Blog Archives: 2017

Magische Momente 28

( , Regie: )

L’homme à la valise (Der Mann mit dem Koffer)
von Klaus Kreimeier

In den letzten fünf Minuten könnte die Geschichte beinahe ins Melodrama kippen, wenn das in einem Film von Chantal Akerman überhaupt denkbar wäre. Die Kamera blickt in ein dunkles Zimmer …

In den letzten fünf Minuten könnte die Geschichte beinahe ins Melodrama kippen, wenn das in einem Film von Chantal Akerman überhaupt denkbar wäre. Die Kamera blickt in ein dunkles Zimmer – Schreibmaschine, herumliegende Utensilien und eine schief hängende Gardine sehen nicht gerade nach einem geordneten Alltag aus. Langsam schält sich eine junge Frau aus dem Bett und lauscht. Aus dem Nebenzimmer dringen Geräusche, Schritte. Harte, metallene Töne knallen, als wollten sie sagen: Jetzt ist Schluss! Ein schwerer Gegenstand, eine Kiste oder ein Gepäckstück wird über den Boden geschleift. Wie in Zeitlupe steht die junge Frau auf, wandert auf Zehenspitzen, als balanciere sie auf einem Schwebebalken, zur Tür. Sie sieht dabei aus wie ein etwas wackliger Clown. Sie lauscht. Nebenan wieder Schritte, das Schleifgeräusch, dann ein unterdrücktes Keuchen. Die Frau steht jetzt dicht an der Tür, die Arme und das Gesicht gegen das Holz gepresst. Sie schluchzt fast unhörbar, ein kaum merkliches Zucken geht durch ihre Schulter. Noch einmal Schritte, im Flur fällt eine Tür ins Schloss. Es ist nun still. Die Frau öffnet ihre Zimmertür, schlurft in den Korridor, lehnt sich wie kraftlos gegen die Wand, schlurft weiter, bis sie das Ende des Flurs erreicht hat und zu einer ganz kleinen Schattenfigur geworden ist.

Die Belgierin Chantal Akerman hat (bis zu ihrem Suizid im Oktober 2015 in Paris) fünfundvierzig Filme gedreht. „L’homme à la valise“ (1983) gehört mit 61 Minuten zu den längeren. Wie so oft ist sie ihre eigene Darstellerin, bilden Arbeitszimmer, Küche, Bad, ein langer Flur den Set. Die Story ist so spröde wie die Hauptfigur, wie das Inventar der kleinen Wohnung, wie der kühl registrierende Blick der Kamera (Maurice Perrimond, Marie-Cécile Thevenin) und wie die knappen Kommentare der Musik (Jerome Levy). Die junge Frau, von einer Reise zurückgekehrt, will arbeiten, sie schreibt an einem Drehbuch – nun findet sie ihre Wohnung von einem jungen Mann (Jeffrey Kime) besetzt, der für unbestimmte Zeit zu bleiben gedenkt, der offenbar selbst schreibt und nun, zwei Köpfe größer als die schmächtige Chantal, als Fremdkörper in ihr Leben ragt. Worte werden kaum gewechselt, zu einer Beziehung, welcher auch immer, kommt es nicht. Im Gegenteil: Chantal verschanzt sich in ihrem Schlafzimmer, möbliert es um zum Wohn- und Arbeitsraum und entwirft für ihre täglichen Verrichtungen einen minutiösen Zeitplan, um Begegnungen mit dem ungebetenen Gast in Bad, Küche oder Flur zu vermeiden. Über die sinistre Szenerie ergreifen nun Geräusche die Macht, über die kargen Bilder triumphiert die Dramaturgie des Tons (Jean-Claude Brisson).

Chantal lauscht. Sie lauscht auf das Kommen und Gehen des jungen Mannes, auf das Summen seines Elektrorasierers, sein Plätschern und Pfeifen im Bad. Sie lauscht, wenn er seinen Typewriter scheppern lässt oder in der Küche krachend den Toaster betätigt. Sie nimmt den Kampf auf: Sie putzt sich die Zähne, als wolle sie die Bürste zerfetzen, und sie hackt wie besessen auf ihre eigene Schreibmaschine ein. Sie protokolliert die Uhrzeiten, sie protokolliert Stunde um Stunde den feindlichen Lärm. Sie schleicht durch ihr eigenes Zimmer, um nicht den leisesten Pieps von nebenan zu überhören. Mit höchster Konzentration führt sie eine aberwitzige Abwehrschlacht. Was „zwischenmenschlich“ blockiert ist, zerplatzt im Soundtrack – und wie das geschieht, ist das gleichzeitig von schizophrener Komik und lächerlicher Traurigkeit.

In den letzten zwei Minuten sitzt Chantal Akerman an ihrem Schreibgerät, mit dem Rücken zur Kamera, sie schreibt und schreibt – und ihr Schreiben klingt nun wie das Rattern eines auf Dauerfeuer gestellten Maschinengewehrs.

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lost translation coppola

Magische Momente 27

( , Regie: )

Lost in Translation
von Klaus Kreimeier

Die schönsten Liebesszenen spielen in Hotelzimmern. In einem langen Kritikerleben kann es schon mal passieren, dass man solche waghalsigen Thesen zu Papier bringt. Hat man sie aufgeschrieben, findet man sie …

Die schönsten Liebesszenen spielen in Hotelzimmern. In einem langen Kritikerleben kann es schon mal passieren, dass man solche waghalsigen Thesen zu Papier bringt. Hat man sie aufgeschrieben, findet man sie alsbald absurd, verwirft und vergisst sie – bis der nächste oder übernächste Film sie aufs neue schlagend zu bestätigen scheint.

Schlaflos im Tokioter Hotelzimmer, ein filmisches Impromptu in drei Sequenzen. Bob liegt flach auf seinem Bett, Charlotte hockt auf dem Fußboden, im Fernsehen läuft „La Dolce Vita“ mit japanischen Untertiteln. Die beiden kennen sich erst seit ein paar Tagen. Wann oder wo hat man sich eigentlich zum ersten Mal gesehen? Im Aufzug, meint Bob. Sie habe sogar gelächelt. „Ehrlich?“ fragt Charlotte, sie kann sich nicht mehr erinnern. Sie probiert verschiedene Arten zu lächeln aus. „So ungefähr war’s, das Lächeln“, sagt Bob, „vielleicht ein bisschen breiter“. Im Fernsehen planscht Anita Ekberg in der Fontana di Trevi.

Bob Harris (Bill Murray) ist ein alternder Hollywoodstar, der in Tokio seine Berühmtheit für einen Whisky-Werbespot verkauft, die junge Charlotte (Scarlett Johansson) ist liiert mit einem Szene-Fotografen, einem hektischen Möchtegern-Hipster, der keine Zeit für sie hat. In Sofia Coppolas „Lost in Translation“ (USA 2003) hat die Zufallsdramaturgie des Hotellebens die beiden für wenige Stunden zwischen Tag und Traum zusammengeweht. In den Nächten sieht Tokio wie Las Vegas aus, die Tage sind regenverhangen, ratlos erkundet Charlotte zwischen gläsernen Wolkenkratzern und zierlich-bizarren Parks die fremde Stadt. Ikebana und Karaoke, Kultur, Tourismus und fiebriger Kommerz bilden ein surreal wirkendes Gemisch – ein Durcheinander von Zeichensystemen, zwischen denen die Übersetzung gescheitert ist.

In der zweiten Sequenz blickt die Kamera von außen durch eine große Fensterscheibe ins Zimmer mit dem Paar, die Glasfläche reflektiert bildfüllend die elektrische Stadt, Autoscheinwerfer formieren sich zu Lichtketten, es sieht wie glitzernder Regen aus. Dahinter, grauweiß verschwimmend, die Konturen des Zimmers, die bleichen Gesichter von Bob und Charlotte. Sie sprechen über das seltsame Japan. „Warum vertauschen sie hier das R mit dem L?“ will sie wissen. „Och“, sagt Bob, „das machen sie nur so aus Spaß.“ Das Geheimnis der Phoneme, das Problem der Konsonanten – vielleicht sind sie nur Spielmasse im Transitraum zwischen den Sprachen und die Dolmetscher Jongleure, die mit Tausch und Täuschung hantieren.

Schnitt: Kameraaufsicht steil von der Zimmerdecke herab, Bob und Charlotte liegen nebeneinander ausgestreckt, in beinahe steifer Haltung auf dem großen Bett, ein bisschen sehen sie wie umgefallene Zinnsoldaten aus. Charlotte denkt über die Perspektivlosigkeit ihres Lebens nach. Was hat sie nicht alles versucht, Schriftstellerei, Fotografie – „ich weiß einfach nicht, was ich will, ich bin nur Durchschnitt.“ Ist das Leben, fragt sie Bob, einfacher, wenn man verheiratet ist? Ja, meint er, es sei einfacher, aber es werde viel komplizierter, wenn man Kinder hat. Nun sprechen sie über Kinder, sie wenden die Köpfe einander zu, die Kamera beobachtet aus der Nähe ihre Gesichter. Die Pausen zwischen den Sätzen sind genau bemessen: lang genug, um das Nachdenken hörbar zu machen. Wären sie länger, bekäme das Gesagte, mit Seelenschmerz beladen, zu viel Gewicht. Am Ende zeigt die Kamera die beiden wieder von oben. Charlotte liegt auf der Seite, Bob zugewandt, ihre Beine sind angewinkelt, Bobs rechte Hand berührt wie von ungefähr ihren Fuß. Die Kamera guckt, als warte sie, ob noch etwas gesprochen wird, dann kommt der Cut.

Auch die Wünsche der beiden, das, wonach sie sich vage sehnen, verliert sich in einem Transitraum, hält der Übersetzung ins Leben nicht stand.

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Magische Momente 26

( , Regie: )

Det hemmelighedsfulde X (Das geheimnisvolle X)
von Klaus Kreimeier

Nacht und Mondlicht; in der Ferne ist, auf einem Hügel, eine Windmühle zu sehen. Zwei Berittene nähern sich und steigen, als sie die Mühle erreichen, vom Pferd. Sie betreten das …

Nacht und Mondlicht; in der Ferne ist, auf einem Hügel, eine Windmühle zu sehen. Zwei Berittene nähern sich und steigen, als sie die Mühle erreichen, vom Pferd. Sie betreten das halbmorsche Gehäuse, einer hebt eine Falltür und stellt im verliesartigen Keller einen Käfig mit Tauben ab. Schnitt. Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und liest ein Telegramm: „Achten Sie auf das X bei Mitternacht!“ Er geht zum Fenster und betrachtet durch ein Fernglas die Windmühle. Er sieht die beiden Männer, die die Mühle inzwischen verlassen haben; einer von ihnen hebt winkend seinen Arm. Der Mann greift nach der Schreibtischlampe und sendet durch das Fenster zwei Lichtsignale. Dann lässt er sich von seinem Diener in den Mantel helfen und verlässt den Raum.

Der Mann heißt Spinelli und ist ein feindlicher Spion (im Stummfilm liebte man es, ähnlich wie in pädagogischen Romanen, die Figuren mit sprechenden Eigennamen zu kennzeichnen). Die beiden Berittenen sind bezahlte Schurken, die Spinelli helfen, eine politische Intrige gegen den Helden des Films, einen hohen Marineoffizier, einzufädeln. Die Tauben im Käfig sind Brieftauben, und das „X“ im Telegramm ist ein kryptografisches Zeichen für die Windmühle. Aber all das wissen wir noch nicht, erst die verschlungene Handlung wird uns diese Details allmählich enthüllen, und wir brauchen sie auch noch gar nicht zu wissen, weil wir in dieser dreiminütigen Szene mit Schauen und nichts als Schauen beschäftigt sind.

Das Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist ein heiliges Jahr der Kinematografie. Der Film ist, als Technik, knapp zwanzig Jahre alt, Pathé und Gaumont machen seit einem Jahrzehnt mit ihm weltweit ein enormes Geschäft, die New Yorker Studiobosse ziehen nach Kalifornien um, Griffith arbeitet seit 1908 in seinen über 500 One-reelers emsig am Geheimnis der Montage. 1913 erfinden ein paar Besessene in Europa den „abendfüllenden“ Autorenfilm. Einer von ihnen kommt aus Dänemark, er heißt Benjamin Christensen, und sein „Det hemmelighedsfulde X“ („Das geheimnisvolle X“, 1913/14) ist, wie alle feature films dieser Zeit, eine abenteuerliche, etwas wirr erzählte Geschichte, in seinen besten Momenten aber pure visuelle Zauberei.

Ein Film, der die Gegenlichtaufnahme regelrecht inthronisiert. Die Totale mit der Windmühle und den beiden Reitern im Mondlicht sieht aus wie in einem Scherenschnittfilm von Lotte Reiniger. Die nächste Einstellung ist zuerst komplett schwarz. Die Kamera, im Innern der Mühle postiert, hält fest, wie sich die Tür öffnet und von draußen das Mondlicht, streng gerahmt, ins Bildfeld springt. Die Tür schließt sich, zwei menschliche Schemen agieren im tanzenden, torkelnden Strahl ihrer Taschenlampe. Eine Schiebermütze rutscht in den Lichtkegel, darunter ein Schnauzbart und, zwischen Zähne geklemmt, eine qualmende Shagpfeife. Der Lichtstrahl springt auf die sich öffnende Falltür, erfasst den Taubenkäfig und zeigt, wie das Gesicht, zu dem die Mütze, der Schnauzbart und die Pfeife gehören, in einer Luke verschwindet, aus der sich grauer Tabakrauch kräuselt. Am Ende ist nur zu erraten, wie die beiden Männer, eingepackt in Finsternis, sich zur Tür bewegen, sie öffnen und im Mondlicht verschwinden, aus dem sie aufgetaucht sind. In der folgenden Szene zeichnet sich Spinellis Schatten vor einer beleuchteten Glasmalerei ab, die Schreibtischlampe erhellt kurz sein Gesicht, den Text des Telegramms, die Hände, die nach dem Fernglas greifen. Dann der dramaturgische Höhepunkt: das Aufblitzen der Lampe, das Signal für die Komplicen. Hell und Dunkel sind hier keine „Effekte“, sie dämonisieren nicht, wie im deutschen Expressionismus, das Geschehen, sie konstituieren es vielmehr, formen eine Erzählung für unsere Augen, die sich an spärlichen Streifen und Flecken aus Licht durch eine dunkle Verschwörung tasten.

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fassbinder effi

Magische Momente 25

( , Regie: )

Fontane Effie Briest
von Klaus Kreimeier

„Ach, gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön und liebenwürdig.“ Das sagt mit sanft-sehnsüchtig klagendem Singsang der Apotheker Gieshübler …

„Ach, gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön und liebenwürdig.“ Das sagt mit sanft-sehnsüchtig klagendem Singsang der Apotheker Gieshübler (Hark Bohm) beim Antrittsbesuch zu der jungen, schönen, liebenswürdigen Effie Briest, die nun Frau von Instetten heißt (Hanna Schygulla). Gieshübler – schwarzer Anzug, schwarzes Halstuch, schwarze Handschuhe, den schwarzen Zylinder auf dem Schoß – sitzt wie ein Beerdigungsunternehmer da, auf einem weißen Sofa, links neben seinem Kopf der üppige Schenkel eines weißen Marmorknaben, rechts ist in einem Spiegel das Gesicht der Hausherrin im Profil zu sehen. „Persönlich kann ich in dieser Frage vielleicht nicht mitsprechen“, fügt er hinzu. Seine Augen sind hinter dicken Brillengläsern versteckt. „Personen meines Schlages sind nie jung. Das ist das Traurigste von der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen zu sich selbst, die Jahre vergehen, man wird alt, und das Leben war arm und leer.“ Während er das sagt, senkt er sacht den Kopf und erstarrt, neben dem drallen Hintern der lebensfrohen Putte, zu einem Inbild vornehm disziplinierter Melancholie.

Gieshübler – sagt an dieser Stelle Rainer Werner Fassbinders Erzählerstimme mit dem Text Theodor Fontanes – hätte nun gern ein schwärmerisches Liebesgeständnis gemacht. „Da dies aber nicht ging“, nimmt er nur seinen schwarzen Hut, steht auf, verbeugt sich und zieht sich formvollendet zurück, „ohne ein Wort gesagt zu haben.“ Das fragt man sich immer wieder während dieses wunderbaren, mit genau kadrierten Schwarzweißaufnahmen und Weißblenden konstruierten Fassbinder-Bilderbogens „Fontane Effie Briest“ (1974): Warum „geht das nicht“? Warum geht es nicht, dass Menschen einfach abstreifen, was sie quält und bedrängt, dass sie ihre Fesseln sprengen, sich auflehnen und hinter sich lassen, was sie unterdrückt?

In der Küche der Instettens regiert die Haushälterin Johanna (Irm Hermann). Sie steht links im Vordergrund, schwarz gewandet, hoch geschlossen, zur Statue verhärtet, spitz und streng. Zwischen Herd und Tisch: die junge polnische Köchin (Barbara Lass), sie schält Gemüse, neben sich ein lebendes schwarzes Huhn. In die Stille hinein singt sie ein polnisches Lied, sie singt es leise vor sich hin, und sie singt es nur für sich. Im Hintergrund geht die Tür auf, fast unhörbar tritt Effie Briest ein, den Blick auf die Haushälterin gerichtet, diese wendet den Kopf über die Schulter zu ihr hin. Selbst in der Totalen ist zu sehen, dass Effie die Augen niederschlägt. Schnitt: die Kamera zeigt nah Johannas Gesicht. Ihre Augen, ihre herabgezogenen Mundwinkel drücken Tadel aus – eine Missbilligung, die sich ihren Zügen eingeschrieben hat, mit ihnen verwachsen ist. Rechts neben ihrem Kopf hängt an der Wand (und das ist nun fast überdeutlich) ein Fleischerbeil. Schuss-Gegenschuss: Effie und Johanna, sie starren sich an. Es fällt kein Wort. Schnitt auf die Köchin, sie schält und singt, jetzt ganz im Vordergrund das schwarze Huhn. Effie wagt einen Schritt in den Raum, flüstert: „Kann ich etwas…“ Sie wartet, dreht sich um, verlässt den Raum. Die Köchin schält und singt.

Ähnlich streng komponierte Schwarzweißbilder sind im deutschsprachigen Film erst Jahrzehnte später, in Michael Hanekes „Das weiße Band“ (2009), wieder zu sehen. Hier wie dort: Menschen, die sich aus den Panzerungen des Gesellschaftlichen nicht befreien können, an Atemnot zugrunde gehen. Aber „das Gesellschaftliche“ ist ein weites Feld. Fassbinder hat es genauer sagen wollen und seinem Film einen langen Titel gegeben: „Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.“

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deer hunter de niro

Magische Momente 24

( , Regie: )

The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen)
von Klaus Kreimeier

1975, Allegheny County in Pennsylvania, eine Stahlarbeitersiedlung, die Menschen sind erschöpft, ganz Amerika ist erschöpft vom Krieg. Linda (Meryl Streep), Michael (noch in Uniform: Robert De Niro) und ein paar …

1975, Allegheny County in Pennsylvania, eine Stahlarbeitersiedlung, die Menschen sind erschöpft, ganz Amerika ist erschöpft vom Krieg. Linda (Meryl Streep), Michael (noch in Uniform: Robert De Niro) und ein paar Freunde kommen, am Ende des Films, von einem Begräbnis zurück, vorsichtig heben sie Steven (John Savage) in seinem Rollstuhl in Lindas Wohnwagen, wortlos. Der Raum ist dunkel und eng, man drängt und zwängt sich verlegen zwischen die wenigen Möbel, einer sagt, stellt doch mal zwei Tische zusammen. Der Kaffee kommt gleich, sagt ein anderer, Stühle werden sortiert, stumm setzt man sich an den Tisch. John (George Dzundza) bringt die Kaffeekannen, stellt sie ab, ratlos blicken die anderen auf die Kannen – ach, sagt John, Tassen brauchen wir auch. Alle regen sich jetzt irgendwie, wollen helfen, wollen mit Geschirrklappern die Stille verdrängen, am Ende sind zu viele Tassen auf dem Tisch, auch Schnaps ist da, will jemand vielleicht Bier? Sollte es nicht Rührei geben? Ja, Rührei, sagt Linda, sie will helfen, aber John verschwindet allein in die winzige Küche.

1975 war der Vietnamkrieg zu Ende; zwei, drei Jahre danach drehte Michael Cimino seinen Film „The Deer Hunter“ (USA 1978). Er erhielt fünf Oscars, Miloš Forman adelte ihn zu einem der besten Filme aller Zeiten, andere nannten ihn rassistisch, die Gewaltszenen (US-Soldaten werden vom Vietcong gefoltert) spekulativ. Viele Linke in Europa taten ihn als konterrevolutionär ab, sie vermissten den heldenhaften Kampf und Triumph des vietnamesischen Volkes, von amerikanischem Nationalkitsch war die Rede. Aber „The Deer Hunter“ ist kein Kriegsfilm, er beschreibt die Zersplitterungen und Verstümmelungen, die der Krieg dem „inneren Amerika“, nicht nur den Körpern, auch den Seelen der Menschen und ihren Beziehungen zugefügt hat. Linda, Michael, John und die anderen haben ihren Freund, Lindas Verlobten Nick (Christopher Walken) begraben. Er war, zutiefst verstört, nach dem Krieg nicht zurückgekehrt, hatte sich in Saigon dem Heroin und einem mafios betriebenen Russisch-Roulette verschrieben, es ging um Wetten, um Leben oder Tod und um Geld. Als ihn Michael in die Heimat holen wollte, jagte er sich eine Kugel in den Kopf.

Nun steht der dicke John in der Küche, Rührei also, auch nach Bier wurde gefragt – aber wozu das alles, das Schweigen der anderen liegt wie ein schweres Gewicht auf seinem eigenen Kummer, lastet auf seinen Bewegungen, würgt als Kloß in seinem Hals. Im Wohnraum wandert die Kamera über die Gesichter. Wenn sich die Blicke kreuzen, weichen sie einander aus, als fürchteten sie, sich selbst zu begegnen. Es wird überhaupt nicht richtig hell heute, sagt Angela (Rutanya Alda) plötzlich, und nun gucken alle sie an. In der Küche bearbeitet John das halbfertige Rührei in der Pfanne, er weint.

Und dann geschieht etwas. Ist das nicht ein Summen? Ja, jemand summt etwas, eine Männerstimme, vielleicht ist es John, ein anderer summt mit. Kaum hörbar zunächst, dann stärker werdend schält sich eine Melodie heraus, dann einzelne Worte, die Kamera blickt auf Linda, sie singt jetzt ganz deutlich: „God bless America …“, und die anderen singen erst zögernd, dann kräftiger mit: „… my home, sweet home“. John ist jetzt wieder bei den anderen, auch er singt mit. Ein Lächeln fliegt über die Gesichter, das so aussieht, als staune es über sich selbst. Im Wohnwagen ist es heller geworden. Dann ist das Lied zu Ende, vibriert noch Sekunden weiter, die Menschen schauen sich an, Michael hebt sein Glas: Auf Nick!

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Magische Momente 23

( , Regie: )

Dark Passage (Das unbekannte Gesicht)
von Klaus Kreimeier

Filmtitel sind Glückssache, und wenn ausländische Titel eingedeutscht werden, kommt dabei nur allzu oft ein Unglück heraus. Man muss auf einiges gefasst sein. Dennoch war meine Überraschung groß, als ich …

Filmtitel sind Glückssache, und wenn ausländische Titel eingedeutscht werden, kommt dabei nur allzu oft ein Unglück heraus. Man muss auf einiges gefasst sein. Dennoch war meine Überraschung groß, als ich neulich bei Wikipedia für Delmer Daves‘ film noir „Dark Passage“ (USA 1947) den geläufigen Titel „Das unbekannte Gesicht“ eingab und statt dessen zu „Die schwarze Natter“ weitergeleitet wurde. Für einen Augenblick befielen mich Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Algorithmen. „Die schwarze Natter“ ist ein „Sensationsdrama“ von Franz Hofer aus dem Jahre 1913 (übrigens ein früher film noir par excellence!), aber offenbar haben sich schon die Eindeutscher um 1950 an diesen Stummfilm nicht mehr erinnert oder ihm den Titel einfach geklaut, um das Publikum an der Nase herumzuführen und sowohl die Anhänger des Tierfilms als auch die des Horrorgenres in „Dark Passage“ zu locken. In Österreich lief der Film unter dem Titel „Ums eigene Leben“, und in der DVD-Version hat die schwarze Natter bis heute überlebt, obwohl sich im Kino und in der Fernsehauswertung seit fünfzig Jahren die einigermaßen zutreffende Variante „Das unbekannte Gesicht“ eingebürgert hat.

Die Titelfrage ist von nicht geringer Bedeutung: In ihr verbirgt sich ein buchstäblich augenzwinkerndes Spiel nicht nur mit den Abgründen der Filmfabel, sondern auch mit der celebrity des Hauptdarstellers. Dem flüchtigen Häftling Vincent Parry hat immerhin Humphrey Bogart sein Gesicht geliehen, doch dieses bleibt uns in den ersten sechzig Minuten des Films verborgen. Wir sehen, dank einer brillant eingesetzten subjektiven Kamera (Sid Hickox), in den ersten Sequenzen nur das, was er selbst sehen kann: seine Finger, die sich an den Rand einer Tonne klammern; seine Hände, die ein Kleidungsstück im Gebüsch verstecken; seine Arme, an einen Bretterzaun gepresst; seine durchnässten Schuhe – und später seinen Freund George, der bald erschossen zu seinen Füßen liegen wird. Auch wenn die Kamera die Story aus objektiver Distanz weitererzählt, zeigt sie allenfalls seinen Rücken oder, im Fonds eines Taxis, sein tief verschattetes Gesicht. Parry, unschuldig wegen Mordes an seiner Frau verurteilt, ist aus San Quentin entflohen; um den Polizeihäschern und diversen Widersachern zu entgehen, entschließt er sich zu einer Gesichtsoperation, die sein Antlitz vollends unter einer Bandage verschwinden lässt. Bis ihn, nach der Heilung, Lauren Bacall liebevoll demaskiert.

Diese subtil verlangsamte, in ebenso zarte wie zärtliche Ironie gebettete Szene ist die schönste des Films. Behutsam geht Irene Jansen ans Werk; sie hat Parry auf seiner Flucht aufgelesen, ihm geholfen, ihn in ihrer Wohnung versteckt und ist im Begriff, sich in ihn zu verlieben. Nun will sie inspizieren, was aus dem chirurgisch erneuerten Objekt ihres Begehrens geworden ist. Wir sehen Parrys Kopf von hinten, Irene steht vor ihm, ihr Blick gleitet prüfend über die weiße Bandage, selbst ihr Lächeln bewahrt äußerste Disziplin. Sehr vorsichtig setzt sie die Schere an – „ich verspreche, dass ich Ihnen kein Ohr abschneide“ – , manipuliert Millimeter um Millimeter, Schicht um Schicht den Verband vom Kopf, tupft das Gesicht sorgsam ab – und betrachtet es mit einem langen, ernsten, fragenden, zwischen Spannung und Genugtuung schwebenden Blick. Dann stehen beide vor dem Spiegel, Parry betastet seine Wangen, Irene beobachtet, wie er sein neues Konterfei beäugt. Er sollte sich rasieren, meint sie. Lauren Bacall hat Hollywoods bekanntestes Gesicht freigeschält.

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Magische Momente 22

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Sous le sable (Unter dem Sand)
von Klaus Kreimeier

Das letzte Bild in François Ozons „Sous le sable“ (Unter dem Sand, Frankreich 2000) entlässt den Zuschauer zutiefst verstört. Eine Frau, noch nicht alt und nicht mehr jung, läuft über …

Das letzte Bild in François Ozons „Sous le sable“ (Unter dem Sand, Frankreich 2000) entlässt den Zuschauer zutiefst verstört. Eine Frau, noch nicht alt und nicht mehr jung, läuft über einen Strand. Der Himmel ist grau, der Strand menschenleer, nur in der Ferne steht, dicht am Wasser, eine männliche Gestalt. Es gibt nur den feinen weißgelben Sand, das Meeresrauschen, den grenzenlosen Himmel, und da ist die Frau (Charlotte Rampling), die läuft und läuft und immer kleiner wird, sie läuft auf die männliche Gestalt zu, doch bevor sie sie erreicht, wird das Bild schwarz.

Das Bild ist dreigeteilt: links die karg bewachsenen Dünen, in der Mitte der fahle Strand, rechts das Meer, die Schaumkronen auf den Wellen, klein im Hintergrund der Mann. Marie hat ihn wahrgenommen, als wäre sie aus einem Albtraum aufgewacht – sie läuft, zögernd zunächst, dann schneller in die Tiefe des Bildes, und während sie läuft, mischen sich in das Rumoren des Meeres verhalten ein paar Takte von Philippe Rombis Musik. Die Spur, die Maries Laufen in den Sand zeichnet, wird länger und länger, doch wenn sie selbst ganz klein geworden ist, fast so klein wie die Gestalt, auf die sie zuläuft, gibt es plötzlich einen Punkt, an dem zu erkennen ist, dass der Abstand zwischen ihr und dem Mann sich nicht verringern wird. Wir erkennen: Sie wird ihn nicht erreichen, der Abstand zwischen Marie und ihrem toten Ehemann Jean (Bruno Crémer) ist unendlich groß.

„Sous le sable“ ist ein Film über das Verschwinden. Über die Leere, genauer: die Leerstelle, die ein Verschwundener im Leben eines anderen Menschen hinterlässt. Und darüber, wie dieser andere Mensch versucht, die Leerstelle durch Leugnen, durch Nichtwahrhaben-Wollen aus dem Leben, aus der Welt zu schaffen. Für Marie ist Jean „nicht da“, aber er ist nicht tot. Charlotte Rampling spielt eine Frau, die sich selbst etwas vorspielt, die sich ihr Leben vorspielt, als wären seine Koordinaten nicht zerstört. Alles, was sie nach Jeans Verschwinden unternimmt, steht unter dem Vorbehalt eines „Als ob“: als ob es möglich wäre, wie zuvor ihrem Beruf als Dozentin nachzugehen, als ob es sich von selbst verstünde, ganz locker im Freundeskreis zu verkehren und mit einem anderen Mann zu schlafen. Und wie sie das spielt, wird immer deutlicher, dass sie eine unerträgliche, die Seele zerfressende Trauer in sich niederkämpft. Den Kampf gibt sie nicht auf, selbst dann nicht, als ihr die Polizei beweist, dass ihr Mann vor Monaten im Meer ertrunken ist.

Jemand ist da – und wenige Augenblicke später verschwunden: Ozon zeigt, wie unfasslich für uns die Wahrnehmung der Leerstelle, die Plötzlichkeit des Alleinseins sind, und seine Mittel sind die der äußersten Reduktion. Ein Drama der Lautlosigkeit, fast ohne Worte die Szene am sommerlichen Strand zu Beginn des Films: Marie liegt bäuchlings im Sand, Jean will schwimmen, er geht einfach aus dem Bild. Sie döst ein bisschen, Kinderstimmen wecken sie, sie blickt sich um, sieht, dass Jean nicht da ist, sie greift nach der Wasserflasche, trinkt, zieht ein Buch aus ihrer Tasche, liest, legt das Buch wieder hin, richtet sich auf, blickt um sich, blickt aufs Meer… Sie wird „unruhig“, und mit dieser Unruhe beginnt ihr Kampf. Sie verliert ihn erst im letzten Bild.

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Magische Momente 21

( , Regie: )

El secreto de sus ojos (In ihren Augen)
von Klaus Kreimeier

Eine junge Frau wurde ermordet. Der ermittelnde Justizbeamte, Benjamín Esposito (Ricardo Darín), blättert in privaten Fotoalben, die Kamera schaut ihm über die Schulter auf die Fotos oder zeigt uns schräg …

Eine junge Frau wurde ermordet. Der ermittelnde Justizbeamte, Benjamín Esposito (Ricardo Darín), blättert in privaten Fotoalben, die Kamera schaut ihm über die Schulter auf die Fotos oder zeigt uns schräg von unten sein Gesicht. Er blättert vor und zurück, greift nach einem anderen Album, blättert erneut – das alles geschieht wie beiläufig, doch es ist Arbeit, sein Blick ist konzentriert. Der Ehemann der Ermordeten, Ricardo Morales (Pablo Rago), sitzt ihm gegenüber, kommentiert die Fotos, beschreibt die Situationen, in denen sie entstanden: „Da war sie siebzehn“, sagt er, und dies war auf dem Land, „ein Frühlingspicknick“. Wir sehen sein abgewandtes, nach innen gewandtes Denken, spüren seine Intelligenz und auch sein Staunen, wenn er sagt, er könne es noch immer nicht fassen, wie er dazu kam, „eine so schöne Frau anzusprechen“. Der Beamte blättert weiter, sie sprechen über die Todesstrafe, wäre sie eine gerechte Vergeltung, fragt Esposito – nein, sagt Morales, für diesen unbekannten Täter soll es „ein langes Leben voll unendlicher Leere sein“. Esposito hält kurz inne, blickt Morales an, als denke er über diese seltsamen Worte nach: „Ein langes Leben voll unendlicher Leere“.

Fotografien im Kontinuum bewegter Bilder enthüllen etwas Wesenhaftes, ihre technisch-ästhetische Qualität als stillgestellte Zeit. Mag sein, dass wir etwas in ihnen suchen, was unserem Gedächtnis entglitt und darauf wartet, wiedergefunden zu werden. Dann aber „finden“ wir unverhofft etwas, woran wir nie gedacht haben und was plötzlich wie eine jähe Erkenntnis, ein neuer Gedanke aufscheint. Roland Barthes hat es das punctum genannt, das beim Studium des Bildes „blitzartig“ auftaucht und von dem sich unser Blick nicht mehr abwenden kann – nicht, weil es die Kunst des Fotografen bezeugte, sondern weil es nur besagt, „dass es sich dort befand“.

Hier verleiht das punctum privater Fotos dem Außenstehenden einen detektivischen Blick. Im Film setzt leise, wie aus tiefem Grübeln kommend, Musik ein, während Esposito plötzlich ein Gruppenbild fixiert, es mit einem anderen, dann einem dritten vergleicht und schließlich fragt: „Wissen Sie, wer das hier ist?“ Die Kamera greift aus der Gruppe das Gesicht eines jungen Mannes heraus, zeigt es ganz nah und zoomt am Ende auf die Augenpartie.

„In ihren Augen“ (El secreto de sus ojos) heißt der Film des Argentiniers Juan José Campanella von 2009. In den Augen des Ermittlers weist das punctum, das ihn anstarrt, auf ein Verbrechen, verwandelt sich das Album, in dem er blättert, in einen Steckbrief, nachdem er entdeckt hat, dass der junge Mann, Isidoro Gómez (Javier Godino), auf allen Fotos die Frau von Morales, sein späteres Opfer, fixiert. Im Laufe weiterer Recherchen kann ihn Esposito der Tat überführen; Gómez wird zu lebenslanger Haft verurteilt, kommt jedoch nach kurzer Zeit wieder frei. In Argentinien haben die Generäle die Macht ergriffen, ihre Mordbanden finden für Kriminelle seines Schlages jederzeit eine passende Verwendung. Wenig später wird Gómez auf seinen Ermittler Esposito angesetzt, der seinem Anschlag nur zufällig entgeht. „In ihren Augen“ ist ein politischer Film, der die politischen Zusammenhänge nur andeutet und auf hehre Thesen verzichten kann, weil er das Politische exemplarisch auf ein punctum, auf eine blitzartige „Eingebung“ und einen Kamerazoom konzentriert.

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Magische Momente 20

( , Regie: )

Posle smerti (Nach dem Tod)
von Klaus Kreimeier

Es ist darüber spekuliert worden, wieviel Hitchcocks Film „Vertigo“ (1958) seiner literarischen Vorlage, dem Kriminalroman „D’entre les morts“ (1954) von Pierre Boileau und Thomas Narjac, verdankt. Und spekuliert wurde auch, …

Es ist darüber spekuliert worden, wieviel Hitchcocks Film „Vertigo“ (1958) seiner literarischen Vorlage, dem Kriminalroman „D’entre les morts“ (1954) von Pierre Boileau und Thomas Narjac, verdankt. Und spekuliert wurde auch, ob die beiden Autoren womöglich den Roman „Bruges-la-Morte“ des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach gelesen hatten, der 1892 zuerst als Fortsetzungsroman im „Figaro“ erschienen war. Von diesem Werk wiederum weiß man, dass es Arthur Schnitzler zu seiner Erzählung „Die Nächste“ (1899) inspiriert hat, und wer auf der literarischen Spurensuche so weit gekommen ist, wird nicht zögern, noch einmal die Geschichte „Vera“ (1874) des exzentrischen Villiers de l’Isle-Adam zu lesen und sich daran zu erinnern, dass zu den Vorläufern all dieser Autoren und letztlich auch Hitchcocks kein anderer als Edgar Allan Poe mit seiner Erzählung „Ligeia“ (1838) gehört. An die Stelle der „alten und verfallenden Stadt am Rhein“ bei Poe tritt bei Rodenbach das in nebelschwangere Melancholie versunkene Brügge, bei Schnitzler die Fin de siècle-Stimmung Wiens, bei Hitchcock schließlich das in ewiger Sonne badende San Francisco. Überall aber geht es um eine tote Frau, um ihr Weiterleben in der Seelenwelt ihres Geliebten, um ihr geisterhaftes Wiedererscheinen – und um die von morbider Trauer verhangene Gemütsverfassung, in der die Lebenden durch eine unsicher gewordene Realität navigieren.

Rodenbach hat der Buchausgabe seines Romans Fotografien beigegeben – Bilder, die das einstmals blühende Brügge als Schattenreich und seine Gotik im Stadium der Todesstarre zeigen: eine sieche, dem Verfall ausgelieferte Stadt, in der Gespenster umgehen. Wie andere vorfilmische Medien des 19. Jahrhunderts, die Daguerreotypie etwa oder die Nebelbilder, hatte auch die frühe Fotografie eine Affinität zum Moribunden, zu depressiven Sujets und, dank der Doppelbelichtung, zum Augentrug diaphaner Geistererscheinungen. Kein Zufall, dass der bedeutendste Filmregisseur des zaristischen Russlands, Jevgenij Bauer, als erster Rodenbachs Brügge-Roman für das Kino adaptiert hat, „Gryozy“ („Tagträume“) heißt dieser knapp 38-minütige Film von 1915. Und schon kurz zuvor hatte er, nach einer Kurzgeschichte von Turgenjev, „Posle smerti“ („Nach dem Tod“, 1915) gedreht, einen Film, der seine Figuren konsequent auf der Grenzlinie zwischen Noch-Leben und Schon-Gestorbensein balancieren lässt.

Bereits zu Lebzeiten ist der junge Andrei Bagrov (Vitold Polonsky) ein Untoter, der sich nach dem Tod seiner Mutter in eine vom Plüsch des Second Empire und von schweren Ledersesseln möblierte Klausur der Schwermut zurückgezogen hat. Er erwacht auch nicht zum Leben, als er die schwarzäugig schmachtende Aktrice Zoia (Vera Karalli) kennenlernt. Eine Begegnung im verschneiten Park bricht er ab, bevor sie ein Anfang sein könnte. Er kehrt in seine abgedunkelten Gemächer zurück, und Zoia vergiftet sich in ihrer Theatergarderobe aus Liebeskummer. Andrei, ohne Trost, ist danach nur noch ein Schemen in der Welt: wie die Fotografie Zoias, in die er sich im Licht einer Laterna magica versenkt. Bis sie ihm selbst in seinen Träumen erscheint, ein bleiches Replikat aus dem Jenseits, doch ihm so nah, dass vor ihr alles Wirkliche zu entschweben scheint. Das Kino ist noch keine zwanzig Jahre alt, Bauer aber gelingt ein Stück film pur, reine Kinematografie, die sich in Licht und verlangsamte Bewegung auflöst, wenn Zoias Gestalt als weiße Epiphanie durch ein Weizenfeld gleitet und Andrei leblos in den Ähren liegt, in den Armen der trauernden Toten.

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Magische Momente 19

( , Regie: )

Once upon a Time in America
von Klaus Kreimeier

Wer über Sergio Leones Meisterwerk „Once upon a Time in America“ (1984) spricht, sollte erwähnen, auf welche Version er sich bezieht. Für Europa hat Leone eine ca. 230-minütige Fassung hergestellt, …

Wer über Sergio Leones Meisterwerk „Once upon a Time in America“ (1984) spricht, sollte erwähnen, auf welche Version er sich bezieht. Für Europa hat Leone eine ca. 230-minütige Fassung hergestellt, in der die eher alogische, angestrengt verschlungene Struktur der Zeit- und Erzählebenen in wünschenswerter Kompliziertheit zu bewundern ist. In den USA kam, es ist kaum zu fassen, eine 139-minütige Version ohne Zeitsprünge heraus – wie es heißt, um die amerikanischen Hirne nicht über Gebühr zu strapazieren. Das hatte zerstörerische Folgen. 2012 zeigte Martin Scorsese in Cannes eine digitalisierte Version von mehr als vierstündiger Länge. Meine DVD von 2013 entspricht weitgehend der europäischen Kino-Fassung. Im letzten Oktober kam schließlich auf Blu-ray eine „Extended Edition“ auf den Markt, angeblich der Director’s Cut, aber wer weiß das schon. Doch damit nicht genug – es gibt, bei Wikipedia minutiös aufgelistet, 13 unveröffentlichte Szenen sowie eine Reihe „fälschlicherweise vermuteter Szenen und Versionen“, umrankt von Gerüchten, die es durchaus mit Verschwörungstheorien aufnehmen können. Schwer zu sagen, wie viele magische Momente entweder Kürzungen zum Opfer fielen oder sich in den Falten des unveröffentlichten Materials verstecken. Der Film selbst ist mitsamt der Legenden, die er in die Welt gesetzt hat, ein magischer Moment der Filmgeschichte.

Am Anfang wird eine Frau brutal ermordet, ein Mann fast tot geprügelt. Noch benommen tauchen wir in die sanfte Stille einer chinesischen Opiumhöhle. Ein Mann, Robert De Niro als „Noodles“, dämmert auf einem Sofa vor sich hin, ein Diener versorgt seine Pfeife. Er fährt hoch, tastet nach einer Zeitung, blickt auf drei Fotos, Männergesichter. Durchdringend klingelt ein unsichtbares Telefon, wie aus dem Hirn oder der Seele dieses Mannes; es wird in den folgenden dreieinhalb Minuten die Szenen zerschneiden. Wieder schreckt er hoch, saugt das Opium wie ein Erstickender den Sauerstoff in sich hinein. Bildfüllend das grelle Licht einer Lampe. Überblendung auf eine Straßenszene: Nacht und Regen, Polizei, Autos, irgend etwas brennt, Fotografen irren herum, im Vordergrund legen Polizisten drei Leichen aufs Pflaster. Groß im Bild: De Niros starrer Blick, im Gegenschuss zwei blutüberströmte Gesichter, die dritte Leiche ist verbrannt. Die Toten werden mit Namensschildern versehen. Telefonklingeln. Dann ein Schnitt, der im Dunkel verschwimmt und wie eine Blende aussieht: Ein teures Etablissement, New York feiert das Ende der Alkoholprohibition, Champagner, schöne Frauen, De Niro küsst eine Blondine und verlässt den Raum. Groß das Gesicht eines Mannes (James Woods als „Max“, er war zuvor auf einem der Zeitungsfotos zu sehen), er schaut De Niro nach. Szenenwechsel. Nah: ein Telefon, eine Hand nimmt den Hörer ab, wählt eine Nummer, die Kamera tastet sich über Arm und Schulter zu De Niros Gesicht. Schnitt: ein anderes Telefon, darunter ein Messingschild: Sgt. P. Halloran. Noch einmal, ein letztes Mal klingelt das unsichtbare Telefon.

Die Bilder dieses Films sind Wiedergänger, Quälgeister, auch Marterwerkzeuge. Sie wandern durch eine Geschichte, die dem Erzähler, so scheint es, selbst zum Labyrinth geworden ist – und deren Material er durchwühlt, um auf drei Zeitebenen, die Jahrzehnte trennen, nach einem Zentrum zu suchen. Linearität und Chronologie sind trügerische Ordnungen, weil es in Albträumen kein Vergehen und keine Vergangenheit gibt: nur Gegenwart, in der sich Schuld und Verrat, Gier und Gewalt ineinander verknotet haben.

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hitchcock

Magische Momente 18

( , Regie: )

Suspicion
von Klaus Kreimeier

Ein breiter Lichtstreifen springt ins Dunkel, auf seiner grell weißen Fläche zeichnet sich ein Schatten ab. Steil von oben zeigt die Kamera den Menschen, dem er gehört. Er geht durch …

Ein breiter Lichtstreifen springt ins Dunkel, auf seiner grell weißen Fläche zeichnet sich ein Schatten ab. Steil von oben zeigt die Kamera den Menschen, dem er gehört. Er geht durch eine Halle, balanciert dabei ein Glas auf einem Tablett. Englisches Landhaus, englische Schauerromantik plus deutscher Expressionismus – Fensterstreben und Balustraden werfen Gitternetze auf die Wände. Eine Treppe führt in elegantem Bogen auf den Kamerastandpunkt zu. Stufe um Stufe nähert sich der Mann mit dem Tablett, sein Schatten wandert mit. Sein Gesicht bleibt unkenntlich. Das Glas enthält, bis an den Rand, eine sehr weiße, seltsam leuchtende Flüssigkeit. Hitchcock, das wird er später Truffaut verraten, hat eine Lampe ins Glas stecken lassen. „Weil es wirklich strahlend erscheinen musste. Cary Grant geht die Treppe hinauf, und man muss wirklich nur auf das Glas schauen.“

Das funktioniert. Der Mann, den Cary Grant spielt, erreicht die oberste Stufe. Knisternder Thrill, die Düsternis des film noir, eine Kette zwingender Verdachtsmomente und die siedende Erwartung, nein, die Gewissheit: Hier ist ein Mörder unterwegs. Alles an ihm und um ihn herum bleibt dunkel, ganz weiß aber und am Ende ganz groß im Bild: das Glas. Schnitt. In ihrem Schlafzimmer liegt Joan Fontaine im Bett, starrt auf die Tür. Marternde Frage: Naht irgendeine Rettung, kann sie dem Anschlag auf ihr Leben noch entgehen? Die Tür öffnet sich, der Raum ist hell, der Mann, den Cary Grant spielt, tritt ein. Sein Anzug ist so schwarz wie seine Gedanken; die Milch im Glas so weiß wie Joan Fontaines Negligé.

Ginge es nach der Romanvorlage, „Before the Fact“ von Francis Iles, wüsste sie, dass die Milch vergiftet und ihr Ehemann ein Mörder ist. Aus Verzweiflung darüber, aber auch aus lauter Liebe zu ihm würde sie sich umbringen lassen. In Alfred Hitchcocks „Suspicion“ (1941) nimmt die Sache einen anderen Verlauf. Cary Grant nähert sich sehr langsam und stocksteif seiner Frau, stellt das Glas behutsam auf den Nachttisch, setzt sich auf den Bettrand, gibt seiner Frau einen Kuss und sagt: „Gute Nacht, mein Schatz.“ Er steht auf und geht stocksteif aus dem Raum. Joan Fontaine blickt ihm wie versteinert nach. Schnitt: Es ist heller Morgen, die Kamera zeigt groß das unberührte Glas.

Jetzt muss nur noch eine Szene her, die plausibel erklärt, dass Cary Grant in diesem Film zwar ein von seiner Wettleidenschaft geplagter, reichlich verlogener, im übrigen jedoch liebenswerter Dandy namens Johnny ist – ein netter Hochstapler, der ob seiner bedenklichen finanziellen Lage eher sich selbst vergiften würde als seine Frau. Hitchcock hat diese Lösung, wie er Truffaut gesteht, nie gemocht. Nach seinen Vorstellungen sollte Johnny wirklich seine Frau umbringen. Verhindert hat das die Produktionsfirma RKO: Das Starsystem Hollywoods, vermutlich auch der Hays Code mit seinen rigiden Zensurbestimmungen hätten es nicht zugelassen, aus Grant einen Mörder zu machen.

Damit hatte sich Hitch ein schier unlöbares Problem eingehandelt. Sein Film sieht so aus, als hätte er ihn chronologisch gedreht, dabei Zug um Zug ein immer dichteres Netz eindeutiger Indizien und Hinweise um seine Hauptfigur zusammengeschnürt, den Handlungsbogen zuletzt auf eine nervenstrapazierende Klimax getrieben – und kurz vor dem letzten Dreh, nein, vor der letzten Klappe hätte ihm RKO mitgeteilt, Cary Grant dürfe alles, nur unter gar keinen Umständen ein Mörder sein.

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schneider romy

Magische Momente 17

( , Regie: )

Le mouton enragé
von Klaus Kreimeier

Warum rennt die Menschheit eigentlich seit mehr als hundert Jahren ins Kino und hat daran bis heute, aller Medienumbrüche und kulturellen Verwerfungen ungeachtet, ihren Spaß? Vielleicht, weil die meisten Kinogeschichten …

Warum rennt die Menschheit eigentlich seit mehr als hundert Jahren ins Kino und hat daran bis heute, aller Medienumbrüche und kulturellen Verwerfungen ungeachtet, ihren Spaß? Vielleicht, weil die meisten Kinogeschichten wie eine Zwiebel funktionieren: Man schält und schält sie unermüdlich, bis man an den Kern, an die Urgeschichte gelangt, an die eigentlich etwas abgedroschene, aber ungeheuer variantenreiche Story „boy meets girl“. Den wechselnden Genres, subtilen narrativen Techniken und immer neuen visuellen Sensationen, die sich wie Zwiebelschalen um sie legen, hält sie unverwüstlich stand. Sie ist (seitdem überhaupt Geschichten erzählt werden) jenes Prinzip, das Figuren und Verhältnisse in Bewegung setzt und gleichzeitig die Welt, die stets zu zerbrechen droht, im Innersten zusammenhält.

Schon unter dem Vorspann geht es los: Paris, es ist Frühling, ein Mann mittleren Alters, graublauer Anzug, sitzt im Park, Rummelplatzmusik von einem Karussell in der Nähe, der Mann beißt in einen Schokoriegel. In seinem Blickfeld, zehn Meter entfernt an einem Eisengitter, steht eine junge Frau, mit dem Rücken zu ihm, im Hintergrund ein Bahnhof, die junge Frau interessiert sich offenbar für die einfahrenden Züge. Der Mann taxiert ihre Gestalt, verzehrt den Rest des Schokoriegels, während sich die Frau, seinen Blick spürend, zu ihm umdreht und sich wieder abwendet, dabei wie unabsichtlich an ihrem Rock nestelt. Dann blickt sie sich noch einmal um, aber jetzt über die andere Schulter. Der Mann schaut schnell nach rechts, dann nach links, steht auf, macht einen Schritt, bleibt einen Moment stehen, setzt sich wieder, scheint kurz zu überlegen, steht wieder auf und geht nun langsam auf die junge Frau zu. Halbtotal: Sie blickt noch immer angestrengt durch die Gitterstäbe, er legt ihr mit etwas linkischer Entschlossenheit von hinten eine Hand auf die Schulter, als trainiere er, wie man von einer Sache Besitz ergreift. Während sie sich langsam umdreht, weiß der Zuschauer, dass sie seine Annäherung sehr genau wahrgenommen hat. Der Mann sagt: „Sie warten auf jemanden, den es gar nicht gibt.“ Sie: „Das wäre schon möglich.“ Eine Detailaufnahme zeigt, wie der Mann seine Hände knetet. Er: „Trinken wir was?“ Sie: „Ich habe nichts dagegen.“ Ihre Gesichter sind jetzt groß im Bild.

Schlichter, so könnte man meinen, geht’s nimmer. Aber so beginnt Michel Devilles Film „Le mouton enragé“ („Das wilde Schaf“). Ein Film von 1974, das erklärt viel: Jane Birkin sieht in ihrem kurzen roten Plissee-Röckchen, ihrer weißen Bluse und mit wallenden dunklen Haaren wie ein Schulmädchen aus, und Jean-Louis Trintignant, der einen schüchternen Bankangestellten spielt, blickt mit seinem filigran-undurchdringlichen Buster Keaton-Gesicht so ausdruckslos in die Welt, als denke er darüber nach, warum Banknoten immer viereckig sind. Dabei wird er im Verlauf dieser turbulenten, etwas zu schick und gefällig gemachten, doch überaus unterhaltsamen Tragikomödie auf der Karriereleiter gesellschaftlicher, politischer, amouröser und finanzieller Erfolge beachtliche Höhen erklimmen – und die Story „boy meets girl“ subtilste Windungen und Wendungen offenbaren, abgründigste Ironien, ihr Spiel mit der Lüge und ihre Affinität zu Gewalt und Tod. So ist es eher ein raffinierter Trick, wenn Deville am Anfang seines Erotikons, das die Vielfalt des unerschöpflichen Themas durchdekliniert, den magischen Moment auf seine einfachste Formel bringt: Frühling in Paris, Rummelplatzmusik.

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Magische Momente 16

( , Regie: )

Sulla
von Klaus Kreimeier

Obwohl 2003 im kroatischen Split preisgekrönt, dürfte Klaus Wybornys Film „Sulla“ (1990-2001) eher zu den weniger prominenten Festivalhits gehören. Und in einer Branche, die ihre Kundschaft normalerweise im sechs- bis …

Obwohl 2003 im kroatischen Split preisgekrönt, dürfte Klaus Wybornys Film „Sulla“ (1990-2001) eher zu den weniger prominenten Festivalhits gehören. Und in einer Branche, die ihre Kundschaft normalerweise im sechs- bis siebenstelligen Bereich angesiedelt weiß, ist die Zahl der Wyborny-Fans vermutlich am Umsatz esoterischer Lyrik zu messen. Auch besessene Avantgardisten und Experimentalfilmer wie er (1968 hat er mit Hellmuth Costard, Helmut Herbst und Werner Nekes die Hamburger Filmmacher Cooperative gegründet) sind in Deutschland ungerechtfertigterweise schnell als Esoteriker verrufen. Dabei hat er alles andere als Mystik, umso emphatischer Kino im Sinn – und wie sich mit minimalen Mitteln großes Kino machen lässt. Wer „Sulla“ einmal gesehen hat, dem ist unauslöschlich das Licht einer Landschaft ins Gedächtnis eingeschrieben – und das Agieren, Sinnieren, Räsonieren eines Mannes, dessen Figur Wyborny in seinem gleichnamigen Roman erfunden und im Film dem genialen Schauspieler Hanns Zischler anvertraut hat.

Der Mann ist Sulla, römischer Feldherr, Revolutionär, Staatsmann und Diktator, und die Landschaft nicht etwa ein beliebiges Italien, sondern eindeutig das klassische Latium bei Rom. Denn ganz unmissverständlich lateinisch sehen der blaue Himmel, die Wolken, die Pinien, der karstige Boden, die grauen Steine, selbst die Ameisen und die Pferdeäpfel aus; lateinisch tschilpern die Spatzen, denen Sulla – wartend, grübelnd, mal griesgrämig, mal in sexueller Hochstimmung – lauscht. Und dem lateinischen Kalender folgt auch das Datum, das Wyborny seinem Film vorangestellt hat: Man schreibt das Jahr 671 nach der Gründung Roms, das 427. Jahr der Republik.

Während eines langwierigen Bürgerkrieges nimmt Sulla eine Auszeit vom politischen Geschäft, reflektiert über den Gesang des Windes in den Pinien, über Freiheit und Unfreiheit, Natur, Form und Substanz, über das Wirkliche (wie wird es zum Tatsächlichen?) und über die gnadenlose Asymmetrie der Welt: „Ach, zuzementieren sollte man all das, die ganze Natur, die ganze Welt.“ Ein Gedankenstrom in antikem Gelände, den uns Wybornys geruhsam tropfende Erzählerstimme in Worte übersetzt und dabei poetische Stimmung und penible Sachlichkeit, das Tiefsinnige und das Banale, Zart-Erotisches und Krass-Zotiges in einem schwebenden Gleichgewicht hält.

Sulla erfährt, nachdenkend, die Erregungen des Wartens, denn er wartet ja, er wartet auf ein vergöttertes Wesen namens Mathilde (Corinna Belz), das er fern weiß und zugleich in sinnlicher Nähe vor sich sieht, als Epiphanie und als Projektion seiner Vorstellungen und sexuellen Begierden erlebt. Denn baut er nicht unablässig an einem erhabenen Tempel, den er ein „Fotzenheiligtum für Mathilde“ nennt und der ein Denkmal für Rom und die Welt, für Zeit und Geschichte, Natur und Staat sein wird? Bilden der Körper und die Politik nicht ein gemeinsames Muster, „ein Muster, worin sich die Republik für Jahrhunderte aufbewahren ließ“? Natur und Staat, „irgendetwas verbarg sich zwischen diesen beiden Worten.“

Es sind dies die letzten Worte des Films. In der Schwarzblende am Ende schwingt die satte Südlichkeit der Bilder weiter, die Erscheinung Mathildes – „er will sie nicht ficken, er will sie fühlen“ -, das helle Schnarren der Zikaden in den Pinien, der leise summende Gesang der Welt.

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Magische Momente 15

( , Regie: )

Hammett
von Klaus Kreimeier

Schon die Exposition führt alles zusammen: das fade Licht, das durch die Jalousielamellen bricht und das Chaos der Dinge in eine verstaubte Aura hüllt. Die Schreibmaschine, mit deren Tastatur die …

Schon die Exposition führt alles zusammen: das fade Licht, das durch die Jalousielamellen bricht und das Chaos der Dinge in eine verstaubte Aura hüllt. Die Schreibmaschine, mit deren Tastatur die Kamera, über die Schulter des Schreibenden blickend, ihre Inspektionsreise beginnt. Die Fingerkuppen, die die Tasten bearbeiten, und die Typenhebel, welche die Lettern THE END aufs Papier hacken. Der überfüllte Aschenbecher, die Whiskyflasche, das Schnapsglas und die zerknüllten literarischen Hoffnungen im Papierkorb. Es sind die heiligen Insignien des Film noir, genauer: der von Dashiell Hammett und Raymond Chandler kreierten „hardboiled novel“ und der unsterblichen Mythen, die John Huston, Humphrey Bogart und ein paar andere aus diesem Genre für das Kino gemixt haben.

Zum Text, der eine erbärmliche Welt beschreibt, gehört der Alkohol, ohne den sie nicht zu ertragen wäre: Das verbindet die Rolle des Detektivs, der das Verbrechen bekämpft, mit der des Autors, der die Niederlagen und die seltenen Siege in diesem Kampf in Literatur übersetzt. In Wim Wenders‘ „Hammett“, seinem ersten Hollywood-Film, fallen die Rollen zusammen: Der Autor (Frederic Forrest) beendet gerade seine Geschichte, aber es zeigt sich, dass er als unfreiwilliger Privatdetektiv einen realen Kriminalfall lösen muss, um der Story auf seinem Schreibtisch einen stimmigen Schluss zu verleihen. So taucht das Wort „The End“ zweimal auf: am Anfang, wenn Hammett sein Manuskript abschließt – und am Ende, wenn der reale Fall geklärt, die Welt noch immer unerlöst, die Story vollendet und so auch der Film zu seinem Schluss gekommen ist. Den Transfer zwischen Leben und Kunst, Realität und Phantasie garantiert die Schreibmaschine – gleichzeitig Strukturelement des Films und magische Technologie einer Obsession.

Die Produktionsgeschichte, 1979 bis 1982, gestaltete sich für Wenders zur Leidensgeschichte, für die Branche und viele Kritiker zum Skandal. Am Ende waren fast vier Jahre vergangen und ebenso viele Drehbuchautoren verbraucht. Produzent Francis Ford Coppola tobte, ließ Wenders eine Hörspielfassung schreiben, beauftragte Alex Tavoularis (den Bruder von Dean) mit einem Storyboard, fütterte Zeichnungen und gesprochene Dialoge in einen Computer – und warf, was dabei herauskam, vor Wut aus dem Fenster. Irgendwie wurde der Film, teilweise mit neuem Stab, zu Ende gedreht. Die meisten deutschen Kritiker nörgelten. Urs Jenny nannte das Werk eine „elegante Ruine der Illusionen“ (er meinte die des deutschen Filmemachers in Hollywood), Godard pries es als Wenders‘ schönsten Film.

„Hammett“ sei kalt, meinten einige. Aber wie soll von diesem mit Röntgenaugen im Studio rekonstruierten Chinatown, diesem sinistren Milieu mit seinen Halunken und Halsabschneidern ein Wärmestrom ausgehen? Was bleibt, ist die Aura der Dinge in einer tief verschatteten Welt, durch die sich der ehrliche Schnüffler ebenso wie sein Zwillingsbruder, der Autor, hindurchwühlen muss. Der Typewriter, der nur vom Lichtkreis der Lampe erhellte Schreibtisch, das zerknüllte Papier, das Whiskyglas, der übervolle Aschenbecher: Tavoularis hat in seinen Zeichnungen (sie waren vor Jahren in einer Ausstellung der Deutschen Kinemathek zu sehen) diesem Inventar eine nachgerade perfide Akribie gewidmet – und Wenders hat solche Präzision in Atmosphäre, filmisches Flair, in Lichtstreifen und scharfkantige Dunkelheit übersetzt.

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Magische Momente 14

( , Regie: )

Die Finanzen des Großherzogs
von Klaus Kreimeier

Die Filmkomödie „Die Finanzen des Großherzogs“ von Friedrich Wilhelm Murnau (1923) verdient schon darum das Interesse der Filmhistoriker (und nicht nur dieser), weil man aus ihr lernen kann, dass Curd …

Die Filmkomödie „Die Finanzen des Großherzogs“ von Friedrich Wilhelm Murnau (1923) verdient schon darum das Interesse der Filmhistoriker (und nicht nur dieser), weil man aus ihr lernen kann, dass Curd Jürgens, der „deutsche Kleiderschrank“ der fünfziger Jahre, einen kongenialen Vorläufer in Harry Liedtke hatte, dem Herzensbrecher der zehner und zwanziger Jahre – zumal dann, wenn es darum ging, vor Wut oder Entsetzen stiernackig zu erstarren und die Augen gefährlich aus ihren Höhlen treten zu lassen. Als Duodezfürst eines fiktiven mediterranen Zwergstaats hat er dazu allen Anlass, denn der ist erstens pleite, zweitens von Feinden umzingelt und drittens das Ziel einer äußerst finsteren Verschwörung. Am Ende sieht er, den Strick bereits um den Hals, sein Ende nahen, würde ihn nicht die plötzliche Verehelichung mit einer russischen Großfürstin aus allen Nöten befreien.

Drehbücher sind oft Glückssache. Dieses stammt von Thea von Harbou und trug möglicherweise dazu bei, dass sich die Filmhistoriker schwer taten, dem großen Murnau den Seitensprung ins komische Genre zu verzeihen. Wie kommt es, rügt seine Biografin Lotte H. Eisner, dass hier „alle seine Darsteller so mittelmäßig wirken?“ Dabei hat gerade sie uns die film- und kinogeschichtlich bemerkenswerte Tatsache überliefert, dass etliche Sequenzen dieses Films bei der Uraufführung im Berliner Ufa-Palast am Zoo „Applaus auf offener Szene“ hervorgerufen haben: so die „wirklich feenhafte Totale“ eines Schiffs, „alle Segel gesetzt, alle Mann hoch oben in der Takelage“ – und Aufnahmen eines Bahnhofs, in den „eine Lokomotive mit zwei vollen Scheinwerfern“ direkt auf die Kamera zufährt. Applaus auf offener Szene! Die Besucher der frühen Kinos müssen glückliche Menschen gewesen sein.

In der Tat: Sie hatten Gespür für eine neue Qualität. Zum zweiten Mal, nach den düsteren Naturaufnahmen für „Nosferatu“ (1921/22), schüttelt Murnau den Kulissenstaub der Studioproduktionen von Neubabelsberg ab und lässt die Kamera (Karl Freund) in die Außenwelt schweifen, in die Ferne, aufs Meer und an die sonneglänzenden Gestade der Adria. Und siehe: er gewinnt dem Licht, den Hafenansichten, der Patina alter Paläste Bilder von schwindelerregender Schönheit ab. Große Teile des Films werden in Ragusa (dem heutigen Dubrovnik), in Montenegro und auf der Insel Rab gedreht. Ein Stück Wahrnehmungsgeschichte: Schauplätze, die uns Heutigen längst zu Floskeln des Farbfernsehens geworden sind und von Lotte Eisner, die eine „recht verstümmelte Kopie“ des Dubbnegativs gesehen hat, als „grauer Zufallshintergrund“ getadelt wurden, hatten Murnaus Kamera den ganzen Zauber der Schwarzweiß-Fotografie entlockt – einen Zauber, der sich uns heute, in der aufwendig restaurierten und digitalisierten Fassung der Cineteca del Comune di Bologna und des Münchner Filmmuseums, aufs neue erschließt.

Von einer schmalen Mauer, die aus dem Vordergrund vertikal in die Bildmitte strebt, taumelt der Blick gleichzeitig in die Tiefe und in eine helle, schier unbegrenzte Weite, erfasst die klare Linie von Zypressen, das Ufer, die spiegelglatte Fläche des Meers bis zum Horizont, schließlich die feinziselierte Takelage eines Segelschiffs. Diesem und ähnlichen, behutsam viragierten „Naturbildern“ – so darf man es sich wohl vorstellen – galt der Applaus des zeitgenössischen Publikums.

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Magische Momente 13

( , Regie: )

El Jardin de las delicias
von Klaus Kreimeier

Das letzte Bild des Films ist von bedrückend fahler Schönheit. Die durchgehend stumpfen Farben dämmern hinüber in ein melancholisches Grau. Die Parklandschaft – Hauptbühne der Handlung, Lustgarten einer überlebten, wenn …

Das letzte Bild des Films ist von bedrückend fahler Schönheit. Die durchgehend stumpfen Farben dämmern hinüber in ein melancholisches Grau. Die Parklandschaft – Hauptbühne der Handlung, Lustgarten einer überlebten, wenn auch noch immer herrschenden Klasse – ist an tiefer Freudlosigkeit erkrankt, als hätte das Siechtum der Menschen auf sie übergegriffen und ihr das Licht geraubt. Der Industrielle Antonio Cano (José Luis López Vazquez), seit einem Autounfall an den Rollstuhl gefesselt, blickt verstört auf ein geisterhaftes Geschehen. Sich selbst beobachtend, sieht sich der Krüppel von seiner Familie umgeben, es sind körperliche Wracks wie er, alle im Rollstuhl sitzend: der autoritäre Vater, die heuchlerische Ehefrau, die gleichgültig-zynischen Kinder. Krüppel-Trabanten, die Antonio blicklos, wortlos umkreisen – Untote, deren erloschene Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet sind.

Die Rätselbilder in Carlos Sauras „El Jardin de las delicias“ („Garten der Lüste“, 1970) den Halluzinationen eines Gelähmten und Verstummten oder einer labyrinthischen Abfolge von Träumen zuzuschreiben, wäre profan. Der Film, fünf Jahre vor Francos Tod und dem Ende der falangistischen Herrschaft entstanden, betreibt eine Vivisektion der spanischen Bourgeoisie unter den Bedingungen der Diktatur. Antonio, körperbehindert und schwer sprachgestört, ist Manipulationsmasse und gleichzeitig Herrschaftsinstrument seiner Familie, die mit Hilfe scheintherapeutischer Tricks und hasserfüllt-ausgeklügelter Rollenspiele seine Erinnerung zu aktivieren sucht, um an Schweizer Nummernkonten und die Zahlenkombination von Antonios Tresor heranzukommen.

Die Familie, das ideologisch geheiligte Zentrum des katholischen Spaniens und des franquistischen Herrschaftsapparats, erweist sich als Gewaltverhältnis, das dem machtpolitisch-bourgeoisen Ränkespiel freie Bahn verschafft und ihm erlaubt, alle zivilisatorischen Fesseln abzustreifen. Am Ende präpariert Don Pedro, Antonios Vater und Gründer der Industriellendynastie (Francisco Pierrá), den stammelnden, scheinbar halbgenesenen Sohn sogar für den Auftritt auf einer Vorstandssitzung in der Hoffnung, mit ihm seinen Konzern vor den Feinden im eigenen Haus zu retten. Das krude Theater scheitert kläglich. Und gerade im Scheitern zeigt sich, dass dieser „Behinderte“ nicht nur ein Hindernis, ein Störfaktor in seiner Familie ist, auch mutiert er keineswegs als Widerstandskämpfer oder Rebell zum Politikum in einer von Repression gezeichneten Gesellschaft. Vielmehr steht er, grundsätzlicher, für etwas fundamental „Anderes“, vielleicht für einen „anderen Menschen“, der sich unter der Systemlogik der herrschenden Verhältnisse nicht entfalten kann: ein erratischer Block, Störfall in einem viel radikaleren Sinn.

Die Empfindungen dieses von seiner Familie belagerten, gepeinigten, manipulierten Menschen lässt López Vazquez in minimalen Nuancen über sein Gesicht wandern. Allein gelassen wie so oft sitzt Antonio im Garten; in Großaufnahmen notiert die Kamera geduldig die kleinen Veränderungen, die in seinen Augen vorgehen, die den Stirnfalten und den Mundwinkeln zuerst ein Grübeln, dann Skepsis, List und Trotz einschreiben – Gefühle, die in belustigte Neugier übergehen, wenn Antonio dem Vogelgezwitscher lauscht – und schließlich in Staunen, Beunruhigung, Angst und helles Entsetzen, wenn er in einer Trancevorstellung eine Garde gepanzerter Kreuzritter mit gefällten Lanzen auf sich zureiten sieht.

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Magische Momente 12

( , Regie: )

Le salaire de la peur
von Klaus Kreimeier

Dem Korsen Mario geht es um den Lohn, 2000 Dollar immerhin. Auf unwegsamer Strecke muss er seinen Lkw, einen klapprigen 1943er Dodge, rückwärts auf eine ruinöse Holzbrücke manövrieren. Der Rest …

Dem Korsen Mario geht es um den Lohn, 2000 Dollar immerhin. Auf unwegsamer Strecke muss er seinen Lkw, einen klapprigen 1943er Dodge, rückwärts auf eine ruinöse Holzbrücke manövrieren. Der Rest des morschen Gerüsts ragt sinnlos ins Nichts, darunter eine tiefe Schlucht. Der Beifahrer Jo, entnervt, will aus dem Geschäft aussteigen: „Verdrücken wir uns!“ Mario sagt nur: „Ganz langsam zurück, dann mit Vollgas raus.“ Jo stochert mit dem Taschenmesser in einer faulen Planke: „Das ist Schwamm, kein Holz.“ Mario: „Wir werden das Kind schon schaukeln.“ Er schwingt sich ins Führerhaus, klemmt sich hinters Lenkrad. „Ich kenne die Gefahr“, sagt Jo. „Du kannst Dir nicht vorstellen, was sein könnte. Aber ich warte dauernd auf den Punkt.“ Wer auf ruppiger Piste, im verkarsteten, von der Sonne ausgezehrten Bergland Venezuelas, einen Zehntonner mit Nitroglyzerin durch die Gegend chauffiert, wartet von Sekunde zu Sekunde „auf den Punkt“. Jo stammt aus Paris, auf seine alten Tage würde er gern etwas Geld in ein kleines Bistro investieren. Aber er hat ein Problem: das nervenzermürbende Warten darauf, dass etwas passieren könnte – auf den Moment, in dem etwas Furchtbares geschieht.

Ganz nebenbei hat Jo damit definiert, wie Spannung im Film funktioniert. Bequem im Kinosessel sitzend, lauern wir „auf den Punkt“, in diesem Fall auf den Augenblick, in dem die Karre in den Abgrund saust und die ganze Ladung in die Luft fliegt. Noch ist dieser Punkt nicht erreicht, die Katastrophe lässt sich Zeit, die Sekunden scheinen zu schleichen, als sei es ihnen zu heiß. Zentimeter um Zentimeter manövriert Mario den Dodge auf den Abgrund zu. Unmittelbar vor dem Abgrund steht eine rostige Lore, und vor der Lore steht Jo. Jo ruft etwas, Mario versteht ihn nicht. Jo presst den Rücken gegen die Lore und die Hände gegen das Vehikel, während das ächzende Ungetüm im Rückwärtsgang auf ihn zu kriecht und seinen Brustkorb zu zerquetschen droht.

Spannung im Kino ist etwas anderes als die An-spannung des Helden, der unter Lebensgefahr Entscheidungen treffen und handeln muss. Wir im Kino können uns sehr gut vorstellen, was passieren könnte, wir warten darauf, dass es passiert, und zugleich beobachten wir Jo, der von seiner Angst regelrecht zerrieben wird. Wir genießen das Privileg, uns mit Jo zu identifizieren – uns in ihn einzufühlen, ohne an seiner Stelle zu stehen und für ihn handeln zu müssen. Doch wenn ein Film so meisterlich montiert ist wie „Le salaire de la peur“ (1953), wenn eine Kamera die Situation und die Emotionen so perfekt in ihre Bauteile zerlegt wie die von (Armand Thirard), wenn uns zwei Schauspieler so in ihren Bann ziehen wie Yves Montand und Charles Vanel – dann entsteht das Phänomen, dass sich die Differenz zwischen Spannung und Anspannung, zwischen dem Leiden der Handelnden und dem Mitleiden der Zuschauer verringert. Dann tritt das Kino in eine andere Dimension.

Manche Kritiker ergingen sich 1953 in philosophischen Betrachtungen, und noch 1987 schrieb Georg Seeßlen, Henri-Georges Clouzots Film sei „der existentialistische Abenteuer-Thriller par excellence“. Das mag so sein, vor allem aber ist dies ein Film, der hinter seiner existentialistischen Botschaft nicht versteckt, dass er zuallererst ein atemberaubender Thriller ist und uns Zuschauern das Vergnügen bereitet, ein nervenstrapazierendes Wechselbad der Gefühle zwischen Angst und Hoffnung durchzustehen.

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Magische Momente 11

( , Regie: )

Kansas City
von Klaus Kreimeier

Die Jazz-Giganten Coleman Hawkins, Lester Young und Ben Webster sind 1996 schon seit Jahrzehnten tot, doch wenn Robert Altman im düsteren, sepiabraun wabernden Hey Hey-Club einen „cutting contest“ im Stil …

Die Jazz-Giganten Coleman Hawkins, Lester Young und Ben Webster sind 1996 schon seit Jahrzehnten tot, doch wenn Robert Altman im düsteren, sepiabraun wabernden Hey Hey-Club einen „cutting contest“ im Stil der dreißiger Jahre zelebrieren lässt, sind seine Musiker-Darsteller Craig Handy, Joshua Redman und James Carter fast so gut wie sie. Und wenn sie sich bei „Blues in the Dark“ per Tenorsaxophon duellieren, wenn sich Carter mit einem furiosen Solo einmischt, gerät die ganze rauchgeschwängerte kleine Hölle in Wallung. Der Raum, das Licht, die Luft, selbst die Gesichter vibrieren im Rhythmus einer Legende, von der wir Nachgeborenen nur träumen dürfen.

Kansas City anno 1934. Charlie Parker wurde hier geboren; im Film wuselt er als Halbwüchsiger (Albert Burnes) zwischen all den Superstars herum, schon zwanzig Jahre später werden ihn die Drogen umgebracht haben. Kansas City – hier kam auch Robert Altman zur Welt, und „Kansas City“ hat er seinen Film genannt. Subtil und höchst geschmeidig hat er die Jam Sessions mit der anti-chronologisch erzählten Story, der blutigen Geschichte des Gangsterpärchens Johnny und Blondie O’Hara, verwoben – zu einer filmischen „cutting session“ von überbordender Musikalität, als ginge es gar nicht um Blut, Liebe und Tod, sondern allein um: Jazz.

Dabei handelt es sich beim Überlebenskampf der weißen Underdogs Johnny und Blondie (Dermut Mulroney und Jennifer Jason Leigh) gegen schwarze Mafiosi und weiße Oberschicht, wenn auch versteckt, um Klassenkampf – und um einen Agon, dem schon die Rassenkriege kommender Jahrzehnte als Kulturkampf eingeschrieben sind. Als Kulturscharfrichter waltet der farbige Gangsterboss und Chef des Jazzclubs, Seldom Seen (Harry Belafonte) seines Amtes. Johnny O’Hara hat einen seiner Kunden überfallen und beraubt – mit schwarz bemaltem Gesicht, um eine falsche Spur zu legen. Jetzt wird er von Seldom in die Mangel genommen, das heißt: einem höhnischen rassen- und kulturpolitischen Verhör unterzogen.

Im engen Hinterzimmer wandert Seldom wie ein ruheloser Panther um sein Opfer herum. „Du schwingst dich hier rein wie Tarzan, mitten in eine Horde von Niggern.“ Ohne Regung, stumm wie dunkle Schränke ragen die Bandenmitglieder in den Raum, umringen das Tribunal. Seldoms Stimme ist heiser, gefährlich sanft. „Gefallen dir solche Filme?“ Diese „ganze verdrehte Onkel-Tom-Scheiße“, die ihm Hollywood ins Hirn gerammt hat? Aus dem Clubraum drängen leise, doch insistent die Rhythmen der Jam Session herein. „Aber vielleicht hast du für Radiohören mehr übrig?“ All diese Sitcoms und Soaps, die falschen Romanzen mit ihren Lügen, Serien wie „Amos and Andy“: weiße Sprecher, „die sich als Schwarze ausgeben und die Nigger verarschen.“ (White people in blackface: diese unselige Tradition des amerikanischen Entertainments, vor dem Bürgerkrieg waren es die Minstrel Shows, dann kam das Vaudeville, schließlich Radio und Kino.) Schlimm genug, sagt Seldom, dass sich die Weißen „solchen Mist ausdenken.“ Noch schlimmer, dass kleine weiße Gangster diesen Mist nachahmen, um sich als Schwarze zu tarnen. Für den Boss ist klar: Auch dieser mediokre Taschendieb Johnny O’Hara ist nur ein mieser Rassist; überdies hat er einen schlechten Geschmack und muss schon aus medienästhetischen Gründen sterben. „Kommt, Jungs, lasst uns der Musik zuhören.“ Unsterblich allein ist der Jazz von Kansas City.

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Magische Momente 10

( , Regie: )

Offside
von Klaus Kreimeier

Am 8. Juni 2005 qualifizierte sich die Fußballnationalmannschaft des Iran in der dritten Runde der Asien-Gruppe B mit einem 1:0-Sieg gegen Bahrein für die Weltmeisterschafts-Endrunde in Deutschland. Das Spiel fand …

Am 8. Juni 2005 qualifizierte sich die Fußballnationalmannschaft des Iran in der dritten Runde der Asien-Gruppe B mit einem 1:0-Sieg gegen Bahrein für die Weltmeisterschafts-Endrunde in Deutschland. Das Spiel fand im Azadi-Stadion zu Teheran statt, der Regisseur Jafar Panahi hat darüber den Film „Offside“ gedreht, und spätestens seitdem dieser Film 2006 zu uns kam, wissen wir mehr über Fußball im Iran – vor allem darüber, was im Iran „Abseits“ heißt.

„Offside“ ist von Anfang bis Ende ein veritabler Fußballfilm – und das, obwohl man vom Spiel, großzügig geschätzt, höchstens zehn Sekunden sieht: eine leicht verwackelte, vom Sonnenlicht gebleichte Totale vom Spielfeld, ein paar Spieler laufen herum – Schnitt. Für zugenagelte Fußballfreaks ist dies leider der einzige magische Moment, der dadurch noch verdorben wird, dass im Vordergrund ein Soldat gegen einen Pfeiler lehnt und sich erschöpft den Schweiß aus der Stirn wischt. Erschöpft ist er, weil er erfolglos durch das halbe Stadion hetzte, um ein junges Mädchen, das sich seiner Bewachung entzogen hatte, wieder einzufangen. Wer im Iran Soldat ist, hat nämlich viel damit zu tun, als Jungs verkleidete Mädchen und junge Frauen, denen es gelungen ist, sich ins Stadion zu mogeln, um ein Fußballspiel zu sehen, zu schnappen und in einem provisorischen Käfig bis zum Spielende gefangen zu halten, um sie danach der Sittenpolizei zu überstellen.

Wie verhalten sich leidenschaftliche Fußballmädchen unter militärischer Bewachung? Nicht anders als nervöse Hummeln, die ihr Nest nicht verlassen können: eingezwängt zwischen Absperrgittern und einer Betonwand, die sie vom Inneren der Arena trennt: jener riesigen Schale, aus der Sprechchöre dröhnen, Schlachtgesänge zum Himmel steigen, Anfeuerung anschwillt und stöhnend verebbt, bis das erlösende Tor fällt und die gewaltige Betonschale zu bersten droht. Absurde Situationen treiben erfindungsreiche Lösungen hervor. Ein Soldat erhascht einen Blick aufs Spielfeld und muss, ohne die blasseste Ahnung vom Fußball, für die Mädchen die Rolle des Radioreporters übernehmen. Und was geschieht, wenn eine der Gefangenen ganz dringend auf die Toilette muss? Auf eine Toilette, die selbstverständlich nur für Männer vorgesehen ist? Ganz einfach – einer der Bewacher hängt ihr ein Poster mit dem Antlitz eines Fußballidols vors Gesicht und scheucht alles, was männlich ist, aus der Gefahrenzone, weil der Prophet verfügt haben soll, dass der Teufel seine Machenschaften treibt, wenn sich die Blicke eines Mannes und einer Frau begegnen und womöglich Neugier, wenn nicht gar mehr im Spiel ist.

Was aber, wenn plötzlich ein alter Mann (Reza Farhadi) herbeischlurft, der seine entlaufene Enkelin sucht? Wenn er zögernd vor dem Käfig stehen bleibt und sein Blick auf einem Mädchen verharrt, das den Kopf senkt, Augen, Stirn und buntbemalte Wangen unter der Baseballkappe versteckt? „Ich will dein Gesicht sehen!“ Sie wendet sich ab und zieht, unversehens, einen Tschador über ihren Kopf, über ihre ganze schmale, noch kindliche Gestalt. „Bist du das wirklich?“ Langsam geht sie auf den Alten zu. „Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“ Und so, wie sie jetzt da steht, verhüllt, schwarz wie die Nacht, ein kleiner, aber tapferer Unglücksrabe – ist das nicht wirklich und wahrhaftig ein magischer Moment?

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Magische Momente 09

( , Regie: )

The Musketeers of Pig Alley
von Klaus Kreimeier

Im Dunkeln lauern Gefahren, lauert das Verbrechen, das Unheil mit seinen vielen Gesichtern und Masken – und Düsternis umgibt die Gefährlichen, die Verbrecher, diejenigen, die auf Raub, Mord und Totschlag …

Im Dunkeln lauern Gefahren, lauert das Verbrechen, das Unheil mit seinen vielen Gesichtern und Masken – und Düsternis umgibt die Gefährlichen, die Verbrecher, diejenigen, die auf Raub, Mord und Totschlag sinnen. Ihr Aufenthaltsort sind Schattenzonen, Hinterhöfe, die von Kindern, Greisen, Hungerleidern und Halunken besiedelt werden. Menschen, die sich zwischen den Mauern wie Gefangene bewegen. Müll türmt sich hier, Bretterverschläge versperren die Sicht. Wer Böses im Schilde führt, scheut helle Flächen, jeden Lichteinfall, zieht die Hutkrempe tief ins Gesicht, vermeidet den offenen, dem Tag zugewandten Blick. Der Gefahr ihr Geheimnis, der Finsternis ihre Konturen zu entlocken – das ist die Aufgabe der Filmkamera. Sie schickt Licht in das opake Milieu, gibt dem Unheil, das sich vage anbahnt, ein Gesicht.

Snapper Kid heißt der Oberschurke (Elmer Booth). Ein halbdunkler Hausflur, die angrenzende Spelunke und ein unübersichtlicher Backyard irgendwo in der Bronx sind sein Revier. Schon wie er lungert und lauert, lässt die ehrbaren Nachbarn erschauern. Selbst wenn er sich den Anschein kindlicher Unschuld gibt, flackern List und Frechheit in seiner Miene, kann er seine Lust am bösen Spiel nicht verbergen. Nicht nur, dass er den bettelarmen Musikus (Walter Miller) niederschlägt und ihm seine letzte Barschaft raubt, auch dessen junge Frau (Lillian Gish) begehrt er auf seine rabiate Weise: wie Stückgut, das man gewaltsam an sich reißt und achtlos konsumiert. Doch Snapper Kid hat Feinde – eine Gang, die ihm und seinen beiden Spießgesellen das Terrain streitig macht. Im Hof, zwischen allerlei Gerümpel, stellt er sich dem Showdown.

Im Hintergrund, in der Lücke zwischen zwei Backsteinmauern, schiebt sich zunächst sein Kopf in die Szene, dann seine ganze Gestalt. Er presst sich seitlich an die Mauer, als wolle er in ihr verschwinden, verbirgt sich hinter einem Wandvorsprung, während seine Kumpane nachrücken, und sondiert das Schussfeld. Ein Zwischenschnitt zeigt: Genau gegenüber hat sich die feindliche Gang aufgebaut. Die Hand um den Revolver gekrampft, schiebt sich Snapper-Kid Zentimeter um Zentimeter nach vorn, immer näher an die Kameraposition heran, bis sein Snapper Kid-Gesicht, wächsern bleich unter schwarzem Hut, die rechte Bildhälfte füllt. Im Hintergrund, unscharf, eine Brandmauer und die Visage eines Komplizen.

„The Musketeers of Pig Alley“ (1912) ist einer von über fünfhundert Kurzfilmen (zwischen 15 und 20 Minuten Länge), die David Wark Griffith in den Jahren 1908 bis 1914 für die American Biograph dreht – jenen „Biograph Shorts“, in denen er die Welt zwischen Gerecht und Ungerecht, Tätern und Opfern aufteilt und das Werk- und Schreibzeug, die Grundregeln, die kalkulierten Finessen und überraschenden Tricks filmischen Erzählens ausprobiert – bis er alles, was er ausgetüftelt hat, in sein erstes großes Epos, „The Birth of a Nation“ (1915), einmünden lässt: den schnellen Wechsel des point of view und die Parallelmontage, das Kamera-Traveling und das komplexe Spiel mit close-ups. Mit jenen Gesichtern, die sich, zunächst klein und heimtückisch, aus dem Dickicht des Milieus herausschälen, immer größer werden und am Ende den Zuschauer, wie Jacques Aumont geschrieben hat, „mit brutraler Direktheit anspringen“ – so wie sich Snapper Kid seine Opfer schnappt.

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betty

Magische Momente 08

( , Regie: )

Betty
von Klaus Kreimeier

Die Rückblenden schweben in die erzählte Gegenwart, als schiebe sie eine unsichtbaren Hand, die sorgsam Bilder und Gedanken sortiert, in den Fluss des Geschehens. Andere kommen hereingeweht wie Assoziationen, Kurzfilme …

Die Rückblenden schweben in die erzählte Gegenwart, als schiebe sie eine unsichtbaren Hand, die sorgsam Bilder und Gedanken sortiert, in den Fluss des Geschehens. Andere kommen hereingeweht wie Assoziationen, Kurzfilme der Erinnerung, Kurzgeschichten eines aufblitzenden Gewahrwerdens, die dem inneren Drama psychologische Tiefenschärfe verleihen. Einer dieser Kurzfilme könnte „Die Geschichte der Thérèse“ überschrieben sein, und sie beginnt so: Die Kamera blickt auf einen großen leeren Dorfplatz; links, den Platz begrenzend, sind die Grundmauern einer grauen gotischen Kirche zu sehen; daneben führt eine Straße leicht abschüssig zu Häusern im Hintergrund. Vor der Kirche steht ein Baum, eine Akazie könnte es sein, rechts ein altes Gebäude, vielleicht die Sakristei. An ihrer Wand lehnt Betty, ein halbwüchsiges Mädchen. Ein Geistlicher strebt eilends quer über den Platz. Dünnes Glockengeläut ist zu hören, es ist Samstag, ein Samstagnachmittag in der französischen Provinz, wie ihn mit seiner vibrierenden Langeweile nur Claude Chabrol (hier in „Betty“, 1992) in einer einzigen Einstellung einzufangen vermochte.

Die folgenden Bilder zeigen, wie das Mädchen, angelockt von unterdrückten rhythmischen Schreien und dem Klirren leerer Flaschen, eine Kellertreppe hinabsteigt und im Halbdunkel zur Zeugin einer Vergewaltigung wird. Ihr Onkel, so erzählt sie Jahre später, war dabei, das Dienstmädchen Thérèse „zu bespringen“. Betty bleibt starr, „wie hypnotisiert“, auf der Treppe stehen; weder will noch kann sie sich von der Szene trennen: „Ich wollte bis zum Schluss bleiben.“ Der Medizinstudent Schwarz (Thomas Chabrol), in den sich Betty als verheiratete Frau (Marie Trintignant) verliebt, sieht die Angelegenheit psychoanalytisch: Sie habe Thérèse beneidet, erklärt er ihr, korrigiert sich aber kurz darauf: „Du glaubtest, eine Frau sei dazu bestimmt, für einen Mann zu leiden.“ Dem stimmt Betty zu. Erst im Gespräch mit ihrer Beschützerin Laure (Stéphane Audran), wiederum Jahre später, wird sie dessen inne, dass sie darauf begierig war, die „Wunde“ von Thérèse zu sehen – und dass sie in all den Jahren, die folgten, selbst auf der Suche nach dieser „Wunde“ war.

Genau genommen ist die Kurzgeschichte, die Chabrol hier in wenigen Minuten erzählt, ein philosophischer Essay über das Gewicht des Vergangenen im Leben der Menschen – über die Verschränkungen dessen, was war, mit dem, was wir unser Hier und Heute nennen. Drei Zeitebenen werden aufgefaltet. Sie verbinden sich zur Autonomie der filmischen Zeit, ohne jedoch die Differenz zwischen der Gegenwart der Erzählung und dem Material der Erinnerungen zu verwischen. Im Kino folgt die Rückblende nicht selten einer allzu simplen Logik – oder sie sieht wie ein manieristisches Virtuosenstück aus. Anders bei Chabrol: Er setzt auf die Poesie der gleitenden Übergänge, nicht der konstruierten „Verschachtelung“. Er scheut nicht das Komplizierte – Bettys Kindheitserfahrung auf dem Lande etwa wird mit einer Rückblende in der Rückblende evoziert. Doch auch das Komplizierte wirkt einfach, weil Chabrol es wie beiläufig und mit leichter Hand praktiziert: Es geht um extreme Gefühle, aber sie werden nicht ausgestellt, sie finden sich eingearbeitet in einen intelligenten Diskurs.

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yella petzold hoss

Magische Momente 07

( , Regie: )

Yella
von Klaus Kreimeier

In der Mitte des Films stößt Yella (Nina Hoss) versehentlich ein Weinglas vom Tisch – ausgerechnet in der kritischen Phase einer Konferenz, in der es um Unternehmensstrategien, Planungsziffern und Umsatzkalkulationen …

In der Mitte des Films stößt Yella (Nina Hoss) versehentlich ein Weinglas vom Tisch – ausgerechnet in der kritischen Phase einer Konferenz, in der es um Unternehmensstrategien, Planungsziffern und Umsatzkalkulationen geht und die Verhandlungspartner darauf lauern, die Gegenseite bei einer Schwäche zu ertappen oder mit einer Finte zu überrumpeln. Verlegenes Schweigen, irritierte Blicke um sie herum. Ihr Chef (Devid Striesow) hat in diesem Augenblick von seiner Assistentin ein zuvor verabredetes Zeichen erwartet, doch Yella schaut nur mit weit aufgerissenen Augen in die Runde und auf das zerbrochene Glas. Sie sieht, wie der Kelch spielerisch am Boden rotiert, sich in einer kleinen Pfütze spiegelt. Sie hört ein seltsames Rumoren in der Luft, greift sich ans Ohr, die Konturen im Raum verbleichen, das Gerede um sie herum zieht sich in ein dumpfes Murmeln, in eine wattige Ferne zurück, eine Krähe krächzt, Wind fährt durch das Gebüsch vor dem Fenster.

Ein „Hörsturz“, eine Wahrnehmungsstörung, eine sich andeutende Trübung der Sinne genügen, um aus den Bildern alles Gewichtige, Lächerlich-Platte herauszusaugen – all das, was wir behelfsweise Wirklichkeit nennen. In „Yella“ (2007) setzt Christian Petzold diese Mittel nur zweimal ein, platziert sie aber so genau, dass uns der beklemmende Eindruck beschleicht, mit gespannter Aufmerksamkeit durch eine Zwischenzone zu gleiten, die nicht der profanen Normalität des Abbild-Realismus, aber auch keiner Fantasiewelt angehört. Eher gleicht sie einem Traum, aus dem wir nicht aufwachen können. Es ist Yellas Traum von einer anderen, besseren, glücklicheren Welt.

Am Anfang sitzt sie mit ihrem Mann Ben (Hinnerk Schönemann) im Auto, sie fahren über eine Brücke, Ben reißt das Lenkrad nach links, Yella, entsetzt, will eingreifen, aber das Auto kracht gegen das Eisengeländer, durchbricht es und stürzt in den Fluss. Im Gegenschuss ist zu sehen, wie es im Wasser versinkt. Yella erreicht schwimmend, mit letzter Anstrengung, das Ufer und bleibt erschöpft mit geschlossenen Augen liegen. Auch Ben kann sich retten, wirft sich neben Yella in den Sand. Yella schlägt die Augen auf, ein Krähenschrei, ein Windstoß – und was nun beginnt, ist ihre Reise durch eine zweite Wirklichkeit: ihre Flucht vor Ben und vor dem erbärmlichen Leben im maroden Wittenberge in den „Westen“. In eine geisterhafte Welt, zusammengehalten von Beton, Spiegelglas, Hotelzimmern, leeren Korridoren, Firmenparkplätzen und Konferenzräumen, in denen Investmentjongleure und Fondsmanager, Betrüger und Bankrotteure einander belauern: bleiche Epiphanien, Menschen wie aus Magma, erkaltete Schlafwandler der Geldzirkulation.

Am Ende erzählt der Film das, was an der Brücke geschah, noch einmal als „Tatort“-Szene, als Verifizierung durch den Polizeibericht. Am Unglücksort stehen Einsatzwagen und schweres Gerät, ein Kran hievt Bens Auto aus dem Fluss. Ben und Yella sind tot, unsichtbare Hände breiten eine Plane über ihre Leichen. „Man sagt, dass den Sterbenden ihr Leben wie ein Film vor den Augen vorbeiziehe. Auch Yella sieht einen Film. Aber sie sieht nicht ihr gelebtes Leben“, hat Petzold selbst über diesen Tod gesagt. Yella hat das grauenhafte Scheitern ihres Traums gesehen, eine Welt der Untoten, einen Horrorfilm.

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fahraddiebe

Magische Momente 06

( , Regie: )

Ladri di biciclette
von Klaus Kreimeier

Im Märchen sind Gut und Böse in der Regel eindeutig markiert, und ebenso übersichtlich sind Tugenden wie Freigebigkeit und die Bereitschaft zu teilen den Habenichtsen, Hartherzigkeit und die Neigung zur …

Im Märchen sind Gut und Böse in der Regel eindeutig markiert, und ebenso übersichtlich sind Tugenden wie Freigebigkeit und die Bereitschaft zu teilen den Habenichtsen, Hartherzigkeit und die Neigung zur bösen Tat eher den Geldsäcken zugeordnet. In „Ladri di biciclette“ („Fahrraddiebe“, 1948), jenem neorealistischen Märchen von Vittorio de Sica, das eine sehr alltägliche Geschichte aus dem Milieu der Arbeitslosen im Rom der frühen Nachkriegsjahre mit ihren vielfachen, gewöhnlichen und ungewöhnlichen Verästelungen erzählt, bleibt die Regel gewahrt – und erfährt am Ende doch eine behutsame Korrektur. Antonio Ricci, ein hagerer Prolet, liebevoller Familienvater und zäher Unglücksrabe, dem sein Fahrrad geklaut wurde, ist selbst zum Dieb geworden, und es ist das „Volk“, es sind seine Klassengenossen, die nach der Polizei rufen und Bestrafung fordern. Der Eigentümer des gestohlenen Rades jedoch verzichtet, mit einem nüchternen Blick auf Riccis kleinen Sohn, auf eine Anzeige. Antonio kann, wenn auch tief gedemütigt, seiner Wege gehen. Sehr sachlich, ohne Gefühlsaufwand, fast bürokratisch lenkt de Sica mit einer minimalen Umdeutung den Film in ein zwiespältiges Happy end.

Antonio benötigt das Fahrrad, um seinen Job als Plakatkleber zu behalten. Ohnmacht, Verzweiflung, Panik treiben ihn, wider seinen Willen, zum kriminellen Handeln. Asketische Bilder zeigen, wie es dazu kommt: eine schwarzweiß fotografierte Welt, von der Kamera in Flächen aus grellem Sonnenlicht und tiefen Schattenzonen geometrisch aufgeteilt. Antonio und sein Sohn Bruno hetzen durch leere Straßen in einem Außenbezirk Roms, wortlos, begleitet von einer unbehaglich sirrenden Musik. Musik wie Stacheldraht. Mittagsglut treibt den beiden den Schweiß auf die Stirn. Unvermittelt stehen sie der monumentalen Fassade des Stadio Nazionale aus Mussolinis Zeiten gegenüber. Eine Wolke von Geschrei hängt in der Luft, signalisiert das Ende eines Fußballspiels. Bruno setzt sich erschöpft auf eine Bordsteinkante, streicht sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Entgeistert blickt sein Vater auf die Radfahrer, die an ihm vorbeisausen, auf die Fahrräder, die in langer Reihe vor dem Stadion auf ihre Besitzer warten, auf die Zuschauer, die aus dem Stadion strömen und sich auf ihre Räder schwingen. Wohin er blickt: Fahrräder. Der Junge beobachtet seinen Vater und sieht, was dieser sieht: Ein einzelnes Fahrrad steht wie vergessen nur ein paar Schritte weiter an einer Hauswand. Antonio will seinen Sohn nach Hause schicken, will ihn wegschaffen, genauer: er will das, was nun folgt, aus seinem Sichtfeld schaffen. Der Kleine zögert erst, geht dann ein paar Schritte, bleibt schließlich stehen und wird Zeuge, wie sein Vater zum Fahrraddieb wird.

Die Außenwelt sei ein Spiegel innerer Vorgänge – so deuten uns gern die Experten die Beschreibungsakte der Malerei oder der Literatur. Filme sind anders. Filme malen und beschreiben nicht, sie zeigen etwas, und die Welt, die sie herstellen, ist eine Konstruktion. Vittorio de Sica zeigt uns, wie das Rom der Nachkriegszeit in der Mittagsglut aussieht, und er zeigt, wie zwei Menschen durch leere Straßen laufen. So wie er die Stadt aus grellweißen und tiefschwarzen Flächen zusammensetzt, setzt er das, was geschehen wird, wie ein Linienmuster aus Blicken und Blickachsen zusammen. Und der Blick des Zuschauers ist einmontiert in diese Konstruktion.

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almodovar mala

Magische Momente 05

( , Regie: )

La mala educación
von Klaus Kreimeier

Eine Mordszene, nah und halbtotal: Eine junge Frau wird von einem Priester geknebelt, zusammengeschlagen und brutal auf einen Stuhl gezerrt, ein gezielter Handgriff bricht ihr das Genick. Es gebe keine …

Eine Mordszene, nah und halbtotal: Eine junge Frau wird von einem Priester geknebelt, zusammengeschlagen und brutal auf einen Stuhl gezerrt, ein gezielter Handgriff bricht ihr das Genick. Es gebe keine weiteren Zeugen, sagt der Geistliche zu Pater Manolo, seinem Vorgesetzten. Und Gott? „Ja, aber den haben wir auf unserer Seite.“ Stimme aus dem Off: „Cut!“ Total: Ein Filmstudio, das Team löst sich aus seiner Erstarrung, die Einstellung ist im Kasten, Erleichterung, Drehpause auf dem Set. Im Hintergrund hockt die Hauptdarstellerin, in sich zusammengesunken, sie weint. Der Regisseur tätschelt ratlos ihren Arm, eine Assistentin kümmert sich um sie. Die Kamera fährt sehr langsam zurück, entfernt sich von der Szene, während die schwermütige Musik von Alberto Iglesias anschwillt und die Studiogeräusche allmählich verdrängt.

Nichts ist eindeutig, und alles ist anders. Der Regisseur, Enrique, verfilmt eine Geschichte aus seiner Kindheit in einem spanischen Klosterinternat, späte Franco-Ära. Die Hauptdarstellerin ist keine Frau, sondern der Schauspieler Juan, der sich als seinen transsexuellen Bruder Ignacio ausgibt und vortäuscht, ihn, das heißt: sich selbst zu spielen. Ignacio und Enrique übten sich einst im Internat in vorpubertären Liebesspielen, und auf Ignacio hatte es damals auch der Schuldirektor, Pater Manolo, abgesehen. Die Mordszene ist eine Fiktion des Drehbuchs – und zugleich fiktional maskierte Realität: tatsächlich wird Manolo der geheime Drahtzieher sein, wenn sich Ignacio, viele Jahre später, mit einer Überdosis Heroin unfreiwillig den goldenen Schuss verpasst. Ignacio, der sich als Transvestit Zahara nennt, stirbt zwei Tode, Pater Monolo mutiert in seiner zweiten Karriere zum Buchverleger Berenguer, und Juan, der sich als Ignacio ausgibt, besteht als Schauspieler auf dem Namen Ángel.

Pedro Almodóvar hat mit „La mala educación“ („Schlechte Erziehung“, 2004) ein ingeniöses, in sich verspiegeltes und verschachteltes Vexierspiel eingerichtet, das nicht durch Nebelkerzen und faulen Zauber, sondern durch seine kristalline Struktur besticht. Seine magischen Momente verdanken sich dem Aufbau, entspringen dem präzisen Gleiten zwischen Zeitebenen, wechselnden Identitäten, berechneten Selbstzuschreibungen, zwischen gewünschter und gescheiterter Wirklichkeit. Den multiplen Charakteren entspricht Almodóvars Besetzungsstrategie: Gael García Bernal spielt nicht nur Ángel/Juan, sondern auch Zahara, das zweite Ich seines Bruders Ignacio (Francisco Boira). Pater Manolo (Daniel Giménez Cacho) wird als Lektor Berenguer von Lluís Homar verkörpert, und auch der Regisseur Enrique (Fele Martínez) überantwortet den eigenen Part, den er in der Geschichte spielt, dem Darsteller Alberto Ferreiro.

„Film im Film“ ist hier kein dramaturgischer Kunstgriff – und alles andere als ein sinnverwirrender Effekt. Wenn Juan im Studio zusammenbricht, weint er über Ignacios Tod und über die eigene Schuld: Auch er war ja in den Mord an seinem Bruder verstrickt. Und wenn sich die Kamera langsam zurückzieht, Künstler und Techniker das Studio verlassen, die Lichter ausgehen und das Atelier im Halbdunkel liegt, ist es, als blicke der Film selbst voller Trauer auf die Trümmer und zerbrochenen Seelen seiner Welt.

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schneider romy

Magische Momente 04

( , Regie: )

Max et les ferrailleurs
von Klaus Kreimeier

Ein Stundenhotel im Pariser Osten. Wieviel nimmst du, will er wissen. Soviel wie möglich, sagt sie und hantiert vor einem Spiegel flüchtig mit dem Lippenstift: Tausend, wenn du willst. Jedenfalls …

Ein Stundenhotel im Pariser Osten. Wieviel nimmst du, will er wissen. Soviel wie möglich, sagt sie und hantiert vor einem Spiegel flüchtig mit dem Lippenstift: Tausend, wenn du willst. Jedenfalls nicht unter hundert. Sie zieht ihren schwarzen Lackmantel aus. Er blättert, achtlos beinahe, drei Geldscheine auf den Tisch. Kurz fliegt ein Staunen über ihr Gesicht, schleicht in ihre Stimme: Danke schön! Sie dreht ihm jetzt den Rücken zu, greift über die Schulter, um sich ihr Kleid aufzuknöpfen, und erwartet, dass seine Hand der ihren zu Hilfe eilt. Aber er beobachtet sie nur. Nicht nötig, sagt er. Du brauchst dich nicht auszuziehen.

Wir, die Zuschauer, wissen, dass Michel Piccoli kein Freier ist, sondern Max, ein Kriminalkommissar, der die schöne Hure Lili (Romy Schneider) in eine Falle locken will, um eine Bande kleiner Diebe zu einem großen Banküberfall zu animieren. Lili notiert in diesem Moment nur, dass dieser Kunde den üblichen Service offenbar verschmäht. Ein fragender, halb irritierter, halb belustigter Blick über die Schulter: Ja, willst du denn nichts von mir? Piccoli, im eleganten dunklen Dreiteiler, stoisch, unergründlich, lakonisch: Nein.

In „Max et les ferrailleurs“ (Das Mädchen und der Kommissar, 1971) beginnt nun, an den feinen Fäden des Regisseurs Claude Sautet, ein wunderbarer pas de deux, der zwischen Beobachten und Belauern, Abwägen und nüchterner Berechnung oszilliert. Gesponnen aus Reden und Schweigen, Intelligenz, Misstrauen, Neugier und Interesse. Lili ist perplex, kämpft um Sachlichkeit: Was machen wir aber dann? Er: Nichts. Mal zusammensitzen (Max hat sich hingesetzt). Sie blickt ihn an, will dann wissen: Hast du irgendwas? – Nein, warum? Sie lächelt unsicher, denkt nach, gibt zu, dass sie die Situation nicht versteht und streckt sich, im durchaus erfolgreichen Bemühen um Nonchalance, in ihrem rosa Samtkleid auf dem knallroten Sofa aus. Also machen wir gar nichts? Sie mustert ihn, ihre Augen werden schmal, sie entschließt sich, zu rauchen.

Kurze Fragen, kurze Antworten, lange Pausen. Ein Wortwechsel als Balanceakt, dem das Nichtausgesprochene eine schwebende Unwägbarkeit verleiht. Man taxiert einander, aus ganz unterschiedlichen Beweggründen. Max zelebriert Undurchdringlichkeit, zündet sich eine Zigarette an, wartet und lächelt. Lili ist auf der Hut, ununterbrochen arbeitet ihr Verstand, ihre Gedanken spazieren auf einem dünnen Seil. Wie heißt du eigentlich, fragt er, und sie gesteht, dass sie Lili heißt, dabei zuckt sie mit den Schultern, als wolle sie sagen: So ist es nun einmal. Und nimmt jetzt ihn ins Verhör: Dein Name? Max behauptet, er heiße Felix. Lili erlaubt sich, ein Lächeln anzudeuten. Und was macht er beruflich, der Felix? Sanfter Spott zischt in ihrer Frage mit. Max schweigt, lässt sie raten. Sie flattert zum Spiegel, kämmt sich die Haare, schlägt vor: Anwalt? Juwelier? Milchmann? Polizist? Abgeordneter? Bankier? Aus dem gegenseitigen Belauern ist nun ein Spiel filigraner Sympathien geworden. Ja, sagt Max, er sei Bankier. Dann bist du also reich? – Es geht. – Prima, sagt Lili.

Das Spiel kann weitergehen. Gut wird es nicht enden.

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broken flowers jarmusch murray

Magische Momente 03

( , Regie: )

Broken Flowers
von Klaus Kreimeier

Der Computerfachmann Don Johnston (Billy Murray) sitzt in seiner dunklen Wohnung, auf einem dunklen, rostroten Ledersofa, an den dunklen Wänden hängt abstrakte Kunst. Ein Bauhaus-Interieur dämmert, streng orthogonal gefügt, vor …

Der Computerfachmann Don Johnston (Billy Murray) sitzt in seiner dunklen Wohnung, auf einem dunklen, rostroten Ledersofa, an den dunklen Wänden hängt abstrakte Kunst. Ein Bauhaus-Interieur dämmert, streng orthogonal gefügt, vor sich hin. Selbst die Designerlampe neben dem penibel rechteckigen Couchtisch geizt mit Licht. Gedankenfern, zeitabgewandt sitzt Bill Murray da, aus dem Fernsehapparat strömen Bilder, sie strömen durch ihn hindurch. Später rieselt eine Arie aus dem CD-Player, sie rieselt an ihm herab. Reglos, als sei ihm ein Blitz bis in die Fersen geschlagen, betrachtet der Mann seine dunkle Behausung. Nach einer Weile neigt sich unvermittelt sein Oberkörper zur Seite, hängt einen Augenblick steif in der Schräge – und klappt schließlich aufs Sofa, als habe er sich vom Rest des Körpers gelöst. Langsam zieht Murray die Beine nach. Irgend etwas hat ihn umgehauen.

Eigentlich haut nichts Don Johnston so schnell um. Gerade hat ihn seine Freundin verlassen, damit beginnt Jim Jarmuschs Film „Broken Flowers“. Wortkarg, geistesabwesend hat er es zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig hat ihn ein Brief ereilt, anonym, Schreibmaschine auf rosarotem Papier, aus dem er erfährt, dass er einen fast erwachsenen Sohn hat, der entschlossen ist, seinen Vater zu suchen. Auch diese Nachricht bringt Don nicht gerade aus dem Gleichgewicht, er ist nur müde, ein bisschen daseinsmüde – ein alternder Junggeselle, der mit angezogener Bremse lebt und dem Leidenschaften, gar Liebe eher lästig geworden sind. Was tun? Don Johnston blickt den Couchtisch, die Lampe, die dunklen Wände an. Auf dem Couchtisch stehen Glas und Flasche, zweimal zuckt es in seiner Hand, doch Glas und Flasche bleiben unberührt.

Fünf Liebschaften gab es in jener Zeit, vier Frauen (Sharon Stone, Frances Conroy, Jessica Lange, Tilda Swinton) könnten die Briefschreiberin, könnten die Mutter seines Sohnes sein. Auf das Road Movie, das nun beginnt, hat Don eigentlich keine Lust. Amerika ist groß, das viele Herumfliegen und Autofahren unbequem, und außer der Einsicht, dass Abgelebtes nicht wiederbelebt werden sollte, kommt nicht viel dabei heraus. Am Autofenster gleitet, in stumpfen, geheimnislosen Farben, jenes Suburbia vorbei, das schon Walker Evans’ Fotografien der 30er Jahre, später die schwarz-weißen B-Movies der 50er vermessen haben: Transitlandschaften mit endlosen Highways und einsamen Tankstellen, Holzhäusern, Motels und schäbigen „country stores“, den abgezirkelten Grünflächen und Parkbuchten vor weißen Bungalows. Sehnsüchte vagabundieren hier: die der Amerikaner nach einem Ort in der Weite ihres Landes – und die des Durchreisenden, alsbald weiterzureisen.

Gegen Ende des Films wird Don Johnston, versunken in ferne Gedanken, auf einem Friedhof stehen, am Grabe einer Frau, die er einmal geliebt hat, sie ist schon seit vielen Jahren tot. Es regnet, Don setzt sich still unter einen der alten Bäume, Trauer verschattet sein Gesicht. Und ganz am Ende glaubt er, seinen Sohn gefunden zu haben. Aber der Junge flüchtet vor ihm, als sei er ein Gespenst.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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Magische Momente 02

( , Regie: )

L’homme de Rio
von Klaus Kreimeier

Dass Jean-Paul Belmondo unter tiefblauem Himmel über eine rote Sandfläche, die bis an den Horizont zu reichen scheint, um sein Leben rennt und sich auf ein turmhohes, wenn auch ziemlich …

Dass Jean-Paul Belmondo unter tiefblauem Himmel über eine rote Sandfläche, die bis an den Horizont zu reichen scheint, um sein Leben rennt und sich auf ein turmhohes, wenn auch ziemlich instabiles Baugerüst flüchtet, ist damit zu erklären, dass ihm zwei Verfolger auf der Spur sind, die ihm an den Kragen wollen und sich nun – nachdem es ihnen nicht gelungen ist, ihn mittels Automobil am Boden zu zermalmen – auf eine halsbrecherische Kletterpartie begeben müssen, während der Verfolgte alle Wertgegenstände, die ihm beim Aufstieg in die Quere kommen – Bretter, Holzbohlen, Leitern, Schaufeln, Kisten, Eisenträger, Farbeimer, zerbeulte Blechfässer, platzende Zementsäcke – auf die Köpfe seiner Feinde regnen lässt. Ihm kommt zugute, dass ihn seine Flucht auf die Großbaustelle der Hauptstadt Brasilia geführt hat. An Baumaterialien besteht kein Mangel, zumal der Flüchtende die Bretter, über die er in schwindelerregender Höhe balanciert, nach Gebrauch sogleich als Geschoss gegen die Verfolger nutzt, um ihnen den Weg nach oben, sich selbst allerdings auch den nach unten abzuschneiden.

Es wäre übertrieben zu behaupten, Philippe de Broca sei ein Feinmechaniker der Kinematografie gewesen. In seinen Komödien verachtete er keineswegs die Knalleffekte, in seinen Abenteuerfilmen purzeln manche Unwahrscheinlichkeiten rasant durch- und übereinander. Mit „L’homme de Rio“ („Abenteuer in Rio“, 1964), so behauptete er selbst, habe er einen Film gedreht, den er nur allzu gern als Kind gesehen hätte. Vermutlich trifft dies zu – über große Strecken sieht dieses Werk so aus, als sei es in der Augsburger Puppenkiste zusammengeschustert worden. Der Dialog scheint aus dem groben Holz gefertigt, mit dem Belmondo um sich schmeißt, und wenn de Broca die Handlung in eine Sackgasse gesteuert hat, hilft oft nur ein mehr oder minder geistreicher, in jedem Fall abrupter Schnitt.

Die knapp fünf Minuten jedoch, die Belmondo benötigt, um die Spitze des schwankenden Gerüsts zu erklimmen (und sich am Ende mit einer List seiner Verfolger zu entledigen), sind schon darum ein Ruhmesblatt der Filmgeschichte, weil de Broca in dieser Actionszene die Musik des zweifellos begnadeten Georges Delerue schweigen lässt. Keine stampfenden oder schmetternden Rhythmen, während Bretter poltern und der keuchende Atem des Gejagten sich in das Krachen der Blechfässer mischt. Keine Percussion, die der Szene die Spannung stiehlt, während Belmondo an einem Drahtseil zwischen Himmel und Erde – und sein Leben nur noch an einem Faden hängt. Auf dem höchsten Punkt angelangt, blickt er, einen Moment ratlos, auf seinen Fluchtweg zurück, über sich sattes Blau, tief unten, endlos, das sandige Rot, aus dem Brasilia wachsen wird. Im Rohbau, spielzeugklein, sind schon einige futuristische Betonklötze zu sehen, zwei Autos spielen lautlos auf einem halbfertigen Highway Verkehr. Stille. Spannung. Der Film hält den Atem an. Und auf der Tonspur spürest du: kaum einen Hauch. Gleich wird ein Schrei die Luft zerfetzen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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Magische Momente 01

( , Regie: )

Au bonheur des Dames
von Klaus Kreimeier

Eine Lokomotive wuchtet sich ins Bild, Beine huschen über einen Bahnsteig, Menschengewühl. Halbnah trippelt eine junge Frau neben den Rädern der Lok: Dita Parlo, sie spielt Denise Baudu, ein Waisenkind …

Eine Lokomotive wuchtet sich ins Bild, Beine huschen über einen Bahnsteig, Menschengewühl. Halbnah trippelt eine junge Frau neben den Rädern der Lok: Dita Parlo, sie spielt Denise Baudu, ein Waisenkind aus der Provinz. Denise schleppt mit sich herum, was sie besitzt; sie schaut, einen Pappkarton unter den Arm geklemmt, mit großen Augen neugierig und nervös auf den Tumult der Welt. Jetzt schiebt sich die Lokomotive bauchig und schwarz auf den Zuschauer zu. Es ist der Anfang von „Au bonheur des Dames“ (1930), Julien Duviviers letztem Stummfilm, der damals unter dem schrecklichen Titel „Das Mädchen vom Kleiderlager“ in die deutschen Kinos kam. Aus dem Bahnhof geht es hoch in die Lüfte: ein Doppeldecker schwimmt in den Wolken, der Pilot wirft etwas aus der Kabine, ein Etwas, das sich in Flugblätter auflöst; die Kamera beobachtet, wie sie beschwingt flatternd zur Erde taumeln. Denise blickt nach oben, ihre Augen strahlen, als wollten sie die Flugblätter auffangen, eines hat sie in der Hand, darauf steht: „Tout ce que vous désirez au bonheur des dames“.

Das Glück der Damen ist im Krisenjahr 1930 Dreh- und Angelpunkt von Paris, es erregt die Boulevards und beschleunigt das Hasten und Jagen, es zwinkert von den Plakaten, wohin sich Denise auch windet und wendet, es stellt sich quer, wenn sie einem Radfahrer, einem Automobil ausweichen will – und es malt am Ende, wie eine Fata morgana, etwas ganz Unwahrscheinliches, Überwältigendes in den Himmel: „Au Bonheur des Dames“, das neue Kaufhaus, das modernste in Europa, ist eröffnet, und es ist so etwas ähnliches wie das Paradies, ein schneeweißer Traum inmitten der grauen Stadt. Mit seinen Trickkünsten hat der Set Designer Percy Day das pure Glück in das reale (Studio-)Paris hineingespiegelt.

Was hier mit kantigen Schnitten, schnellen Überblendungen und Doppelbelichtungen wie eine Querschnitt-Montage der „Neuen Sachlichkeit“ funktioniert, ist ein bisschen mehr: Duvivier schreibt dem Wirbel der Bilder eine kleine Geschichte ein – und sein Nachdenken über Großstadt und Einsamkeit, über Reklame und Verzauberung, über das Chaos des Alltags und das unserer Wünsche. Denise, zunehmend desorientiert, verheddert sich auf der Suche nach einer Adresse im Strom der Passanten; ziemlich ruppig räumt sie ein Polizist von der Straßenkreuzung. Die Adresse ist die ihres Onkels, eines Tuchhändlers, der genau gegenüber dem neuen Warenhaus seinen altmodischen Laden betreibt. Hier beginnt, was uns Duvivier, inspiriert von einem Roman Emile Zolas, erzählen will: die kleine Geschichte vom Untergang des Tuchhändlers Baudu, dem das glitzernde Einkaufsparadies auf der anderen Straßenseite, den Garaus bereitet. Und die große Geschichte von der Moderne, von der Zirkulation des Geldes und der Waren, vom Wachstum, vom Fortschritt und vom neuen Tempo, in dem alles Kleine und Alte, alles Liebenswerte und Verstaubte untergepflügt wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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