sexuelle ging, habe ich erst durch das Terza Visione erfahren.

Der bei der diesjährigen Ausgabe gezeigte „Schweden – Hölle oder Paradies?“ erzählt in neun Kapitel von der sexuellen Freizügigkeit des titelgebenden Landes – und ist dabei (zumindest in der hier vorgeführten deutschen Synchronisation) härter, als es ein Splatter-Mondo je sein könnte. Wo sich Bava und Fulci gegenüber dem, was dann später als sexuelle Revolution firmieren sollte, auf recht unterschiedliche Weise affirmativ verhielten, da spricht aus Scattinis Film der blanke Regress – zumindest im deutschen Voice-Over, der hier zu hören war, wobei die Bilder bisweilen auch schon unverschämt und übergriffig genug waren, eine absolut groteske Reaktion, in Form eines unbändigen Hasses auf alles, was nicht weiß, männlich, heterosexuell, rückschrittlich und kleinbürgerlich ist.

Besagtes Voice-Over „informiert“ – nur zum Beispiel – über die „Primitivität von Negern“, darüber, dass weibliche Vergewaltigungsopfer zumeist durch ihr Trauma lesbisch würden oder brüstet sich regelrecht mit seiner visuellen Übergriffigkeit, wenn Menschen gefilmt werden, etwa Alkoholiker oder Junkies bei der Befriedigung ihrer jeweiligen Sucht, die eindeutig nicht gefilmt werden möchten.

Die Art, wie der Film sich also die pure Menschenverachtung auf seine Fahnen schreibt, ist allerdings dermaßen überzogen, grotesk und abstrus, dass ich im Kino 87 Minuten lang konstant Tränen gelacht habe. Auch wenn sich in Gesprächen mit anderen FestivalbesucherInnen herausstellte, dass längst nicht alle meine Art von Humor teilten, kamen während des Screenings aus dem Publikum Lachen und Stöhnen und andere schwer definierbare Geräusche. Dieses Lachen hat aber auch etwas Entlarvendes, macht sich der Film doch die heuchlerische Doppelmoral seines Publikums zu eigen, das sich einerseits über den Verfall der Sitten empören, sich aber andererseits auch hemmungslos an deren Resultaten aufgeilen darf. Um einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, könnte man wohl sagen, dass das Voice-Over all das sagt, was die Sarrazins, Pegidisten und AfDlerinnen heute auch endlich wieder sagen dürfen wollen. Der Kommentator verkündet an einer Stelle, warum auch immer, dass in Schweden Sozialismus herrsche, und die Bilder von in einem Meer aus Fahnen geradezu ertrinkenden Menschenaufläufen und Paraden lassen wohl wenig Zweifel daran, dass es sich bei dem derart glorifizierten und propagierten Sozialismus um einen nationalen handelt.

Szene aus „Ein achtbarer Mann“, Copyright: Schröder Media

„Un uomo di rispettare“ („Ein achtbarer Mann“, Michele Lupo, 1972)

„Ein achtbarer Mann“, der Film, der den dritten Festivaltag einläutete, versprach schon in der Ankündigung ein potenzielles Highlight: Kirk Douglas, Florinda Bolkan und Giuliano Gemma in einem Film von Michele Lupo in Cinemascope im Hamburg der frühen Siebziger gedreht und wiederum mit einem Score von Ennio Morricone. Doch so vielversprechend das alles klingt, kann es doch nicht wirklich darauf vorbereiten, was für ein unfassbares Meisterwerk dieser Film dann tatsächlich ist. Die Geschichte klingt auf dem Papier erst einmal denkbar generisch. Der von Douglas gespielte Protagonist will das allerletzte große Ding drehen, nach dem er sein altes Leben endgültig hinter sich lassen kann, um nun mit jeder Menge Geld und seiner Freundin (Bolkan) ein neues zu beginnen. Er nimmt dafür in Kauf, dass er noch einmal in den Knast muss, aus dem er zu Beginn gerade erst entlassen wird, und mutet Bolkan zu, noch einmal auf ihn zu warten.

Die Geschichte vom letzten großen Coup und von der Frau, die am Lifestyle ihres Mannes verzweifelt, sind absolute Standardzutaten des Gansgterkinos. Was diesen Film aber nicht nur von der Masse abhebt, sondern absolut einmalig macht, ist die Art, wie Douglas, Bolkan und Gemma, dessen Figur ebenfalls in Douglas‘ Machenschaften verwickelt ist und dessen kein bisschen verborgenes erotisches Interesse an Bolkan zu einem immer nur angedeuteten, aber nie ganz eingelösten Beziehungsdreieck führt, diese Geschichte mit pulsierendem, ungeahntem Leben füllen. Die drei auf jeweils vollkommen unterschiedliche Weise ungemein markanten DarstellerInnen verleihen ihr eine regelrecht physisch spürbare Intensität, die sich vor allem aus den Blicken speist, die sie einander zuwerfen und aus denen ein Netz von Versprechungen, Erwartungen und Begehren entsteht, in dem sich die Figuren mehr und mehr verfangen, aus dem es für sie schließlich kein Entrinnen geben wird.

Die Gänsehaut, die die Blicke dieses Filmes bei mir verursachten, kulminierte in einer Einstellung gegen Ende, in der Douglas sein Scheitern, das nicht absoluter sein könnte, ins Gesicht geschrieben steht. Wir sehen einen Mann, der alles verloren hat, die Frau, das Geld, das Spiel, sein restliches (freies) Leben – und der Verlust und der Schmerz, die viel zu groß sind, um in Worten artikuliert werden zu können, lässt sich von seinen Zügen ablesen. „Ein achtbarer Mann“ ist großes Schauspielerkino der wuchtigsten Sorte – und dass das Festival diesen zugleich niederschmetternden und beglückenden Film zeigte, ist umso erfreulicher, da es keine andere Art gibt, ihn in auch nur halbwegs angemessen sehen zu können. Die dieses Jahr veröffentlichte DVD ist wohl gekürzt und bietet den, wie gesagt, in Cinemascope gedrehten Film völlig anachronistischerweise im Seitenverhältnis 4:3.

„Rolf“ (Mario Sicciliano, 1984)

Ich war nach dem achtbaren Mann so voll, dass ich den nächsten Film, die Kömödie „Kleine Braut, was nun?“ ausfallen lassen musste. Der Samstagabend endete mit „Rolf“, der wie „Ein achtbarer Mann“ die Geschichte eines Mannes erzählt, dieses Mal war er Söldner in Afrika, der sein altes von Gewalt geprägtes Leben hinter sich lassen will, um in trauter Zweisamkeit mit seiner Freundin Joana zu leben, doch auch hier misslingt das natürlich gründlich. Ohne die Größe von Lupos Film zu erreichen, besticht dieser winzig budgetierte Actionfilm durch die Ernsthaftigkeit, mit der er seine Figuren und seine Geschichte behandelt. Fernab von Ironie oder Camp drehte Mario Sicciliano mit seinem letzten Film, um es mit den denkwürdigen Worten aus der Einführung von Sano Cestnik zu sagen, „ein Machomelodram, in dem Kugeln statt Tränen fließen.“

Szene aus „Die Nacht der Schlangen“, Copyright: SNC M6 Vídeo

„La notte dei serpenti“ („Die Nacht der Schlangen“, Guilio Petroni, 1969)

Als Melodram, in dessen Zentrum eine zutiefst tragische Männerfigur steht, die hier schlussendlich allerdings Erlösung finden darf, stellte sich auch der Western dieses Festivals heraus. In „Die Nacht der Schlangen“ ist in der von dem blonden US-Amerikaner Luke Askew gespielte Protagonist zwar einerseits noch, wie Christoph Draxtra in seinem Programmtext schreibt, „der Archetyp des schweigsamen Fremden“, von der Souveränität eines Clint Eastwood in dieser Rolle, die ihm einige Jahre zuvor seinen Durchbruch bescherte, könnte er aber kaum weiter entfernt sein. Unlucky Luke, wie er sehr passend in einer Facebook-Diskussion über den Film genannt wurde, ist zu Beginn ein absolut gebrochener Mann, der die Erinnerung an ein schweres Trauma in jeder Menge billigem Fusel ertränkt, für den er sich denn auch derart erniedrigt, wie man es sonst wohl nur noch zehn Jahre zuvor bei der Dean-Martin-Figur in Howard Hawks „Rio Bravo“ kannte. Der Film, der deutlich vom New Hollywood geprägt scheint, baut damit eine Brücke zwischen der späten amerikanischen Klassik des Genres und seiner (nicht nur) italienischen Moderne.

Einerseits schreckt der Film nicht vor der genreüblichen Grausamkeit zurück und ist relativ unerbittlich darin zu zeigen, wie wenig sein Protagonist in der Lage ist, seine Rolle zu erfüllen. Luke, der die Aufgabe bekommt, einen Menschen zu töten, übt sich im Schießen – und trifft bei seinen Zielübungen nicht nur ein- oder zwei-, sondern gleich sieben- oder achtmal daneben (als er irgendwann sein Ziel nicht mehr verfehlt, ließ ich mich zu einem Mini-Applaus hinreißen). Andererseits ist der Film trotzdem in seiner Art zu erzählen kein bisschen zynisch. Luke kommt über sein Trauma hinweg, das zu wiederholen er zunächst verdammt schien, und kann schließlich zum Helden werden und (für mich viel wichtiger) genesen. Am Ende entscheidet er sich allerdings gegen die im Raum stehende Familiengründung und zieht alleine weiter. So viel Westerner steckt dann offenbar doch noch in ihm. In seinem Blogeintrag zum Festival schreibt Lukas Foerster: „Schöner Film, den ich sicherlich nie von der überirdischen Kopie trennen können werde, in der ich ihn in Frankfurt gesehen habe. Wie kann man, wenn man diese Kopie projiziert gesehen hat, überhaupt noch irgendein Filmerlebnis ernst nehmen, das nicht zumindest diesen drei Kriterien entspricht: 35mm, Cinemascope und Technicolor?“ Auch bei mir sorgte bereits die Einblendung im Vorspann, die Technicolor und Techniscope verkündete, für ekstatische Glückshormonausschüttung.

Szene aus „Phenomena“, Copyright: Ascot Elite

„Phenomena“ (Dario Argento, 1985)

Schließlich kann natürlich auch kein Terza Visione zu Ende gehen, ohne dass ein Film des Mannes gezeigt wird, der für viele geradezu emblematisch das italienische Horror- und Thrillerkino verkörpert: Dario Argento. Als krönender Abschluss war also „Phenomena“ zu sehen, den mein häufiger Sitznachbar Jochen Werner nicht nur als besten Argento, sondern auch als schönsten Märchenfilm überhaupt bezeichnete. Ich bin gerade dabei, mir in einer Privatretro das gesamte Schaffen Argentos anzusehen, auch die Filme aus seinem heftig umstrittenen Spätwerk, die ich bislang noch nie gesehen habe, und bei dem Wiedersehen mit dem unmittelbaren „Phenomena“-Nachfolger „Opera“ (1987), der vor zwei Jahren ebenfalls auf dem Terza Visione zu sehen war, fiel es mir bei dessen großartigem Ende wie Schuppen von den Augen, was für ein begnadeter Naturmystiker in diesem Filmemacher steckt. Dass ich das bei der Sichtung von „Phenomena“ in Frankfurt nicht erkannt habe, wundert mich inzwischen sehr.

Gleich zu Beginn bei dem Mord an einem Mädchen, das in den Schweizer Alpen den Bus verpasst hat, zeigt Argento in Zeitlupe, wie der Kopf der Sterbenden eine Glasscheibe zerschlägt, während im Hintergrund die Fluten eines Wasserfalls ins Tal hinabstürzen. Wird der Mord selbst somit auch zu einer Demonstration der Naturgewalt, mit der er unwiederbringlich verbunden scheint, ist „Phenomena“ weiterhin auch ein Film über das Rauschen des Windes in den Blättern, über Regen und Feuer – und natürlich auch über allerlei Tiere, die gleich mehrfach direkt in sein Geschehen eingreifen dürfen (am prominentesten wohl: ein Affe mit einem Skalpell).

Die Hauptfigur wird von der ganz jungen Jennifer Connelly gespielt, in die ich (wie wahrscheinlich alle anderen, die den Film in der frühen Pubertät zum ersten Mal sahen) natürlich seit ihrem Auftritt in Leones ein Jahr zuvor entstandenem großen amerikanischen Spätwerk „Once Upon a Time in America“ heftig verliebt war. Dass ihr, die hier beweist, dass sie mit ihrer unglaublichen Ausstrahlung, ihrer regelrecht magischen Aura schon als Jugendliche in der Lage war, einen Film zu tragen, die ganz große Karriere später verwehrt blieb, verstehe, wer wolle. Tatsächlich ist „Phenomena“ ein ganz großes Märchen, über das, was der Jugendlichen, in der sich etwa Gretel spiegeln mag, durch die böse Erwachsenenwelt in einem Schweizer Internat widerfährt. Daria Nicolodi, die sich schließlich als ihre psychotische Gegenspielerin erweist, die von 1975 bis 85 mit Argento liiert war und auch in allen seinen Filmen dieser Zeitspanne auftrat (und auch noch in einigen späteren), war seit „Profondo Rosso“ (1975, übrigens auf ewig mein liebster Argento) nie mehr so gut wie hier als (übertragene) böse Stiefmutter. Toll.