Die erste Szene zeigt ein Hirschpaar im verschneiten Wald. Die beiden Tiere stehen einander zunächst gegenüber, tasten sich dann langsam zueinander vor. Paaren tun sie sich, das ist wichtig, nicht. Nach einem Schnitt sehen wir Kühe, die dicht an dicht in den Stall eines Schlachthofs gepfercht sind. Doch so einfach, wie er diese Dichotomie aus Freiheit und Gefangenschaft, aus dem Wild und den für die Abschlachtung domestizierten Tieren zunächst aufbaut, ist in diesem Film glücklicherweise dann später nichts mehr.
In besagtem Schlachthof in Budapest arbeitet Endre (Géza Morcsányi) als Finanzdirektor. Mária (Alexandra Borbély) tritt hier einen neuen Posten als Qualitätskontrolleurin an. Zum ersten Mal treffen sich die beiden in der Mensa. Er setzt sich zu ihr an den Tisch, um sich vorzustellen. Sie reagiert darauf sehr zurückhaltend, betont förmlich. Schon in ihrer ersten gemeinsamen Szene wird klar, dass da „etwas“ zwischen ihnen ist. Doch will der Film von der erotischen Attraktion, die zunächst hinlänglich bekannten Formeln zu folgen scheint – er versucht sich anzunähern, sie hält ihn auf Distanz –, dann doch etwas anders erzählen. Oder ist diese Attraktion gar keine, die der Film aufbaut, sondern nur eine, die wir Zuschauenden als gelernte Konvention aus so vielen anderen Filmen an ihn herantragen?
Jedenfalls gibt es in der Beziehung zwischen ihnen (die das, was dieses Wort in diesem Kontext eigentlich meint, also eine romantisch sexuelle, bis zum Ende nicht sein wird) bald eine unerwartete Volte. Als ein aus dem Betriebsmedizinschrank geklautes Potenzpulver für Bullen einen kleinen Skandal in der Stadt entfacht, muss sich die gesamte Belegschaft einer Untersuchung durch eine Psychologin unterziehen. Es stellt sich heraus, dass die Bilder von den Hirschen zu Beginn mit Träumen korrespondieren, die sowohl Endre als auch Mária hatten und die zusammenzuhängen schienen: Er nahm in ihnen die Rolle des Hirsches, sie die der Hirschkuh ein. Die Bilder von den beiden Tieren im Wald, denen von Anfang an etwas Onirisches anhaftete, werden im weiteren Verlauf des Films noch häufiger seine eigentliche Handlung kurz unterbrechen. Allerdings nie in der üblichen Form, mit der Szenen gemeinhin in der filmischen Grammatik als Träume gekennzeichnet werden.
Interessant sind schließlich noch die Gespräche, die die Psychologin zuerst mit Endre, dann mit Mária führt: In ersterem guckt er der jungen und attraktiven Frau zunächst mit einem von der Kamera genau akzentuierten Blick auf den Busen. Sie spricht ihn nicht nur darauf an, sondern scheint sich auch mit den Fragen, die sie im Folgenden stellt (zumindest ein Stück weit), für ihre Verdinglichung im Rahmen patriarchaler Normen rächen zu wollen. Dem Film geht es dabei eher um genaue und kühle Beobachtung als darum, Stellung zu beziehen, also etwa ihm zu sagen: Guck nicht so chauvinistisch! Oder aber ihr: Hab dich nicht so!
Die ungarische Filmemacherin Ildikó Enyedi gewann mit ihrem ersten langen Spielfilm seit achtzehn Jahren gleich den Goldenen Bären auf der letzten Berlinale. Verdient ist das schon deshalb, weil „Körper und Seele“ ein Film ist, der das digitale Kino nicht einfach als eine neue Gegebenheit hinnimmt – wie das Gros der gegenwärtigen Produktionen -, sondern zu ihm eine klare ästhetische Agenda entwickelt – wie zum Beispiel Michael Mann, der späte Terrence Malick oder mitunter auch Dominik Graf. Wo letzterer aber in „Der Felsen“ und „Die Freunde der Freunde“ (beide 2002 und also lange vor der endgültigen Umstellung von analog auf digital entstanden) an seinen Videobildern vor allem das Defizitäre als Stilmittel einsetzt, geht es für Enyedi schon um HD-Hochglanzbilder, die auf eine radikale Sichtbarmachung hinauswollen. Am deutlichsten vielleicht in den schrecklich ausführlich gezeigten Schlachtungen, deren kalter maschineller Ablauf mit der Formulierung der „Verarbeitung der Tiere“, die Endre einmal benutzt, schon sehr gut beschrieben ist.
Die genau komponierten und kadrierten Scope-Einstellungen, in denen die Kamera meist komplett statisch bleibt, und zu deren Klarheit eben auch das Aufnahmeformat einen erheblichen Beitrag leistet, konterkarieren das, was in der Handlung, in den Figuren und ihren Motivationen undurchsichtig, opak bleibt. Von Endres Biographie gibt es nur kleine Fetzen, in der (bezeichnenden) Regel in Form verflossener (und einmal gegen Ende auch kurzzeitig wieder verfestigter) Liebschaften. Über Márias Geschichte erfahren wir rein gar nichts.
Beide tauschen sich nun über ihre Träume aus, schlafen im selben Raum, um gemeinsam zu träumen. Gerade ihr Verhalten im restlichen Film scheint sich nun schon irgendwie an gängige Arthouse-Filme über psychisch Kranke Frauen anzulehnen. Sie schaut Pornos. Sie geht zu einem Psychotherapeuten, der eigentlich nur mit Kindern arbeitet, will sich aber nicht an einen anderen, ihrem Alter entsprechenden vermitteln lassen – was schon bestimmte Lesarten irgendwie herauszufordern scheint, aber darum einfach nur einen psychologischen Punkt zu machen, geht es Enyedi hier nicht und auch an keiner anderen Stelle. In einer wahnsinnig tollen Szene hört sie sich in einem Plattengeschäft bis zum Feierabend durch CDs auf der Suche nach „Musik für Verliebte“. (Noch toller ist allerdings tatsächlich, dass dabei letztlich Laura Marlings „What He Wrote“ in ihrem Player landet: einer der schönsten und todtraurigsten Songs, den ich seit sehr langer Zeit gehört habe.) Schließlich unternimmt sie einen Suizidversuch, der gerade durch die kühle Lakonie, die brutale Beiläufigkeit, mit der er inszeniert wird, an die Grenze des Erträglichen geht.
Anstatt sie auszuerzählen und zu deuten, lässt Enyedi ihren Figuren ihr Geheimnis. Am Ende ist der Wald leer, ohne Hirschpaar. Und das Weiß des Schnees tilgt die Bäume langsam aus dem Bild – bis die Leinwand ganz leer ist und zu den Credits Marling noch einmal, aber nun in voller melancholischer Länge der Welt ihren Schmerz an ihr und der Liebe klagen darf.
Am 26. Januar erscheint der Film bei Alamode als DVD, Blu-ray und Video on Demand.