Angewandte Filmkritik #20: Filmerbe
Filmkritiker-Schwester: Schau mal, die Marlene Dietrich.
Filmkritiker-Mutter: Die lebt noch?
Filmkritiker-Schwester: In dem Film schon.
Rettet die Filmarchive: Durch Alterungsprozesse und Vernichtung droht der materielle Verlust von Archivfilmen, heißt es bei der Initiative „Filmerbe in Gefahr“. Die deutsche Filmgeschichte verschwinde immer mehr aus Kinos und Fernsehen, während für ihre digitale Sichtbarkeit zu wenig getan werde. Lest das Memorandum auf www.filmerbe-in-gefahr.de.
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Angewandte Filmkritik #19: Tätowierte Wursthaare
Aus dem Fell haut dich Jürgen Vogel als Ötzi jetzt nicht, obwohl es bestimmt Schwerstarbeit ist, was der wackere Schauspieler da in „Der Mann aus dem Eis“ (ab 30. November im Kino) abliefert. Verliert die Familie, Rachefeldzug, wilde Tiere, Gletscherspalten – Winter in der Steinzeit eben.
Interessant könnte der Film aber unter anderen Gesichtspunkten sein. Im Zusammenhang mit diversen Critical-Whiteness-Debatten tobt seit einiger Zeit ein Streit um die cultural appropiation, das Übernehmen bestimmter Kulturfragmente von Minderheiten durch unbedachte Weiße: Hierzu zählen auch Tätowierungen – deren Ursprung bei den People of Colour anzusiedeln ist. Die ersten Universitätsdozent*innen in den USA sollen schon Tattoos entfernt haben lassen, um ihre der kritischen Weißness verpflichteten Studis nicht zu verärgern.
Insbesondere Rasta-Frisuren stehen seit Hengameh Yaghoobifarahs Beschwerde über das Fusion-Festival 2016 auch hierzulande unter besonderer Beobachtung. Als Weiße/r „Wursthaare“ zu tragen, sei „eine kolonialrassistische Praxis“ und sehe außerdem scheiße aus, schrieb die auf solche Dinge spezialisierte „Missy“-Redakteurin.
In einem Facebook-Post fand ich neulich die Tattoos abgehandelt: „Ötzi war auch tätowiert“, heißt es dort von der nun von Jürgen Vogel verkörperten Gletscherleiche aus dem Ötztal. Sollte diese Art „Kultur“ schon 5.000 Jahre weiß gewesen sein, bevor die Debatte darum aufkam?
Ötzi gilt als älteste Leinwand weltweit. Der Film legt mit einem Paradoxon nach. Vogel, weiß und bereits tätowiert, bevor er die Rolle annahm, erschlägt nach einigen Filmminuten einen seiner größten Feinde: einen Weißen mit akkuraten, 5.000 Jahre alten Wursthaaren. Weiße beuten Weiße aus: Die Filmemacher haben verstanden. Kulturelle Ausbeutung hat offensichtlich eine lange Vorgeschichte.
Mehr Infos derzeit in ihrem Kartoffelkino.
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Angewandte Filmkritik #18: Mutter
(Zwei junge Frauen, eine mit Kinderwagen)
– Ich war in „Mother!“.
– Ist das mit der Band Mutter?
– Nee, aber Anna ist auch schwanger.
– Echt? Und? Hat sie ´nen Freund?
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Angewandte Filmkritik #17: Dem Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt, der am 15. Oktober 85 wird
Filmkritiker: Was ist Filmkritik?
Dietrich Kuhlbrodt: Filmkritik ist scheiße. Deswegen schreibe ich in der Ich-Form über Film. Ich maße mir nicht an, für andere ein Urteil zu fällen. Ich spreche von Filmerfahrung. Man muss selbst etwas beitragen, das kann ich niemandem abnehmen.
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Angewandte Filmkritik #16: Weibliche Filmkritik
Regisseurinnen haben zusammen die Initiative Pro Quote gegründet. Das Ziel ist, den Anteil der Frauen im Regiefach zu erhöhen und zum Beispiel darauf hinzuwirken, dass mehr Filme im Fernsehen zu platzieren, die von Frauen gedreht wurden.
Wie sieht das in der Filmkritik aus? Die Schauspielerin Jessica Chastain hat neulich festgestellt: 90 Prozent der Kritiken stammen von Männern – es ist wie im richtigen Leben: An Sachen herumnörgeln, die andere gemacht haben, das ist nun mal Männerarbeit. Wir brauchen also – nach der Initiative „Pro Quote Regie“ auch eine „Pro Quote Kritik“.
Und was ist mit den zehn Prozent Kritiken von Frauen? Die Autorinnen brauchen gute Nerven und ein stabiles Auftreten: So berichtet die Filmkritikerin Bettina Hirsch von Teilnahmen an Kritiker-Jurys, in denen ihre Kollegen dazwischenreden, ihr das Wort abschneiden oder sonstwie lästige Verhaltensweisen an den Tag legen. Ihre Reaktion: „Ich hebe die Stimme, und zwar richtig. Das hat auf dem Bau auch immer geklappt.“
Rumbrüllen? Auf dem Bau? Hirsch ist nicht nur Filmkritikerin. Nach einem Studium an der Technischen Universität Darmstadt war die diplomierte Architektin viele Jahre bei der Humboldt-Universität zu Berlin als Hochbauleiterin tätig. 2002 kehrte sie den Baustellen den Rücken und arbeitet seitdem als Redakteurin und Radiomoderatorin, der Kino- und Filmmusiksendung „MondayMovieTalk“ bei Alex Berlin. Daneben schreibt sie Filmkritiken. Analog zu „Pro Quote“ sieht Hirsch auch in Kritiker- und anderen Jurys Luft nach oben. Man denke auch an die „Oscar-Debatte“, wo sich herausstellte, dass der renommierteste Filmpreis von einem Komitee vorwiegend weißer Männer vergeben wird.
Wie sich dann die Preisvergabe gestaltet? Meine Erfahrungen sind folgendermaßen: Einmal, als ich in einer Jury saß, lehnte ein Kollege meine Preisvorschläge ab mit dem Hinweis, diese Filme enthielten Musik – „das stört die Bilder“. In einem anderen Fall ermahnte mich ein Mit-Juror, ich solle es gefälligst unterlassen, im Kino zu lachen.
Von Frauen ist mir derlei nicht zu Ohren gekommen. Also klar pro Quote. Nur kann es natürlich sein, dass ich dann gar nicht mehr in der Jury sitze.
Mit Bettina Hirsch und ihren Methoden indes habe ich überhaupt keine Probleme – mein Vater ist Maurer und die Eltern hatten ein altes Haus. Die Kindheit habe ich quasi auf dem Bau verbracht.
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Angewandte Filmkritik #15: M.
Filmkritiker: Wie lang soll meine Kolumne sein?
Redakteurin: Kurz. Gruß M.
Eine Unterschrift wie ein Film über Serienmord.
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Angewandte Filmkritik #14: Schwarz
Mancher Filmtitel gibt Anlass, sich zu wundern. Zum Beispiel, ob der Dokumentarfilm über den für seine Israel-Statements kritisierte Jean Ziegler wirklich „Optimismus des Willens“ heißen muss. „Triumph des Willens“, wo die ganze Willensbildung des Film- oder Sonstwastitelns herkommt, war Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm.
Mancher Filmtitel gibt Anlass, sich zu wundern. Zum Beispiel, wie die deutsche Version eines französischen Streifens lautet. Das Werk mit dem Titel „Bienvenue à Marly-Gomont“ über einen Mediziner aus dem Kongo, der in den siebziger Jahren in einem französischen Dorf, wo man Leute wie ihn noch nicht gesehen hat, eine Praxis übernimmt, heißt hierzulande: „Ein Dorf sieht schwarz“.
Geht’s noch schöner? Ja. Und da wären wir inhaltlich sogar wieder irgendwie ein bisschen beim ersten Beispiel: „Kinostart: 20. April 2017“, teilt der Verleih mit. Wir wollen optimistisch sein: Dieses Jahr sehen wir schwarz an Führers Geburtstag.
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Angewandte Filmkritik #13: Kinoschnupfen
„Die Berlinale ist toll.“
„Ja. Wenn nur die Filme nicht wären.“
Diesen Dialog hab ich dieses Jahr mal wieder bei der Berlinale gehört. Das größte Filmfest der Welt ist für seine Insassen oft Schwerstarbeit. Zum Beispiel für die Filmkritiker: Manche schauen sechs Filme am Tag, viele kommen krank zum Job, insbesondere die Berliner. Denn die beginnen schon Anfang Januar mit den Vorsichtungen. Oftmals haben sie schon 50 Schinken gesehen, bevor das eigentliche Festival losgeht. Die Toiletten in den Festivalkinos zählen zu den interessantesten Biohabitaten der Welt, wen wundert es, dass die Leute zum Festivalbeginn genug Bazillen akkumuliert haben, um eine respektable Erkältung ihr eigen zu nennen?
Eine perfekte Bühne für die erlangten Fähigkeiten bietet – natürlich das Kino: die Wettbewerbsvorführungen für Fachbesucher. Sie finden ab 9 Uhr morgens statt, oft sitzen an die 1500 Menschen im engen Festivalpalast.
Zu Beginn eines jeden Films wird der Berlinale-Spot gezeigt, der dringend mal neu gedreht werden müsste. Seit zig Jahren läuft der gleiche, und man träumt schon von dem Ding mit seinem futuristischen Score.
Wenn der einminütige Film vorüber ist, sollte eigentlich der Wettbewerbsbeitrag starten, was sich aber zuweilen aus technischen Gründen verzögert. Anlass für ein Konzert der besonderen Art: Erst niest einer vorn links, von oben folgt ein Husten. Hier noch ein Schnupfer, dort ein Räuspern. Immer mehr Kranke fallen ein, und ein vielstimmiger Chor ergeht sich in einer grandiosen Aufführung. Wenn jetzt der Film immer noch nicht angefangen hat, gibt es Applaus für jede einzelne Performance.
„Mensch, das ist doch total ungesund, dauernd im Kino, und dann um die Jahreszeit!“, schimpfte mich einmal die Hausärztin aus, als ich schniefend vor ihr saß, um Rat fragend, wie ich meine Berufskrankheit Kinoschnupfen am besten bekämpfen könne. Nichts desto trotz wollte sie sich schleunigst anstecken, gern mit prominenten Viren: „Können Sie mir ein paar Karten für die Premiere des neuen Films von George Clooney besorgen?“
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Angewandte Filmkritik #12: Preisgeld
Zum Deutschen Kurzfilmpreis hat Tabea Rößner, die filmpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, vermeldet: „Wir gratulieren schon einmal vorab allen Nominierten. Wir freuen uns, dass auch in diesem Jahr so viele tolle Kurzfilme nominiert sind und die Szene sich künstlerisch kontinuierlich weiterentwickelt.“
Bei der Auszahlung der Preisgelder gibt es allerdings was zu klären. Rößners schriftliche Anfrage ergab, dass es bereits sechs Fälle gab, in denen Preisträger das ihnen verliehene Preisgeld nicht oder nicht vollständig abgerufen haben. In manchen Jahren nur kleine Beträge, im Jahr 2010 aber auch mal 30.000 Euro. Mit dem Preisgeld sollen eigentlich Folgeprojekte innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren finanziert werden.
Die Kulturstaatsministerin Frau Grütters weiß nicht, warum Preisgelder nicht abgerufen wurden. Auf Rößners Anfrage nicht, und auf meine auch nicht. Na, die hat ja jetzt auch mit der Berliner CDU genug zu tun. Ist aber auch nicht schlimm. Was übrigbleibt, wird woanders in die Filmförderung gesteckt.
Beim Bundesverband Deutscher Kurzfilm erzählt man, dass die Regisseure mit ihren Folgeprojekten wohl noch nicht so weit waren, in die das Preisgeld gesteckt werden soll. „Die Summen auch in die Stoff- bzw. Projektentwicklung zu investieren, ist ihnen nicht gekommen“, wie Geschäftsführerin Jana Cernik mitteilt. Und sagt, dass „die Kommunikation hinsichtlich der Reinvestitionsmöglichkeiten besser sein könnte“. Das wär auch mal ein schöner Kurzfilmtitel.
„Wir denken, dass man noch mehr für die gesamte Kurzfilmbranche erreichen könnte, wenn er bekannter wäre“, sagt Cernik, und überlegt, „die Intensität der PR-Aktivitäten“ zu verbessern.
Das ist schön, denn das heißt, dass die deutschen Kurzfilmregisseure den Deutschen Kurzfilmpreis nicht kennen. Da müssen Mauern zum Einsturz gebracht werden. Dafür gibt es ein probates Mittel: „Wir würden gerne einen Runden Tisch einberufen, um gemeinsam mit dem Bundeskulturministerium, den Kurzfilmverleihern und Festival- und Hochschulvertretern über eine Verbesserung dieses für den Kurzfilm so wichtigen Preises nachzudenken.“
Der den Kurzfilmern zu unbekannt, zu kompliziert oder nicht wichtig genug ist.
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Angewandte Filmkritik #11: Dienst am Film
Zu Kreuze kriechen – das man dazu zuweilen wirklich gezwungen ist, zeigt die Filmkritik, das zweitärmste unter den journalistischen Genres (das ärmste ist der Lokaljournalismus). In einem offenen Brief wendet sich der Verband der deutschen Filmkritik an Kardinal Reinhard Marx, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz in Sachen „Filmdienst“. Das ist Deutschlands älteste Filmzeitschrift, gerade fällt die Klappe. Gottesdienst statt Arbeit am Film: Das Dingen steht vor dem Aus.
Nach dem Krieg wollten sich die Kirchen in Deutschland nicht noch mal die Butter in Sachen Jugend vom Brot nehmen lassen und investierten massiv in das Kino. Auch die Protestanten verfügen daher über ein eigenes Filmmagazin: „EPD-Film“. Der „Filmdienst“ nun wird den Katholiken wohl zu teuer und den Lesern zu öde; das Schicksal vieler Printmagazine. Man wolle vielleicht ins Internet – mal wieder, das schnöde Controlling macht auch vor der Kirche nicht halt.
Bereits zum Juli 2016 war der freie Verkauf des „Filmdienst“ eingestellt worden, was vom Kritiker-Verband als beunruhigendes Signal für die bevorstehende Entwicklung gedeutet wurde: „Gesellschaftskritische, umfassende und verantwortungsvolle Filmpublizistik befindet sich damit in gravierender Weise auf dem Rückzug. Wir appellieren an die Katholische Kirche, die Bewegtbilder nicht leichtfertig der von ökonomischen Aspekten geleiteten Filmverwertung zu überlassen und sich weiterhin engagiert, filmhistorisch und ästhetisch kompetent zu äußern.“
So, Kirche. Jetzt machst du einmal was Schönes mit deinem vielen Geld und bewertest Filme weiterhin, gesellschaftskritisch bitte. Und gibst gefälligst den „Filmdienst“ weiter raus! Allein schon wegen des Namens.
Diese Texte sind zuerst erschienen in: Konkret
Hier geht es zur Angewandten Filmkritik #1-10
Bild: Woody Allens „Annie Hall“ (1977) (© MGM / 20th Century Fox)