Magische Momente 13

El Jardin de las delicias
von Klaus Kreimeier

Das letzte Bild des Films ist von bedrückend fahler Schönheit. Die durchgehend stumpfen Farben dämmern hinüber in ein melancholisches Grau. Die Parklandschaft – Hauptbühne der Handlung, Lustgarten einer überlebten, wenn auch noch immer herrschenden Klasse – ist an tiefer Freudlosigkeit erkrankt, als hätte das Siechtum der Menschen auf sie übergegriffen und ihr das Licht geraubt. Der Industrielle Antonio Cano (José Luis López Vazquez), seit einem Autounfall an den Rollstuhl gefesselt, blickt verstört auf ein geisterhaftes Geschehen. Sich selbst beobachtend, sieht sich der Krüppel von seiner Familie umgeben, es sind körperliche Wracks wie er, alle im Rollstuhl sitzend: der autoritäre Vater, die heuchlerische Ehefrau, die gleichgültig-zynischen Kinder. Krüppel-Trabanten, die Antonio blicklos, wortlos umkreisen – Untote, deren erloschene Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet sind.

Die Rätselbilder in Carlos Sauras „El Jardin de las delicias“ („Garten der Lüste“, 1970) den Halluzinationen eines Gelähmten und Verstummten oder einer labyrinthischen Abfolge von Träumen zuzuschreiben, wäre profan. Der Film, fünf Jahre vor Francos Tod und dem Ende der falangistischen Herrschaft entstanden, betreibt eine Vivisektion der spanischen Bourgeoisie unter den Bedingungen der Diktatur. Antonio, körperbehindert und schwer sprachgestört, ist Manipulationsmasse und gleichzeitig Herrschaftsinstrument seiner Familie, die mit Hilfe scheintherapeutischer Tricks und hasserfüllt-ausgeklügelter Rollenspiele seine Erinnerung zu aktivieren sucht, um an Schweizer Nummernkonten und die Zahlenkombination von Antonios Tresor heranzukommen.

Die Familie, das ideologisch geheiligte Zentrum des katholischen Spaniens und des franquistischen Herrschaftsapparats, erweist sich als Gewaltverhältnis, das dem machtpolitisch-bourgeoisen Ränkespiel freie Bahn verschafft und ihm erlaubt, alle zivilisatorischen Fesseln abzustreifen. Am Ende präpariert Don Pedro, Antonios Vater und Gründer der Industriellendynastie (Francisco Pierrá), den stammelnden, scheinbar halbgenesenen Sohn sogar für den Auftritt auf einer Vorstandssitzung in der Hoffnung, mit ihm seinen Konzern vor den Feinden im eigenen Haus zu retten. Das krude Theater scheitert kläglich. Und gerade im Scheitern zeigt sich, dass dieser „Behinderte“ nicht nur ein Hindernis, ein Störfaktor in seiner Familie ist, auch mutiert er keineswegs als Widerstandskämpfer oder Rebell zum Politikum in einer von Repression gezeichneten Gesellschaft. Vielmehr steht er, grundsätzlicher, für etwas fundamental „Anderes“, vielleicht für einen „anderen Menschen“, der sich unter der Systemlogik der herrschenden Verhältnisse nicht entfalten kann: ein erratischer Block, Störfall in einem viel radikaleren Sinn.

Die Empfindungen dieses von seiner Familie belagerten, gepeinigten, manipulierten Menschen lässt López Vazquez in minimalen Nuancen über sein Gesicht wandern. Allein gelassen wie so oft sitzt Antonio im Garten; in Großaufnahmen notiert die Kamera geduldig die kleinen Veränderungen, die in seinen Augen vorgehen, die den Stirnfalten und den Mundwinkeln zuerst ein Grübeln, dann Skepsis, List und Trotz einschreiben – Gefühle, die in belustigte Neugier übergehen, wenn Antonio dem Vogelgezwitscher lauscht – und schließlich in Staunen, Beunruhigung, Angst und helles Entsetzen, wenn er in einer Trancevorstellung eine Garde gepanzerter Kreuzritter mit gefällten Lanzen auf sich zureiten sieht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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